Musik

Yuja Wang hat sich zu einem Zeitpunkt, als sie die 30 noch nicht erreicht hatte, in einem Interview sinngemäß dahingehend geäußert, dass sie sich dem Musikschaffen Beethovens nicht gewachsen fühle und folglich davon Abstand nehme, als Interpretin seiner Kompositionen die Bühnen der Welt zu betreten. 

 

Sie hatte bei dieser Aussage vermutlich vor allem die späten Klaviersonaten Nr. 28–32 (Opus 101 bis 111) – im Speziellen höchstwahrscheinlich Beethovens letzte Klaviersonate, also die Nr. 32 in c-Moll, op. 111 mit ihrem in der doppelten Bedeutung des Wortes Finalsatz, der Arietta: Adagio molto, semplice e cantabile – im Sinn. Und exakt deswegen war diese Pianistin, was verwundern mag, als werdende Künstlerin eben kein Rising star oder so etwas wie ein frühreifes Genie.

 

Plötzlich gabs Abhandlung über Abhandlung, Versuch nach Versuch darüber, und wahrscheinlich haben wir noch von irgend einer metaphysischen Akademie in Dänemark, Holland, Deutschland und Italien eine Aufgabe ‚übers Genie‘ zu erwarten. ‚Was Genie sei? Aus welchen Bestandteilen es bestehe, und sich darin natürlich wieder zerlegen lasse? Wie man dazu und davon komme?‘. (Johann Gottfried Herder)

 

Wohlgemerkt, sie war damals längst eine Pianistin von außerordentlichem, um nicht zu sagen höchstem Rang. Und genau deswegen beweist diese, wenn man so will, Demutshaltung vor dem gedankenvollen, so extrem schwer auszulotenden, höchstdifferenzierten Tiefsinn des Beethoven‘schen Musikschaffens den künstlerischen Rang dieser Pianistin. Sich der Gefahr bewusst zu sein, sich seiner Fähigkeiten zu sicher zu sein. Ein Ziel bereits erreicht zu haben, da man sich doch allenfalls und möglicherweise auf dem Weg dorthin befindet.

 

Diese kunstgemäße Haltung verbindet Yuja Wang mit Hilary Hahn und Sayaka Shoji, um nur zwei Violinistinnen zu nennen, von denen gleichlautende Aussagen überliefert sind. Die Letztgenannte hat ihre Ambition, in ihrer Wiedergabe an den Ursprung jeder Komposition zurückzukehren, mit einem anrührenden Lächeln der Bescheidenheit dahingehend eingeschränkt, dass ihr das vermutlich nie gelingen werde.

 

Darüber hinaus aber: Alle drei waren und sind sich in dem Selbstverständlichen einig, dass der einzig ernst zu nehmende Künstler – der Wiedergabe – sich darin auszuzeichnen habe, seine Fähigkeiten ganz und gar in den Dienst der jeweiligen Komposition zu stellen. Das Ton-Kunstwerk hat der stete Bezugspunkt des eigenen Bemühens um es zu sein. Es ist der alleinige Zweck und steht im Zentrum, der Rest ist das ernsthafteste Bemühen um eine Annäherung, die sich ihres möglichen Misslingens und/oder Nicht-Zureichens stets bewusst bleibt.

 

Natürlich, man kann es mit der Bescheidenheit auch übertreiben. Mit dem Ergebnis, dass man sich schlechterdings gar nichts mehr zutraut. Weil die Eventualität des Scheiterns das wirkliche Scheitern provoziert und zwangsläufig heraufbeschwört. Also frisch, frohen Mutes und zuversichtlich ans Werk, welche Grundeinstellung wohl wirklich die conditio sine qua non dafür ist, dass dann irgendwann die Erfüllung des hoffnungsfroh Begonnen lacht. Dennoch wage ich die Behauptung, dass all diejenigen, deren eigentliche Motivation das Im-Rampenlicht-Stehen ist, letztlich, allem Gefeiertsein zum Trotz, die künstlerisch Gescheiterten sind. Egal, wie brillant und technisch perfekt ihr Spiel ist.

 

Georg Christoph LichtenbergDeswegen gemach! Geduld auf der Basis eines langen Atems. Dem großsprechenden Gepolter mit den Rising stars – den Jung- und Jüngst-Genies – jedenfalls ist mit äußerster Zurückhaltung zu begegnen. Vor allem und nicht zuletzt deswegen, weil man dem Nachwuchs keinen Gefallen damit tut, ihnen diese Perspektive von Früh auf einzupflanzen. Denn, erneut und ein letztes Mal gesagt: Ihr Können steht oder hat im Dienst der Komposition zu stehen. Sobald diese Gleichung von rechts nach links gelesen wird, ist das künstlerische Scheitern gewiss. Übrig bleiben dann lediglich Trostgründe für die Unglücklichen, die keine Original-Genies sind. (Georg Christoph Lichtenberg)

 

Der Reihe nach eine Art Summary des jeweiligen Gesamteindrucks. Zuvor jedoch ist hervorzuheben, dass die Berliner Symphoniker unter der musikalischen Leitung von Martin Braun in der Art ihrer Begleitung der Solisten weder zu viel noch zu wenig ‚geleistet‘ haben. Sie hielten stets die glückliche Mitte in ihrem musikalischen Gedankenaustausch mit den jeweiligen Solisten. Präsent, ohne aufdringlich zu sein.

 

Der mit Abstand jüngste Pianist des gestrigen Abends – der neunjährige Joseph Yourong Cai – brachte das Konzert für Klavier und Orchester Nr. 2 B-Dur op. 19 Ludwig van Beethovens auf eine ungewohnt Mozart‘sche Art zum Erklingen. Ich jedenfalls habe dieses Konzert noch nie zuvor als ein von dem Grundton der Leichtigkeit, der tänzelnden, verspielten Freude getragenes vernommen. Die Darbietung mag von dem Original-Beethoven – was und wer immer das sein mag – so entfernt wie eben möglich gewesen sein. Trotzdem machte diese Interpretation unmissverständlich klar, dass Musik von Belang stets und vor allem immer auch etwas mit dem selbstverlorenen Spiel der Kinder und der damit im Zusammenhang stehenden unbedarften Freude zu tun hat oder haben sollte. Kein Zufall, dass im Anschluss an die Darbietung sich auch auf den Gesichtern der Orchestermitglieder ein Lächeln der Rührung breitmachte.

 

Hinsichtlich des Konzerts für Klavier und Orchester Nr. 1 The Explorer, bei dem es sich um die Deutsche Erstaufführung handelte, gerate ich in eine Verlegenheit. Denn ich tendiere zu der Ansicht, dass der in eigener Sache tätige Solist – es handelt sich um den 13jährigen Carey Tan – besser daran getan hätte, sich an Tonkunst von fremder Hand zu versuchen. Um auf diese Art sein pianistisches Know how zu präsentieren. Denn ich sage es geradeheraus: Dieses Konzert mit seiner überladenen, pathetisch überfrachteten Simplizität ist ein auf Effekt angelegtes Potpourri, zusammengesetzt aus diversen Stil- und Kompositionsfomen und folglich so etwas wie eine unausgewogene und sprunghafte Permanentanleihe und ein redundantes Wildern in fremdem Revier bar jeglichen Augenzwinkerns mit, wie es nicht anders sein kann, einem finalen Tusch. Mit dem peinlichen Nebeneffekt, dass der Pianist in den reichlich vorhandenen Tuttipassagen gleich gar nicht mehr zu hören war.

 

Die 12-jährige Tiffany Ye, ich gestehe es unumwunden, hat mich in ihrer Art des Umgangs mit Wolfgang Amadeus Mozarts Konzert für Klavier und Orchester Nr. 23 A-Dur KV 488 zu Tränen gerührt. Der Einwand mag berechtigt sein, dass das Konzert in seiner Gesamtheit ein wenig zu langsam vorgetragen wurde, nichts desto Trotz gelang es der jugendlichen Pianistin im harmonischen Zusammenspiel mit dem Orchester einen Mozart zu generieren, der sich (wie es denn letztlich doch sein soll) zwischen zaghaft-schüchterner Ängstlichkeit, verträumt-hingebungsvollem und auch tieftraurigem Verschweben und – der freilich blasse Kontrapunkt – peppig-draufgängerischem Ausbrechen aus der Konvention bewegte.

 

Rising Stars Nov 2025

Der Höhepunkt des Abends – und das wurde von dem Publikum ganz eindeutig auch so empfunden – war die Beethoven-Interpretation des 15 Jahre alten Solisten Kevin Tan. Die Emperor-Präsenz war sowohl bei dem Pianisten als auch bei dem Orchester von der ersten Note an da. Und hielt sich durch sämtliche Variationen dieses so erhebenden, kraftvoll mitreißenden und ungemein intensiven Konzerts für Klavier und Orchester Nr. 5 Es-Dur op. 73 durch. Auch und vor allem in der Zartheit, dem abgeduckten Flehen und Bitten des 2. Adagio-Satzes (Adagio un poco moto), der, wie es sich gehört, attaca gespielt, in die mitreißende, triumphale Dynamik und die beschwingte Launigkeit des 3. Rondo-Allegro-Satzes – einer Befreiung gleich – hinausstrahlte. Bravo!

 

Bis auf die eine Ausnahme hielten die Darbietungen des Konzertabends in der Berliner Philharmonie manch musikalische Überraschung bereit, die sich aus dem jugendlichen Alter der Interpreten erklären lässt und die auf ihre Art mehr als bloß eine Ahnung davon vermittelten, dass relevante Musik sich auch kindlicher Experimentierfreude erschließt. Wofür aber, darüber hinaus, zwei weitere Komponenten unverzichtbar sind: Das feinfühlige Lotsen der instrumental Involvierten durch die so reich differenzierte Phantasiewelt der Musik – ich rede von dem Dirigenten Martin Braun –, und ein Orchester, das als Gesamtcorpus über die Fähigkeit verfügt, sich den jeweils gerade erforderlichen Feinstvariationen gemäß zu verhalten.

 

Im Sinne einer Randnotiz: im Programmheft ist irrtümlich Beethovens 3. Klavierkonzert angekündigt worden.

Zum Beschluss und als Fazit eines Abends, der wirkliche Freude bereitet hat: Die vier (?!) ‚Youngster‘ geben tatsächlich zu den schönsten Hoffnungen Anlass.

 

Trotzdem gilt, und ich bekenne mich, wie zu Beginn, zu dem hier:

Was schwatzen und wie schreiben sie

Nach jedem zehnten Wort, auf jedem dritten Blatt

Nur immer vom Genie. (Friedrich Gottlieb Klopstock)


Vier Klavierkonzerte in einer Nacht – Berliner Symphoniker & Rising Stars | Deutsche Erstaufführung

Das Konzert fand statt am: 2.11.2025 in der Philharmonie Berlin (Großer Saal), Herbert-von-Karajan-Straße 1, in 10785 Berlin

Berliner Symphoniker, Martin Braun: Dirigent

 

Konzertprogramm

Ludwig van Beethoven

Konzert für Klavier und Orchester Nr. 2 B-Dur op. 19; Joseph Yourong Cai Klavier

Carey Tan

Konzert für Klavier und Orchester Nr. 1 »The Explorers« (Deutsche Erstaufführung); Carey Tan Klavier

Wolfgang Amadeus Mozart

Konzert für Klavier und Orchester Nr. 23 A-Dur KV 488; Tiffany Ye Klavier

Ludwig van Beethoven

Konzert für Klavier und Orchester Nr. 5 Es-Dur op. 73; Kevin Tan Klavier

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