Fotografie
Photography Calling! - Sprengel Museum Hannover - William Eggleston

Vor Jahrzehnten noch als „Knipserei“ belächelt, ist die „Fotografie“ inzwischen fest in die aktuelle Kunstszene integriert.
Die Kunst- und Dokumentarfotografie hat sich gleichwertig neben den klassischen Gattungen der Malerei wie Porträt, Landschaft, Stillleben oder Architektur etabliert. Im Fokus der Ausstellung in Hannover steht der sogenannte dokumentarische Stil, ein Begriff, den der Amerikaner Walker Evans 1971 prägte. Das Sprengel Museum zeigt eine Retrospektive künstlerischer Fotoarbeiten aus den 1960er- und 1970er-Jahren und vergleicht diese mit Bildern zeitgenössischer Fotokunst. Wie haben sich diese Fotografietypen in den vergangenen vierzig Jahren verändert?

Dieser Fragestellung geht die Schau anhand zahlreicher Exponate nach. Präsentiert werden 400 Arbeiten amerikanischer und europäischer Fotografen, welche die Themen Architektur, Mensch sowie Landschaft auf differenzierte Art und Weise festhalten. Auf einer Ausstellungsfläche von rund 2.000 Quadratmetern zeigt das Sprengel Museum Fotoarbeiten von einunddreißig Künstlern: Darunter sind renommierte Namen wie Bernd und Hilla Becher, Rineke Dijkstra, Diane Arbus, Boris Mikhailov sowie Robert Adams, Lewis Baltz, Steven Gil, Tobias Zielony, Thomas Ruff, Hans-Peter Feldmann oder Andreas Gursky – laut ‚art’ Magazin der teuerste Fotograf der Gegenwart.

Die Ausstellungsräume sind thematisch geordnet. In jedem Raum werden Fotoserien der 60er- oder 70er-Jahre aktuellen, zeitgenössischen Fotografien gegenüber gestellt. Schwarz-Weiß-Fotografie versus Farbfotografie? Nein, im Gegenteil. Die Arbeiten bilden nicht nur einen harmonischen Kontrast, sondern scheinen auch miteinander zu kommunizieren. Diese Art der Hängung soll exemplarisch an drei Räumen vorgestellt werden.

Gleich zu Anfang ist in einem der Räume eine Fotoserie von Hilla und Bernd Becher (*1934, 1931-2007) und von Rineke Dijkstra (*1959) ausgestellt. Das Ehepaar Becher widmete sich über 40 Jahren der Industriearchitektur. Ihre Bilder zeigen Gebäude von Zechen- und Grubenanlagen, vorwiegend aus dem Ruhrgebiet. Die einundzwanzig, kleinformatigen Schwarz-Weiß-Fotos sind technisch und gestalterisch perfekt inszenierte Einzelbilder, die zu einer typologischen Reihe geordnet sind. In Frontalansicht festgehalten, sind die Gebäude stets bei gleichem, schattenlosem Licht fotografiert. Im Gegensatz zu diesen „architektonischen Porträts“ stehen die Aufnahmen der holländischen Porträtfotografin Rineke Dijkstra. Ihre farbigen, großformatigen Ganzkörperporträts zeigen junge Frauen kurz nach der Entbindung. Schonungslos nackt - teilweise läuft das Blut noch als Rinnsal am Bein herunter - halten sie die gerade geborenen Kinder fest an ihre Brust gepresst. Was ist aus diesen kleinen, hilflosen Neugeborenen inzwischen geworden? Dieser Frage geht die Fotografin rund sechzehn Jahre später nach. Dijkstra porträtiert nun diese Kinder erneut: Es sind junge Menschen, die stolz und selbstbewusst in die Kamera schauen.

Ein anderer Raum widmet sich dem Thema Landschaft. Der Fotograf Robert Adams (*1937) thematisiert in seinen Fotografien die Zersiedlung seiner Heimat Colorado. Seine Fotoreihe „The New West“, bestehend aus zehn kleinformatigen, Schwarz-Weiß-Aufnahmen, zeigt Wohnsiedlungen sowie Landschafts- und Straßenimpressionen. Adams kulissenartige Bilder vermitteln eine vermeintliche Kleinstadtidylle. „For Sale“ - Schilder am Straßenrand lassen jedoch den Niedergang dieser Idylle erahnen. Nur wenige Menschen sind in das Bildgeschehen eingebunden. Seine menschenleere, nächtliche Aufnahme der Tankstelle „Pikes Peak“ wirkt atmosphärisch düster, irreal und unheimlich. Im Kontrast zu Adams Bildern aus den 1970er-Jahren stehen die großformatigen Farbbilder von Thomas Ruff (*1958). Der um zwanzig Jahre jüngere Fotograf beschäftigt sich ebenfalls mit dem Thema Landschaft. Nur, seine Bilder zeigen die gestochen scharfe Oberfläche des Planeten Mars. Es sind Aufnahmen der NASA, die Ruff am Computer elektronisch bearbeitet hat. Sie simulieren dem Betrachter eine fein nuancierte Farbigkeit, die in Realität auf dem Planeten wohl nicht zu finden ist.

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In einem weiteren Raum befinden sich Werke zum Genre „Porträt“. Die Fotoserien von Diane Arbus (1923-1971) und Boris Mikhailov (*1938) belegen die Weiterentwicklung der Porträtfotografie in den vergangenen vierzig Jahren. Arbus ausdrucksstarke Schwarz-Weiß-Aufnahmen der späten 1960er-Jahre präsentieren Porträts des amerikanischen Mittelstandes oder Randgruppen der Gesellschaft. Daneben gewähren ihre, oftmals skurrilen Bildkompositionen Einblicke hinter die sogenannten gutbürgerlichen Fassaden. Zum Beispiel kommt „Xmas Tree in a Living Room in Levitton“ völlig ohne Personen aus. Was wie der Schnappschuss einer momentanen Situation auszieht, dürfte eine perfekt durchdachte Szenerie sein: ein Sofa, ein bis zur Decke reichender, geschmückter Tannenbaum, in Weihnachtspapier verpackte Geschenke, eine von Strahlen umgebene Wanduhr, die ein paar Minuten nach neun zeigt, ein Fernseher sowie ein mit Blumen dekorierter runder Beistelltisch. Der narrative Bildinhalt spielt mit der Fantasie des Betrachters: Wer wohnt hier? Wann ist Bescherung?

Knapp fünfzig Jahre später nähert sich der in der Ukraine geborene Mikhailov der Porträtkunst vollkommen anders. Seine Bildreihe „German Portraits“ ist aus zwölf Einzelporträts konzipiert. Männer und Frauen sind in Profilansicht zu sehen. Inspiriert von der Porträtmalerei der italienischen Frührenaissance, setzt der Künstler diese Technik in einen modernen, fotografischen Kontext. Schonungslos halten seine Farbaufnahmen die menschliche Physiognomie in all ihren körperlichen Schwächen fest.

Dem Genre „Stillleben“ widmen sich zeitgenössische Fotografen wie Thomas Demand (*1964), Wolfgang Tillmans (*1968), Laura Bilau (*1981) oder Hans-Peter Feldmann (*1941). Es sind keine dokumentarischen, sondern eher triviale Motive, die diese Bilder auszeichnen. Vor allen Dingen Feldmanns großformatige Blumenbilder, vor einem monochromen Hintergrund arrangiert, erinnern an holländische Blumenstillleben des 17. Jahrhunderts. Erwähnenswert ist auch die Fotoserie des Briten Martin Parr (*1952), der die elitäre Oberschicht der Superreichen in Russland, Südafrika, Kenia und Indien abgelichtet hat. Sozialkritische Töne finden sich bei Paul Graham (*1956), der die soziale Lage der „upper class“ in den USA anprangert. Thomas Struth (*1954) oder Michael Schmidt (*1945) klagen in ihren Serien die Tristesse der modernen Architektur in Amerika und Deutschland an. Die Auflistung der ausstellenden Fotografen und ihrer bemerkenswerten Fotoarbeiten ließe sich beliebig fortsetzen.

Abschließend sei ein Bild von Andreas Gursky (*1955) vorgestellt, dem teuersten zeitgenössischen Fotokünstler. Sein Bild „Cocoon II“ sprengt alle Dimensionen. Fünf Meter breit und über zwei Meter hoch zeigt das Foto eine Szenerie aus der Frankfurter Disco Cocoon - die in Wahrheit nicht so gigantisch aussieht. Eine kaum zählbare Menge von Jugendlichen wartet diszipliniert vor einer goldenen, wabenartigen Wanddekoration auf den Beginn eines Konzertes. Das Geheimnis dieser Gigantomanie verbirgt sich in seiner Produktion: Aus der Vogelperspektive fotografiert, werden die einzelnen Sequenzen digital bearbeitet, mehrfach kopiert und zu einer schillernden High-Tech-Komposition zusammengesetzt. Das Bild erinnert in seiner Monumentalität an die Historienbilder der Alten Meister. Hat sich die Fotografie nun auch des traditionellen Genres der Historienmalerei bedient? Discoszenen statt Schlachtenbilder?

Nach dem Rundgang durch die Ausstellung stellt sich die Frage, warum es so lange dauerte bis die Fotografie als eigenständige Kunstform anerkannt wurde. Warum war ihr der Weg in die Museen der Welt Jahrzehnte lang verwehrt? Immerhin liegt die Erfindung der Fotografie durch die Franzosen Joseph Nicéphore Nièpce und Louis Jacques Mandé Daguerre über 170 Jahre zurück. Die fehlende Akzeptanz als Kunstgattung mag mit der tradierten Kunstauffassung der Malerei zusammenhängen. War oder ist der Fotograf doch ein Handwerker, der sich technischer Apparate bedient. Denn im Gegensatz zur Malerei oder Bildhauerei, können Negative beliebig oft vervielfältigt werden. Und, dank der elektronischen Bildbearbeitung lassen sich Fotobilder so illustrieren, dass sie eine vermeintliche Realität widerspiegeln. Mit der technischen Weiterentwicklung der Fotoapparate bis zur Digitalkamera und dem Fotohandy entwickelte sich zudem die Fotografie zu einer Art „Volkssport“ für Jedermann. Was ist da noch Kunst?

Erst ab Mitte des 20. Jahrhunderts fand die Fotografie als künstlerische Darstellungsform Eingang in Museen und Ausstellungen. Die Documenta in Kassel widmet sich seit 1968 dem neuen Medium „Fotografie“ und hat damit entscheidend zum Renommee der Fotokunst beigetragen. Ab den 1950er-Jahren legten amerikanische Museen Sammlungen an – eine Ausnahme ist das Museum of Modern Art in New York, welches seit 1929 ein Kabinett der Fotografie besitzt. In Paris, der Geburtsstadt der Fotografie, richtete das Musée d`Orsay erst 1978 eine Sammlung für Fotografie ein. Seit den 1970er-Jahren nehmen deutsche Museen fotografische Arbeiten in ihre Sammlungsbestände auf. Dazu gehörte die Photographische Sammlung im Folkwangmuseum in Essen und auch das Sprengel Museum Hannover, welches schon früh die künstlerische Relevanz der Fotografie erkannt hat. Seit der Eröffnung im Jahr 1979 hat das Museum kontinuierlich eine eigene Fotosammlung aufgebaut, die durch umfangreiche Dauerleihgaben ergänzt wurde. In den vergangenen zwanzig Jahren präsentierte das Haus zahlreiche Einzelausstellungen zeitgenössischer Fotografie. Anlässlich der Weltausstellung EXPO 2000 in Hannover widmete sich die Ausstellung „How you look at it - Fotografien des 20. Jahrhunderts“ den Fotokünstlern der Gegenwart.
Die aktuelle Ausstellung im Sprengel Museum Hannover belegt, das sich der sogenannte dokumentarische Stil weiter entwickelt hat. Er ist globaler, großformatiger und farbenfroher geworden. Die aktuelle Ausstellung entstand in Kooperation mit der Niedersächsischen Sparkassenstiftung, welche eine breit gefächerte Sammlung zeitgenössischer Fotografie besitzt.

PHOTOGRAPHY CALLING! ist eine überaus sehenswerte Präsentation. Sie beweist endgültig, dass die Fotografie in der Kunst angekommen ist. Und: Die Fotografie hat das Sprengel Museum Hannover erobert!

Sprengel Museum Hannover
Kurt-Schwitters-Platz
30169 Hannover

Ausstellungsdauer: 9. Oktober 2011 bis 15. Januar 2012
Öffnungszeiten: Dienstag, Samstag 10-20 Uhr, Mittwoch, Donnerstag, Freitag und Sonntag 10-18 Uhr, Heiligabend, 1. Weihnachtstag und Silvester geschlossen
2. Weihnachtstag 10-18 Uhr, Neujahr 13-18 Uhr
Internetadresse: www.sprengel-museum.de

Fotonachweis:
Header: Detail aus William Eggleston: Untitled (Memphis-Tennessee), 1972, From 14 Pictures, 1974
Dye Transfer Print, 32.5 x 48 cm, Niedersächsische Sparkassenstiftung, Hannover. © Eggleston Artistic Trust 2011, Repro: Photo-Team Jürgen Brinkmann, Hanover
Galerie:
01. Bernd und Hilla Becher: Zeche Zollern II, Dortmund, D, 1971, aus Fabrikhallen, 1963–1995
Silbergelatineabzug, 33,1 x 38,3 cm, Niedersächsische Sparkassenstiftung, Hannover. © Hilla Becher, Repro: Raimund Zakowski, Hannover
02. Rineke Dijkstra: Tex, Amsterdam, The Netherlands, August 2, 2010, C-Print, 90 x 72 cm, Besitz der Künstlerin, Courtesy Galerie Max Hetzler, Berlin, und Galerie Marian Goodman, Paris. © Rineke Dijkstra
03. Robert Adams: Along Interstate 25. aus The New West, 1968–1971, Silbergelatineabzug, ca. 15,2 x 14,2 cm, Niedersächsische Sparkassenstiftung, Hannover. © Robert Adams, Repro: Michael Herling/Uwe Vogt, Sprengel Museum Hannover
04. Robert Adams: Pikes Peak Park, Colorado Springs. aus The New West, 1968–1971, Silbergelatineabzug, ca. 15,2 x 14,2 cm, Niedersächsische Sparkassenstiftung, Hannover. © Robert Adams, Repro: Michael Herling/Uwe Vogt, Sprengel Museum Hannover
05. Robert Adams: Pikes Peak. aus The New West, 1968–1971, Silbergelatineabzug, ca. 15,2 x 14,2 cm, Niedersächsische Sparkassenstiftung, Hannover. © Robert Adams, Repro: Michael Herling / Uwe Vogt, Sprengel Museum Hannover
06. Thomas Ruff: ma.r.s.17, 2011, C-Print, 255 x 185 cm, Courtesy Johnen Galerie, Berlin. © Thomas Ruff/NASA/JPL/University of Arizona/VG Bild-Kunst, Bonn 2011
07. Diane Arbus: A Young Brooklyn Family going for a Sunday Outing, N.Y.C., 1966. aus A Box of Ten Photographs, 1971, Silbergelatineabzug, 39,2 x 38,3 cm, Niedersächsische Sparkassenstiftung, Hannover. © The Estate of Diane Arbus, LLC, Repro: Michael Herling/Uwe Vogt, Sprengel Museum Hannover
08. Boris Mikhailov: Ohne Titel. aus German Portraits, 2008, geprintet in 2011, C-Print, ca. 105 x 70 cm, Besitz des Künstlers, Courtesy Galerie Barbara Weiss, Berlin. © Boris Mikhailov/VG Bild-Kunst, Bonn 2011
09. Thomas Demand: Paket, 2011, C-Print/Diasec, 108 x 93 cm, Besitz des Künstlers. © Thomas Demand/VG Bild-Kunst, Bonn 2011
10. Hans-Peter Feldmann: Blumenbilder, 2006, Lambda C-Print, 170 x 120 cm, Courtesy Mehdi Chouakri, Berlin. © Hans-Peter Feldmann/VG Bild-Kunst, Bonn 2011
11. Martin Parr: Russia. Moscow. Fashion Week, 2004. aus Luxury, 2004–2011, Pigment Print, 101 x 152 cm, Besitz des Künstlers. © Martin Parr/Magnum Photos
12. Paul Graham: Ohne Titel (Louisiana), 2005–06. aus A Shimmer of Possibility, 2005–06, Pigment ink print, Installationsansicht, Niedersächsische Sparkassenstiftung, Hannover, Courtesy carlier | gebauer, Berlin. © Paul Graham
13. Thomas Struth: South Lake Street Apartments IV, Chicago, 1990, Bromsilbergelatineabzug, 46,3 x 57,5 cm, Pinakothek der Moderne, München, seit 2003 Dauerleihgabe der Siemens AG. © Thomas Struth.


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