Musik
Olivier Messiaen, 1986. Foto: Rob Croes / Anefo. Quelle: Niederländisches Nationalarchiv. Lizenz: CC0 1.0. Rechts: Quatuor pour la fin du Temps, Ankündigung der ersten Aufführung (Stralag Görlitz). Lizenz: CC BY-SA 4.0

Dies ist kein Konzertabend im herkömmlichen Sinn. Zum einen begründet im Auftrittsort: wir sitzen im Betsaal der Lübecker Synagoge. Zum anderen ist es der Zeitpunkt: vor achtzig Jahren wurde Deutschland von der Naziherrschaft befreit!

 

Auch die Worte „Seid Mensch“ der kürzlich verstorbenen Margot Friedländer und der eindringliche Apell des neugewählten Papstes „Nie wieder Krieg“ lassen diesen Abend zu einer Gedankenstätte werden. Zudem drängen sich Hannah Arendts Mahnungen in diesen Gedankenreigen, als unvermittelt die Klarinette erklingt. Und damit beginnt ein Abend meisterhafter Schönheit.

 

Denn das „Quatuor pour la fin du Temps“ (dt.: „Quartett für das Ende der Zeit“) reiht sich in seiner Bedeutung vorläufig abschließend ein in den kammermusikalischen Bogen von Beethovens späten Streichquartetten (bis zu sieben Sätzen!) über Schuberts Streichquintett mit der immerhin unüblichen Verdoppelung des Cellos. Doch hier, in diesem „Quartett für das Ende der Zeit“, beruht die Besetzung auf den damals zur Verfügung stehenden Musikern und ihren Instrumenten: Klarinette, Violine, Cello und ein von Messiaen selbst gespieltes defektes Klavier. Durch diesen unverwechselbar einmaligen Klangkörper werden wir unmittelbar in die Zeit der Kriegsgefangenschaft in Görlitz versetzt, in der Messiaen das Werk vor Lagerinsassen in Eiseskälte 1941 uraufführte. „Niemals sonst hat man mir mit solcher Aufmerksamkeit und solchem Verständnis zugehört wie damals“, erinnerte sich Messiaen Jahrzehnte später an diesen auch für ihn denkwürdigen Abend.

 

Inhaltliche Grundlage seiner Komposition ist die Offenbarung des Johannes aus dem Neuen Testament mit ihrer farb- und klangprächtigen Schilderung des Zeitenendes.

 

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An diesem Konzertabend in der Lübecker Synagoge sind es vier Mitglieder des Philharmonischen Orchesters der Hansestadt Lübeck, die uns Konzertbesucher mit Olivier Messiaens „Quartett für das Ende der Zeit“ durch einen inhaltlich und klanglich eindrucksvollen Abend führen. Im ersten Satz nimmt uns die Klarinette (Andreas Lipp) augenblicklich gefangen, um uns flugs in die Vogelfreiheit zu entlassen, während das Klavier (Magda Amara) komplett durchkonstruierte Akkorde vor unserem Ohr aufschichtet. Bereits hier offenbart sich das Geheimnis der Kompositionstechnik Messiaens: Auf mathematischer Genauigkeit basierende Modalität kann sich eine expressiv-widerständig-berückende Klangsprache entfalten.

 

Im dritten Satz (Abgrund der Vögel) hören wir ein Klarinettensolo, das von mehrfachem Piano bis hin zum stark Forte-Überblasen und einem größtmöglichen Tonumfang einen lichtdurchfluteten „Regenbogen“ im Vogelstil umschließt. Vor dem fünften Satz öffnete sich auf der Empore des Betsaales die Notausgangstür, um den Blick freizugeben auf den Himmel, ein die Messiaensche Mystik vertretender Zufall, bevor das Cello (Hans-Christian Schwarz) die Ewigkeit verherrlicht. Der sechste Satz (Tanz der Raserei) ist komplett einstimmig und von großer Wucht (Messiaen spricht von Granitklang). Auch hier zeigt das Ensemble eine bewundernswerte Geschlossenheit bei gleichzeitig bemerkenswerter Virtuosität. Besonders, wenn gegen Satzende die rhythmischen Motive zu gleichmäßigen Sechzehntelketten zusammengedrückt werden.

 

Im achten Satz (Lob auf die Unsterblichkeit Jesu) gelingen Magda Amara (Klavier) durchsichtig-zarte Klangtexturen, die an farbig-wechselnde Kirchenfenster erinnern und rhythmisch unverändert weiterklingend die Unendlichkeit symbolisieren, während Carlos Johnson (Violine) bei extrem langsamen Tempo in höchste Lagen im äußersten Pianissimo emporsteigt. Ein berührender Schluss in der Stille dieses heiligen Ortes.

 

Nach langer Pause entfaltet sich lang anhaltender Applaus für Komponist und Ensemble.

 

Wir verlassen die Synagoge tief beeindruckt und dankbar, dass das Theater Lübeck zur in dieser Saison aufgeführten Oper „Die Passagierin“ von Mieczyslaw Weinberg ein großes Begleitprogramm aufgestellt hat, das mit diesem Abend in der Lübecker Synagoge zu seinem Höhepunkt gekommen ist.

 

Ich nehme meine Kippah, die ich extra für diesen Anlass erworben habe, in die Hand. Sie wird mich bis zum Ende meiner Zeit begleiten.


2. Klangbilderkonzert

Olivier Messiaen (1908–1992) Quatour pour la fin du Temps (Quartett für das Ende der Zeit)

Klarinette: Andreas Lipp

Violine: Carlos Johnson

Violoncello: Hans-Christian Schwarz

Klavier: Magda Amara

In der Carlebach-Synagoge zu Lübeck

In Kooperation mit der Jüdischen Gemeinde Lübeck anlässlich der Inszenierung der Oper „Die Passagierin“ von Mieczysław Weinberg am Theater Lübeck

Weitere Informationen (Theater Lübeck)

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