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Das Gesangsduo „Soveles“ (jiddisch für „kleine Eulen“) ist ein zweistimmiges a-capella Duo, das sich einem besonderen Genre verschrieben hat: dem jiddischen (Volks-)Liedgut.

Die zwei Wiener Musikerinnen Isabel Frey und Esther Wratschko schreiben und arrangieren gemeinsam jiddische Lieder. Inhaltlich liegen die Schwerpunkte auf Sozialkritik, Frauen- und Menschenrechte. Beide Sängerinnen verbindet die jahrelange tiefgreifende Auseinandersetzung mit jiddischer Musik und die Vision, die Tradition ins 21. Jahrhundert zu führen.

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Das jiddische Volkslied hat seine Wurzeln in Deutschland, Ost- und Südosteuropa. Zurückgehend auf mittelalterliches Liedgut, in Kombination mit slawischer und rumänischer Folklore sowie einem am Orient orientiertem Synagogalgesang entstand im 19. Jahrhundert eine Blütezeit des sehr eigenen und unverwechselbaren jiddischen Kulturmerkmals im askenasischen Raum.[1]

Die Verflechtung des religiösen wie weltlichen Lebens in den Schtetln und Schtotn.[2]

 

„Der Begriff selbst ist im deutschen Sprachraum erst ab ca. 1880 existent: Mit damaligem Beginn der Volksliedforschung in Osteuropa - nahezu zeitgleich mit dem vermehrten Aufkommen jiddisch schreibender Schriftsteller, bot sich den jüdischen Einwohnern die Möglichkeit sich mittels Musik und Sprache als Volk selbst zu definieren, sich eine Identität abseits der Religion zu schaffen.“[3]

 

Solveles COVER„Soveles“ ist das Debütalbum des gleichnamigen Gesangsduos und besteht aus verschiedensten zumeist zweistimmigen jiddischen Liedern. Dabei bedienen sich die zwei Musikerinnen einerseits dem traditionellen Stil des unbegleiteten jiddischen Volkslieds und orientieren sich andererseits auch anhand modernerer Arrangement-Techniken und Klängen. Die meisten Nummern sind dabei ganz a capella gesungen; als Begleitung gibt es höchstens perkussive Elemente oder ein Cello als dritte Stimme. Mit diesem Album wird das Genre des jiddischen Volkslieds als eine lebendige Tradition wiederbelebt, weiterentwickelt und auf innovative und zugleich persönliche Art wieder hörbar gemacht.

 

Das Album erscheint am 16. November 2022 und wird im Rahmen des KlezMORE Festivals in Wien präsentiert.

 

Das Lied „Shtey“ (שטיי / Aufstehen, Erwachen) stammt aus dem Repertoire von Lifshe Schaechter-Widman (1893-1974), einer jiddischen Volkssängerin aus der Bukowina.[4] Das Lied ist ein Dialog zwischen einer Mutter und ihrer Tochter, die dem Missbrauch ihres jungen Mannes ausgesetzt ist. Das Wort „merder“ (Mörder) ist eine idiomatische Art, „Frauenschläger“ zu bezeichnen.

 

Das Besondere an dieser Aufnahme ist, dass die Originalstimme Schaechter-Widmans im Hintergrund als dritte Stimme – etwas verzerrt – dazu gemischt wurde und somit eine Verbindung mit ihr und dieser musikalischen Tradition herstellt.

 

„Schlof“ (שלאָף / Schlafe) ist ein traditionelles Wiegenlied mit gesellschaftskritischem Blickwinkel: Eine Mutter singt ihrem Kind vor und erklärt, dass es heranwachsen wird, um den Unterschied zwischen Arm und Reich zu lernen. Es ist nicht untypisch, dass jiddische Wiegenlieder gesellschaftspolitische Kommentare beinhalten, sei es Armut, Ungleichheit oder die Abwesenheit eines Vaters. Das Lied wurde in Joseph und Eleonore Mloteks „Songs of Generations: New Pearls of Yiddish Song“ veröffentlicht.

 

„Scheyner“ (שיינער / Schöner) wurde vom jiddischen Sänger, Liedermacher, Lehrer und Leiter des „Jüdischen Volkstheaters“ in Chișinău (Moldavien), Efim Chorny komponiert. Er wurde in eine jüdische Sängerfamilie hineingeboren und lebt dort bis heute. Efim und seine Partnerin Suzanna Ghergus führten Esther Wratschko – mit ihren jährlichen Workshops in Wien – in die Welt der jiddischen Musik ein. In einem davon lernte sie dieses Lied, das Efim gerne sein „antikapitalistisches Nign"[5]nennt.

 

Das Lied „Trilili“ (טרילילי / Trilili) des Krakauer Liedermachers Mordechai Gebirtig (1877-1942) ist aus der Perspektive einer Frau geschrieben, deren Verlobter sich auf der Suche nach Arbeit in die Stadt begibt und sie verlässt. In dem Lied wird ihr Leid darüber thematisiert und erinnert uns daran, wie sich Arbeitslosigkeit auf Beziehungen und Familien auswirkten.

 

„Himl“ (הימל / Himmel) stammt aus dem Repertoire von Solomon (Harry) Ary (1911-1997), einem Volkssänger und Lyriker aus der vielsprachigen Stadt Białystok (Polen), der nach Kanada immigrierte. Es befasst sich mit der düsteren Geschichte des Frauenhandels von Osteuropa nach Südamerika, vor allem ins argentinische Buenos Aires. Die jiddische Liedforscherin, Sängerin und Dichterin Ruth Rubin (1906-2000) nahm Arys Lieder im Jahr 1955 in Montréal (Kanada) auf. Dieses Lied wurde später digitalisiert und in „The Ruth Rubin Legacy Archive of Yiddish Folksongs“ am YIVO Institute for Jewish Research verfügbar gemacht. Die beiden Musikerinnen haben das Lied von Ethel Raim bei KlezKanada 2019 in einem Kurs über unbegleiteten jiddischen Gesang gelernt. „Es war das erste Lied, das wir für unser Duo arrangiert haben und nimmt daher einen ganz besonderen Platz in unserem Programm ein“.[6]

 

„Aroys“ (אַרויס‎ / Hinaus) stammt aus dem Bestand von Anna Berkowitz, einer 1920 in Shat (Litauen) geborenen Folksängerin, die 1935 nach Kanada auswanderte. Den größten Teil ihrer Lieder lernte sie in jungen Jahren von ihrer älteren Schwester. „Aroys“ wurde 1961 von Ruth Rubin ebenfalls in Montréal aufgenommen und später digitalisiert. Die Transkription und Übersetzung stammen von der Klangarchivarin Eléonore Biezunski, deren berührende Solo-Performance dieses Songs eine Inspiration für dieses Arrangement war.

 

„Sheltn“ (שעלטן / Verfluchen, Schimpfen) aus dem Fundus der Sängerin Feygl Yudin ist eine traurige Klage einer Frau, die nicht mit dem Mann zusammen sein kann, den sie liebt – ein häufiges Thema im traditionellen jiddischen Liedrepertoire. Ruth Rubin nahm dieses Lied 1948 in New York City auf, später wurde es digitalisiert.

 

Auch das nächste Lied, „Mamme“ (מאַמע / Mutter) stammt von Feygl Yudin. Es beschreibt eine unerfüllte Liebe, eine Geschichte von Verlust und Verrat. Textlich stecken versteckte Metaphern einer romantischen Liebe darin: „Spazierengehen“ ist ein Symbol für Intimität, und „seinen Schal verschenken“ ist eine Metapher für den Verlust der Jungfräulichkeit.

 

„Dortn“ (דאָרטן / Dort) ist ein beliebtes Liebeslied zwischen den Kontinenten Europa und Nordamerika. Es findet sich unter anderem im jiddischen Liederbuch „Mir trogn a gezang“ der aus Brooklyn stammenden Musikwissenschaftlerin Eleanor Chana Mlotek (1922-2013) Es war übrigens jenes Lied, mit dem das Folk-Duos Zupfgeigenhansel in den 1970er Jahren für eine jiddische Wiederbelebung im deutschsprachigen Raum sorgte.[7]


Soveles: „Soveles"

Isabel Frey: Gesang | Esther Wratschko: Gesang

Lili Weinhandl: Cello (2, 3, 5, 6, 8) | Alexander Yannilos: Percussion (2, 3, 4, 6, 7, 8)

Alle Arrangements von Isabel Frey und Esther Wratschko

Label: Klangue Records

CD, Booklet (engl./jidd)

VÖ: 16. November 2022

Weitere Informationen (Homepage Esther Wratschko)

 

[1] Hebr.: Aschkenas, dt.: Deutschland

[2] Dörfer, Städtchen und Städte

[3] Vgl.: Ensemble Cantastorie, Salzburg

[4] Heute: Ukraine und Rumänien

[5] Jidd.: Nign (Hebr.: Nigun) „Melodie“. Für gewöhnlich bezieht sich der Begriff auf religiöse Melodien, die von Gruppen gesungen werden.

[6] Quelle: CD-Booklet

[7] Ebd.



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