Musik
Annett Louisan. Foto Isabel Moran

Es dauerte, bis der Funke übersprang. Genau genommen, bis nach der Pause. Doch zum Schluss tanzten selbst graumelierte Damen und Herren ausgelassen vor der Open-Air-Bühne des Museums der Arbeit.
Die völlig überwältigte Annett Louisan, ihre großartige Band und das bestens aufgelegte Schleswig-Holstein Chamber Orchestra wussten nach drei Zugaben einfach nicht mehr, was sie spielen sollten.

Pop-Elfe, Barbiepuppe, Lolita. Jahrelang war Annett Louisan nur die „Ich will doch nur Spielen“-Maus mit Erotik-Stimmchen und kokettem Augenaufschlag, bei der es immer nur um Männer geht. Klein ist sie immer noch mit ihren gerade mal 152 Zentimeter, da helfen auch die Super-Stilettos nicht wirklich. Und puppenhaft süß sieht sie selbst mit 38 Jahren aus. Doch dass die gebürtige Magdeburgerin mehr kann, als mit samtig einschmeichelnder Mädchenstimme ein paar witzige, mit Frechheiten und Schimpfwörtern gespickte Texte ins Mikro zu hauchen, hat sie an diesem Abend eindrücklich gezeigt.

Für 19 Uhr ist das Open-Air-Konzert im Hof des Museums der Arbeit angesetzt und um Punkt 19 Uhr geht es tatsächlich los. Fast überschwänglich begrüßt Annett Louisan das Hamburger Publikum, dann Wouter Padberg, den holländischen Dirigenten des Schleswig-Holstein Chamber Orchestras und ihre Band um Hardy Kayer (Gitarre) und Friedrich Paravincini (Piano, Cello). Sichtlich bemüht flirtet sie mit den Zuschauern in die ersten Reihen, erzählt von ihrer Zeit in Barmbek und an der Kunsthochschule – doch ohne großen Erfolg. Die Hanseaten bleiben reglos auf ihren Plastikstühlen sitzen und lassen sie strampeln. Irgendwelche Refrains mitsingen wollen sie schon gar nicht.

Es scheint fast, als sei hier was schiefgelaufen. Als hätte sich das typische SHMF-Publikum, das am Sonnabend zuvor den überragenden Percussionisten Martin Grubinger mit Bruno Hartls Neuer Musik für Schlagzeug und Orchester in der Lübecker MUK gefeiert hatte, in das Hamburger Open-Air-Konzert verirrt - nur, weil Schleswig-Holstein Musikfestival drauf stand.

Doch statt Klassik kommt nun dieses Girlie, das zwischen den Songs raucht und ständig an seinem trägerlosen Klein herum zippelt, weil das Bustier zu rutschen droht. Kein sonderlich gelungener Einstieg, in der Tat, und so bleibt die gefühlte Temperatur des Publikums unter denen des lauen Sommerabends an der Maurienstraße. Selbst die wunderbar für das Kammerorchester arrangierten südamerikanischen Rhythmen aus dem zweiten Album „Unausgesprochen“ können den gut gefüllten Platz vor dem riesigen Elbtunnel-Schneidrad T.R.U.D.E. nicht erwärmen. Dabei sind Louisans Band und das Schleswig-Holstein-Chamber Orchestra ausgezeichnet aufgelegt und Louisans hingehauchte Stimme geht wohlig unter die Haut, nur in den hohen Lagen klingt sie etwas dünn. In den Bossa nova- und Tango-Stücken, „Wo ist das Problem“, „Der Schöne“, „Torsten Schmidt“ oder „Rosenkrieg“ passt sie jedoch hinreißend und büßt auch mit Streicher-Begleitung nichts von ihrem erotisch-coolen Charme ein.

Soweit der Eindruck vor der Pause. Danach bekommen die Hamburger eine ganz andere Annett Louisan zu Gesicht. Kein Mädchen mehr, sondern eine bezaubernde junge Frau im hochgeschlossenen „Kleinen Schwarzen", die sich über sich selbst und ihr Feen-Image lustig macht und die Lieder von ihrem neuen Album „Zu viel Information“ mit erstaunlicher Reife und Ausdrucksstärke vorträgt. „Ich bin nicht Annett Louisan. Annett Louisan ist meine liebe Schwester. Ich bin die Bösere von uns“, hatte sie in einem Interview zum Erscheinen des sechsten Albums gesagt.

Nun, vielleicht nicht die Bösere, aber in jedem Fall die Erwachsenere, Selbstbewusstere. Eine echte Chanteuse mit Gefühl und Tiefgang, die nicht nur als weibliches Pendant zu Roger Cicero durchgeht. Hier spürt man: Sie kann mehr werden. Vielleicht ein weiblicher Jacques Brel, vielleicht tritt sie sogar mal in die (noch zu großen) Fußstapfen von Edith Piaf. Einfach hinreißend, wie diese zierliche Person Charles Aznavours Klassiker „Spiel Zigeuner“ interpretiert. Mit einer Verve und Kraft, wie man sie nie zuvor in ihrer Stimme hörte. Hier stimmt einfach alles, Gesang, Arrangement, Zusammenspiel von Band und SH-Kammerorchester, das zur Höchstform auftrumpft.

Und mit einem Mal ist auch das Publikum da. Jubelt, johlt, pfeift, geht mit. „Jetzt geht die Party los“, ruft Annett Louisan glücklich, als das Konzert eigentlich schon vorbei ist und die Leute zur Bühne strömen. Jetzt wollen sie mehr – und jetzt singen sie endlich auch den Refrain aus vollem Halse mit: „Das Alles wäre nie passiert, das Alles wäre nie passiert – ohne Prosecco“.


Schleswig-Holstein Musik Festival 2015 bis 30. August
Weitere Informationen


Abbildungsnachweis:

Header: Annett Louisan. Foto: Isabel Moran. SHMF

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