Musik
Carmen - Hamburgische Staatsoper

Carmen haucht in einer letzten, diesmal tödlichen Umarmung ihr Leben unter den Messerstichen des eifersuchtsrasenden Don José aus.
Derweil hockt das arbeitende Volk von Sevilla in Gestalt des Opernchores in einer schäbigen Kneipe und verfolgt den Triumph des Toreros Escamillo auf einem kleinen Fernsehschirm. Es bekommt das reale Ende des Dramas zwischen der Zigeunerin Carmen und dem baskischen Sergeanten, der dem Lockruf vermeintlicher Liebe gefolgt bis ins Verderben, gar nicht mehr mit.

Es dauert lange, bis die neue Hamburger „Carmen“ in der Inszenierung von Jens-Daniel Herzog wenigstens in ihrem Schlusspunkt eine dramatische Fallhöhe erreicht, die anrühren kann. Dabei hatte es sich der derzeitige Intendant der Oper in Dortmund doch vorgenommen, den romantisierenden Kleister von Bizets Opern-Hit abzutragen und den Blick auf die wahre Geschichte freizulegen. Er ist ist auf halbem Wege anständig gescheitert, zu anständig und zu brav.

Zwar holt er sich aus der 1837 geschriebenen Novelle von „Carmen“-Autor Prosper Merimée etliche harsche Mosaiksteinchen zurück, die 1875 keinen Eingang ins glatt laufende Libretto des Erfolgsduos Meilhac/Halévy gefunden haben. Der leicht verdaulichen Unterhaltung wegen wollte der Direktor des Uraufführungstheaters, der Pariser Opera Comique, damals sogar den finalen Mord gestrichen wissen – da setzte sich aber Georges Bizet nach harten Kämpfen durch. Die Libretto-Fassung lässt weg, dass der brave Soldat Don José als Liebhaber Carmens zu einem gefürchteten Gangster wird, der schnell mit dem Messer zur Hand ist, wenn’s was zu regeln gibt. Und dass die Geschichte im Rückblick aus der Todeszelle vor seiner Hinrichtung erzählt wird.

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Etliches aus Mérimées scharf gezeichnetem Text aber lässt Herzog in seiner Inszenierung nun erzählen. Den erregten Voyeurismus der Männer, wenn die Mädels aus der Tabakfabrik kommen – Herzog lässt sie dafür sogar Eintritt an die militärischen Bewacher zahlen. Die offenen Arbeitskittel, die den Blick auf viel Unterwäsche freigeben – bei Mérimée der Hitze in der Fabrik wegen. Die Gewalt Carmens, die einer Kollegin nach einem Streit ein blutiges X auf die Stirn ritzt. Oder die gewalttätige Degradierung Don Josés, nachdem ihm Carmen den Kopf verdreht hat und er sie laufen ließ, statt sie ins Gefängnis zu bringen. Gewalt ist ständig im Spiel, beim Spiel der Kinder, beim Zusammenschlagen von Don Josés Leutnant Zuniga. Genau so gern wird bei jeder Gelegenheit gern gegrapscht.

Was Jens-Daniel Herzog dadurch an Schärfe gewinnt, gibt er indes bald wieder aus der Hand, indem er selbst reichlich neue Klischees in Spiel bringt. Carmen mit Männerfantasie-Reizwäsche unterm Arbeitskittel und allzeit bereiten Glitzerschühchen – das wirkt nicht gefährlich, sondern bestenfalls nett. Der Torero, mit Autogrammkarten um sich werfend, im goldlamé-seidenrot-glitzernden Trainingsanzug mit Schmalztolle à la Elvis – nicht viel mehr als ein schräg schillernder Mädchentraum.

Vieles lässt Herzog nur behaupten, aber nicht spielen. Schicksalhafte, fatale Urgewalt ist hier nichts. Carmens Leidenschaft, untrennbar verbunden mit dem identitätsstiftenden Willen zur Freiheit, sich von niemandem nichts vorschreiben zu lassen, schon gar nicht, mit wem sie sich amourös einlassen darf, schmilzt hier ab zu einer zweck- und aufstiegsorientierten Universalanmache, die billig wirkt und klein. Einzig der liebesblinde Don José kann darin unerklärliche Launenhaftigkeit sehen und undurchschaubares Schicksal. Herzog lässt seine Carmen in der Spelunke von Lillas Pastia sich sehr plakativ auf dem Tisch räkeln und sie später reichlich Stühle und Tische umwerfen, als machte das allein Leidenschaft und Wut glaubhaft.

Escamillo schrumpft zum eitel-glatten Goldlamé-Blender, da ist wenig herausfordernd Maskulines zu sehen. Und Don José bleibt in seiner hilflosen Verliebtheit ein kleiner Junge und ein Muttersöhnchen, immer etwas neben sich, das wenig bis nichts versteht. Wie soll daraus dramatische Fallhöhe entstehen, was soll da knisternde Funken schlagen und existenziell so bedrohlich werden, dass es Don José dazu treibt, alle Konventionen der Gesellschaft zu brechen? Das ist das Elend, wenn „Carmen“ zum Unterschichtdrama gemacht wird.

Tief erschüttert verlässt vermutlich niemand die Hamburgische Staatsoper. Dazu ist diese Inszenierung zu erwartbar, zu leichtgängig und schon jetzt zu zeitlos nett (Bühnenbild und Kostüme: Mathis Neidhardt, Licht: Stefan Bolliger).
Dieses Konzept unterstützte der frühere Simone-Young-Assistent Alexander Soddy durch rasche Tempi, bei denen er mit den ihm bestens bekannten Hamburger Philharmonikern in der Partitur aber nur selten musikdramatische Wucht aufspürte. Die diffizilen schnell parlierten Ensemble-Partien hielt er gut zusammen, den von Chordirektor Götz Friedrich bestens einstudierten und großartig spielenden Staatsopernchor – ein verlässlicher Aktivposten des Hamburger Hauses – samt den agilen Alsterspatzen auf geradem Kurs.

Auf der Bühne verkörperte Liana Aleksanyan in ihrer Micaela anrührend das Prinzip „Heile Heimat“, wobei ihr ein zu weites Vibrato oft im Weg stand. Melissa Petit (Frasquita) und Maria Markina (Mercedes) gaben überzeugend die Unterschichtgören mit Yellow-Press-Träumen. Lauri Vasar sang den Escamillo eher gradlinig als mit Sieger-Attitude, an Durchschlagskraft könnte er durchaus noch zulegen. Als Don José hatte Nikolai Schukoff erheblich zu kämpfen, bis sein Tenor auch hergab, was in ihm steckt. Zu lange wirkte er am Premierenabend unfrei, verschlossen, was ihn forcieren ließ, aber häufig nicht über das Orchester hinwegtrug. Sein abruptes Umschalten in die hohe Kopfstimme wirkte – anders als sein Spiel – rau. Erst in der Schlussszene konnte er die Defensive hörbar verlassen und wurde stimmlich ein ebenbürtiger Partner für Carmen.

Der gab Elisabeth Kulman weit mehr Format, als die Inszenierung für sie vorsah. Ihr runder, warmer Mezzo konnte in der Tiefe, in der Nähe zum Sprechgesang, durchaus metallische Schärfe annehmen, der berühmten Habanera – von Bizet ausgeliehen beim baskischen „La Paloma“-Komponisten Sebastian de Yradier – hauchte sie Sinnlichkeit ein. Diese Carmen kann stimmlich auftrumpfen und niedermachen. Bedauerlich, dass sie von der Regie im Wesentlichen auf ein hübsches Opernluder reduziert wird.

Hamburgs neue „Carmen“ hat wenig Ecken und Kanten, existenzielle Fragen und verstörende Abgründe blitzen nur ganz zum Schluss für ein paar Momente auf. Vermutlich gerade deshalb wird sie eine hohe Repertoire-Tauglichkeit entwickeln. Einen so einhellig freundlichen Premierenapplaus ohne das kleinste Buh hat man hier lange nicht erlebt.


Nächste Vorstellungen: 22., 26. und 29. Januar 2014.
Karten via Internet unter www.staatsoper-hamburg.de oder telefonisch: (040) 3568 68.

Fotonachweis: Brinkhoff/Mögenburg.
Header: Nikolai Schukoff (Don José), Elisabeth Kulman (Carmen), Florian Spiess (Zuniga)
Galerie:
01. Elisabeth Kulman (Carmen), Nikolai Schukoff (Don José), Florian Spiess (Zuniga), Chor der Hamburgischen Staatsoper
02. Elisabeth Kulman (Carmen)
03. Elisabeth Kulman (Carmen), Mélissa Petit (Frasquita), Maria Markina (Mercédès), Florian Spiess (Zuniga), Komparsen.

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