Fotografie

Unmittelbar auf das Weltgeschehen zu reagieren ist alles andere als selbstverständlich. Ingo Taubhorn, dem Kurator für Fotografie an den Deichtorhallen Hamburg, ist es gelungen. Gemeinsam mit Katheryna Radchenko, Leiterin der Odesa Photo Days, präsentiert er unter dem Titel „The New Abnormal“ Aufnahmen zwölf ukrainischer Fotograf*innen, die „eine neue Form des Lebens“ während des Krieges dokumentieren.

Alle keine Kriegsberichterstatter, doch ihre Bilder sind vielfach so verstörend, dass sie in den internationalen Medien der Zensur unterliegen.

 

Die komplett zerstörten Stadtlandschaften in nostalgischem Schwarzweiß wirken wie aus dem Geschichtsbuch. So oder so ähnlich sahen Köln, Dresden oder Berlin Ende des Zweiten Weltkriegs aus. Schwer zu begreifen, dass die Aufnahmen von Vladyslav Krasnoshchok (42) brandaktuell sind. Zustände dokumentieren, die jetzt und heute mitten in Europa herrschen. Dass diese Ausstellung ein knappes halbes Jahr nach Kriegsbeginn möglich wurde, dass kaum eine Aufnahme älter als vier Monate ist, grenzt an ein kleines Wunder und wäre ohne Digitalisierung undenkbar gewesen. Per Zoomkonferenzen entwickelten Ingo Taubhorn und Katheryna Radchenko das Konzept, alle Aufnahmen fanden per Datensatz den Weg in den Westen und wurden hier vom Fotolabor WhiteWall in Windeseile ausstellungsreif vergrößert.

 

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Pavlo Dorohoi (37) hat die Notunterkünfte in der Charkiwer Metro dokumentiert. Den Versuch der Menschen, ein wenig Wohnlichkeit tief unter der Erde zu finden. Nazar Furyk (27) hat seine Kamera auf ein zerschossenes Verkehrsschild vor einem Zebrastreifen gerichtet. Ein Schild, das doch eigentlich der Sicherheit der Passanten dient und nun die tödliche Gefahr auf der Straße symbolisiert. Die in Berlin lebende Mila Teshaieva (48) fuhr zu Beginn der Invasion nach Kiew und veröffentliche ihr Tagebuch auf der Internetplattform dekoder.org. Der bekannteste unter ihnen, Alexander Chekmenev (53), der auch für das New York Times Magazine arbeitet, porträtiert „gewöhnliche Menschen“ im altmeisterlichen Rembrandt-Stil, mit starken Hell-Dunkel-Kontrasten. Das Porträt einer jungen Frau mit Zöpfen im Kampfanzug und Maschinengewehr im Arm kommt einem ikonographisch pervertiertem Madonnenbildnis gleich.

 

Elena Subachs Serie „Chairs“ versteht man erst, wenn man erfährt, dass sie Flüchtende an die slowakische Grenze begleitet hat und zugegen war, wenn die Männer, die wieder in den Kampf ziehen mussten, sich von ihren Familien verabschiedeten. „Ich habe noch nie so viel Liebe und Schmerz zugleich gesehen“, schreibt sie. Fast alle Männer machten Fotos von ihren Kindern und Frauen. Ich wünsche mir wirklich sehr, dass dies nicht ihre letzten Fotos sein werden.“ Subach wollte diese intimen Momente nicht stören und fotografierte stattdessen Stühle mit den darauf zurückgelassenen Gegenständen.

 

Die härtesten Bilder aber stammen wohl von Daniil Russov, dem jüngsten Ausstellungsteilnehmer. Russov hat mit seinen 25 Jahren mehr Leichen gesehen, mehr Leid erlebt als die meisten 70Jährigen der westlichen Welt. Einen Monat nach dem Einmarsch der Russen schnappte er sich seine Kamera, fuhr nach Charkiw und begann an der Front den Krieg, „so genau wie es für jemanden möglich ist, der noch nie einen Krieg erlebt hat“ zu dokumentieren: Ein junges Rind zwischen völlig zerschossenen Häusern und Militär-Trümmern. Zwei Männer, die vor einem Luftschutzkeller auf der Straße Essen kochen. Vier anscheinend leere Hosenbeine und Stiefel, die auf den ersten Blick aussehen, als ob die Soldaten sie aufs Feld drapiert hätten. Dabei haben sich die Männer, die darin steckten, bereits aufgelöst. „Das Schlimmste ist der Geruch“, sagt Daniil Russov in fließendem Englisch. „Diesen etwas süßlichen, unglaublich ekelerregenden Geruch der Verwesung.“ Man mag es kaum glauben, aber „die Russen bergen ihre Toten nicht, sie lassen sie einfach liegen“, ergänzt Katheryna Radchenko und das Entsetzen ist ihr ins Gesicht geschrieben: „Menschenleben zählen einfach nicht“.


„The New Abnormal“

Eine Kooperation mit dem Odesa Photo Days Festival,

Zu sehen bis 6. November 2022, in den Phoxxi, Haus der Photographie temporär, Deichtorhallen Hamburg, Deichtorstraße 1-2, in 20095 Hamburg.

Weitere Informationen

 

YouTube-Video:

Teaser THE NEW ABNORMAL

 

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