Bildende Kunst

Noch bis zum 8. Januar 2023 kann man im Normannenpalast von Palermo – Kulturhauptstadt Italiens 2018 – in bestechendem historischem Ambiente eine wirkungsvoll inszenierte Ausstellung zeitgenössischer Kunst auf Sizilien besichtigen.

Sechzehn große Namen locken in die ehemalige königliche Residenz von Roger II. im Herzen der Inselhauptstadt. Dieser exklusive „Who-is-who“-Mix der Gegenwartskunst steht für sechzehn Wege, die zur Reflexion über die postpandemische Realität führen: Alberto Burri, Saint Clair Cemin, Tony Cragg, Zhang Hong Mei, Anselm Kiefer, Jeff Koons, Sol LeWitt, Emil Lukas, Mimmo Paladino, Claudio Parmiggiani, Giuseppe Penone, Michelangelo Pistoletto, Tania Pistone, Andres Serrano, Ai Weiwei und Gilberto Zorio.

 

Ursprünglich nur bis Ende Oktober vorgesehen, wartet die seit dem 22. April laufende, mit dem spiegelschriftlichen Emblem „.ЯƎ“ betitelte Ausstellung mit einem Querschnitt von repräsentativer revolutionärer Kunst (seit den 1960er-Jahren bis heute) auf und ist über den Jahreswechsel hinaus bis zum 8. Januar verlängert worden. Der handfeste Grund dafür dürfte am höchst erfreulichen Aufschwung des internationalen Palermitaner Tourismus im Sommer dieses Jahres und den wieder aufgelebten Besucherströmen liegen, derer sich die in der Stadt wirkungsvoll angezeigte Sonderausstellung erfreut. „Swinging Palermo“ vibrierte noch im Spätherbst – Ende Oktober, Anfang November – mit sommerlichen Temperaturen über 20 Grad in den Rhythmen freier Straßenmusik und allgegenwärtiger Evergreen-Live-Auftritten, die durch die Gassen der von friedlichen Touristenströmen durchzogenen, sonnig-entspannten Altstadt klangen.

 

Palazzo dei Normanni F Lasterketak

Palazzo Reale / Palazzo dei Normanni, Palermo. Bearbeitetes Foto: Lasterketak

 

Direkt neben dem von Karl V. erbauten Stadttor Porta Nuova, nur wenige Gehminuten auf der verkehrsberuhigten Hauptstraße (Corso Vittorio Emanuele) Richtung Innenstadt entfernt von der Kathedrale, in der der Hohenstauferkaiser Friedrich II. begraben liegt, befindet sich der Eingang zur Ausstellung an der Renaissancefassade des Königspalasts (Palazzo Reale), auch Normannenpalast (Palazzo dei Normanni) genannt. Wo heute das Parlament der Autonomen Region Sizilien im oberen Stockwerk tagt, führt der Weg im Erdgeschoss direkt in den Innenhof des großen Palazzo. Dort läuft man auf einen schwarz eingezogenen Vorhang zu, der sich vom hellen Baustein des Gebäudes optisch effektvoll absetzt und durch dessen dunkles Entree man in die Ausstellung „.ЯƎ – In a virtual age, sixteen artists face ‘reality’ for a collective rebirth“ gelangt.

 

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Ai Wei-Wei: Sunflower Seeds, 2010. Foto: Dagmar Reichardt

 

Unmittelbar über den aus punisch-römischen Zeiten stammenden Ausgrabungen der alten Stadtmauern im Untergeschoss, empfangen die festlich mit Lichtspots bestrahlten, beeindruckenden alten Innengewölbe den Ausstellungsbesucher in einer ersten kleinen, erleuchteten Nische mit einer Installation von Ai Weiwei: „Sonnenblumensamen“ („Sunflower Seeds“) von 2010. Vor vier gerahmten, mit kalt-weißem Licht hervorgehobenen Schwarz-Weiß-Zeichnungen hat der chinesische Künstler darunter 850 braune, mit Hand bemalte, samenähnliche Porzellanstücke in einem großzügig bemessenen, elegant die dritte Dimension des Raumes einnehmenden Glaskasten zu einem Ensemble gefügt, das aus einer Privatsammlung vom Tate Modern in London stammt.

 

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Jeff Koons: Balloon Dog, 2000. Foto: PR/RE

 

Kaum tritt man in den nächsten Vorraum des imposanten Ausstellungssaals Sala Duca di Montalto überrascht den Zuschauer – vis à vis einer silbernen Pudel-Plastik aus der ikonischen Serie „Balloon Dog“ (1994-2000) von Jeff Koons – rechterhand eine in dramatisches Licht getauchte „Lumpenvenus“ („Venus of Rags“) des italienischen Hauptvertreters der Arte Povera, Michelangelo Pistoletto, aus dem Jahr 1967. Die Venus kehrt dem Zuschauer den Rücken zu und erscheint hier als weiße, unbekleidete, fast mannshohe Frauenstatue im klassischen Stil – aus mit Glimmerschiefer verkleidetem Beton gefertigt – die leicht nach links geneigt vor einem Berg bunter Altkleider steht.

 

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Michelangelo Pistoletto: Venus of the Rags, 1967. Foto: Dagmar Reichardt

 

Beim Betreten des weitläufigen, dem Herzog von Montalto gewidmeten Hauptsaals fällt der Blick auf der rechten Seite sofort auf den nächsten Pistoletto, der hier in Form eines realitätsnahen, aktuellen Selbstbildnisses von 2017 mit einem Heft in der Hand aus einem Spiegel leibhaftig dem Besucher – lesend –entgegenzukommen scheint, wobei er seinen Schatten vorauswirft („Self-portrait with notebook: Third Paradise“). In seine Lektüre vertieft bewegt er sich auf seine eigene „Zeitungskugel“ zu („Sphere of Newspaper“, 1966-2022), ein in den Sechzigerjahren begonnenes globusähnliches rundes Objekt aus Polyester, das einen Meter Durchmesser hat, mit gepressten Zeitungsseiten beschichtet ist und – dem Zuschauer zu Füßen – vor ihm auf dem Boden liegt. In diesem Palimpsest-artigen Patchwork internationaler Pressezitate fällt der Blick des Betrachters ganz obenauf sinnigerweise auf eine Titelseite, die aus der sizilianischen Tageszeitung „La Sicilia“ stammt: ein erster, gelungener und packender „glokaler“ Coup.

 

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Anselm Kiefer: O.T., 1990. Foto: PR/RE

 

Des Weiteren erblickt man zwischen den beiden Pistoletto-Werken im Hauptsaal die durch einen eigenen Torbogen zu beschreitende, unverhohlen sozialkritische, rezente Installation rot-blau-schwarz verhüllter und verschnürter Menschen (“Human Condition“, 2021) der 1973 geborenen Chinesin Zhang Hong Mei in einem schwarz ausstaffierten Spiegel-Separee: Sie bildet die eindeutig „globale“ Lebenslage während der Covid-19-Pandemie ab und war zuvor bereits 2021 in Turin gezeigt worden. Der dunkle, meisterhaft inszenierte sowie mit dem Licht und gekonnter Objektplatzierung spielende Hauptausstellungsraum breitet vor den Augen des Normannenpalast-Besuchers eine illustre Reihe ausgesuchter weiterer Werke von weltbekannten Künstlern unserer Zeit aus: von Andres Serranos aus Frankreich entliehener Interpretation eines „Schwarzen Abendmahls“ („Black Supper“, 1990), über Anselm Kiefers mehrfach vertretene unbetitelte Fotokunst aus den 1990er-Jahren, Mimmo Paladinos transavantgardistischen stummen „Zeugen“ („The Witness“, 1988) und Tony Craggs organisch inspirierten, kunstvoll weiß gebogenen Aluminiumschädel („Skull“, 2017) bis hin zu Gilberto Zorios schwach schimmernden Bronzesternen („Monotype“, 1990) oder Saint Clair Cemins weißer, amorph modellierter Marmorkugel auf Sockel („Sphere“, 2002).

 

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Andres Serrano: Black Supper, 1990. Foto: Dagmar Reichardt

 

Hinzukommen Sol Le Witts bogenförmige Gouachen auf Papier aus den Achtzigern („Arcs from the Midpoint of the Left Side“, 1988), seine Lithografien mit „Pinselstrichen: horizontal und vertikal“ aus den Neunzigern („Brushstrokes: horizontal and vertical“, 1996) und eine undatierte, weiße Skulptur, die „Von einem Kubus abgeleitete Formen“ wiedergibt („Forms derived from a cube“). Spätestens bei Alberto Burris großer weißer Riss- oder Bruchstelle („Great White Crack“, 1974), Giuseppe Penones zarten 33 „Kräuter“-Tafeln („33 Herbs“, 1989) oder Claudio Parmiggianis überdimensional isoliertem Ohr aus Gips und Papier („A Sculpture“, 1991) drängt sich die Frage nach dem roten Faden dieser Ausstellung auf.

 

Stimuliert vom kryptischen Titel der Ausstellung – „.ЯƎ“ – begreift der Zuschauer, der sich von all diesen öffentlichkeitswirksam zusammengestellten, gegenwartsbezogenen Kunstobjekten umgeben nach der langen pandemiebedingten Abstinenz wie ein Phönix aus der Asche in einen beschwingt-erhabenen Zustand versetzt fühlt, intuitiv, dass es hier um ein hinterfragendes Spiel mit der Realität geht: „.ЯƎ“ wie „Realität“ (oder: „Reality“)! In der durch filigrane Kunst energetisch aufgeladenen Verwandlung des rustikal-massiven Normannengemäuers in eine lebendige, theatralische Ausstellungsfläche mit diversen „Spot-on“-Bühnen und raffinierten Spiegeleffekten in mehreren der insgesamt 28 Arbeiten, aber auch aufgrund der mikroskopischen Vergrößerung bestimmter Formen in einigen von ihnen – die wie durch ein Brennglas an den Zuschauer herangerückt oder -gezoomt wirken – reflektieren sich die Auswirkungen der Covid-Pandemie: ihre langwierigen Isolationsmaßnahmen, ihre potenziell tödliche Bedrohung sowie die schmerzlich vermisste Sozialität und all die Ungewissheit, Kontaktarmut und Einsamkeit in dieser ganze zwei Jahre weltweit andauernden Ausnahmesituation. So jedenfalls sieht es Patrizia Monterosso, ihres Zeichens Generaldirektorin der Stiftung Fondazione Federico II, unter deren Ägide das Ausstellungsprojekt angestoßen, ausgetragen und nun verlängert wurde, sowie Verfasserin der Einführung zum Ausstellungskatalog, die den Titel „.ЯƎ – WEIV FO TNIOP“ trägt. Der seitenverkehrte Schriftzug liest sich übersetzt „ER. – POINT OF VIEW“, zu Deutsch: „ER. – BLICKWINKEL“.

 

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Tony Cragg: Skull, 2017. Foto: PR/RE

 

Wie Monterosso in diversen Interviews und in ihrer pointierten Einführung zum Katalog – die an mancher Stelle einem wohldurchdachten, gesellschaftskritisch, ja politisch engagierten Manifest ähnelt – deutlich macht, symbolisieren die spiegelbildlich geschriebenen Buchstaben eine unübliche, zunächst verzerrt oder absichtlich „verkehrt“ geschrieben wirkende Formel, die für eine neuartige Sichtweise steht, für eine sich wieder Bahn brechende Menschlichkeit nach der Pandemie, für Wachstum, neue Möglichkeiten und eine „REgeneration“ der Vielfalt von Sprache, Erfahrungen, Blickpunkten und offenen kulturellen Perspektiven. Wobei das grafische Zeichen „.ЯƎ“ – gegengelesen: „RE.“ – einen ebenso vielfältigen Bedeutungsfächer öffnet: Die Silbe „re“ entspricht auf Italienisch einerseits dem Lexem „König“ und verweist somit eindeutig auf die Monarchen Roger II. und Friedrich II., die im Mittelalter vom Normannenpalast aus Sizilien, die einflussreichste, größte Mittelmeerinsel, regierten. Andererseits steht dieser einsilbige Schriftzug für die Anfangsbuchstaben besagten Schlüsselwortes und fungiert somit als Platzhalter für den Begriff, der das Kernanliegen der Ausstellung auf den Punkt bringt: nämlich für (unsere) „REalität(en)“, Englisch: „REality/-ies“ oder auf Italienisch: „REaltà“ (sowohl im Singular als auch im Plural).

 

In Patrizia Monterossos bilingual abgedruckten Text (Italienisch | Englisch) gewinnt das ansteckende Wortspiel rund um den Buchstaben „R“ (in der Lautschrift: „ER“, so auch in der deutschen Aussprache) eine leitmotivische Bedeutung, ergeben diese zwei Buchstaben doch in der lautmalerisch umgekehrten Kombination „RE“ die einem Verb oder Substantiv vorgeschaltete Silbe „re-“ oder „Re-“. Diese wiederum bezeichnet in den beiden Katalogsprachen (Italienisch und Englisch) auch den Gedanken, dass etwas „wieder“, „erneut“ – oder „erneuert“ – beziehungsweise „gegenläufig“ – oder „gegen“ den Strich gerichtet (wie bei dem Wort „Reaktion“) – geschieht, gemeint ist oder vonstatten geht. Automatisch entfaltet sich eine mitreißende Dynamik im Laufe der Lektüre, die das tiefgründige, intensive Beziehungsgeflecht von Sprache(n), Schrift, Umgangs- und Kommunikationsformen, künstlerischen Visualisierungspotenzialen und philosophischen Bedeutungszusammenhängen zum Vorschein bringt.

 

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Immer wieder taucht das englische Präfix „re“ in Monterossos Vorwort in mannigfaltigen Zusammenhängen – meist im Sinn eines „re-loaded“ oder „re-switched“ – auf: von „REality“, über „REsistance“ („Widerstand“) oder „REflections“ („REflexionen“) bis hin zu einer „REkonstruktion“, einem Neustart („REboot“), einer „Wiedergeburt“ („REbirth“), „REgression“ oder Verantwortung im Sinn einer „REsponsability“ (die Hervorhebungen durch Großschreibung dienen hier und im Folgenden der besseren Verständlichkeit). Dazu gesellen sich unter anderem Verbkonjugationen wie „REselecting“, REorganizing“, „REprocessing“, „REawakened“, „REdiscovered“, „REconsidering“, „REgenerated“, „REacquire“, „REactivated“ oder „REpresent“. Äquivalent dekliniert Monterosso dieses Buchstabenspiel im Italienischen durch.

 

In der Absicht, das Verhältnis zwischen Bild und Realität in der postpandemischen Covid-Phase zeitgemäß zu revidieren, greift die Autorin im zweiten, sich theoretisch zuspitzenden Teil ihrer Erläuterungen auf keinen anderen als den mit Umwälzungen und Katastrophen jeglicher Art vertrauten deutschen Philosoph, Soziologen, Vordenker der Frankfurter Schule und Mit-Begründer der Kritischen Theorie, Theodor Adorno, und auf seine „Minima Moralia“ (1951) zurück, um ihre These der Kunst als Mittel des Widerstands gegen Barbarei, Fundamentalismus sowie die Verletzung von Menschenrechten und Angriffe auf die Demokratie zu untermauern. Vielmehr müsse Kunst sich für Solidarität, Gemeinsinn und Überhöhung – d.h. menschliche „Spiritualität“ – einsetzen und stark machen: „RE“ wie „REsilienz“ ist der hier vorherrschende Grundgedanke. Implizit redet Monterosso dabei der Transkulturalität das Wort, wenn sie – wie deren Erfinder, der deutsche Philosoph Wolfgang Welsch, betont, der sich selbst ausgiebig mit Kunst befasst hat – ein „Reticulum“, d.h. „Netzwerk“ imaginiert und sich Anno 2022 eine neue „REnaissance“ – also eigentlich eine historische „Wieder-Wiedergeburt“ – herbeiwünscht, die einen regenerierten Humanismus hervorbringen möge.

 

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Gilberto Zorio: Monotype, 1990 (Detail und Totale). Foto: Dagmar Reichardt

 

Wie quälend und dilemmatisch ein solcher Prozess oftmals auch in der Modernen Kunst sei, so Monterosso, schlage sich deutlich in Adornos Begrifflichkeiten der Kontaktparalyse, Entfremdung und des Rückfalls eben in die „Barbarei“ nieder. Gleichzeitig komprimiere sich darin die zentrale soziale Frage des modernen – sich auf das „Hic et nunc“, d.h. auf das Heute und die Zukunft konzentrierenden – Menschen nach dem Verlust (und der Reduktion) der Unschuld, ganz im Sinn Adornos (nach der Schoah sei etwa „nichts mehr unschuldig“ und existiere nurmehr „ein Nichts von Unschuld“).

 

Eben dieser Ansatz, so berichtet Monterosso, habe ihr als Richtwert bei der Auswahl der sechzehn an der „.ЯƎ“-Ausstellung beteiligten Künstler gedient. Sie alle böten dem Besucher unterschiedliche Möglichkeiten an, sich bezüglich einer Neuorientierung nach der Krise – respektive Erfahrung eines Traumas – mit neuen Formen, die sich in kreativer Energie freisetzen lassen, und einer „offenen“ Kunst auseinanderzusetzen. Daraus erwachse auch auf gesellschaftlicher Ebene eine erhöhte Sensibilität und verstärkte Achtsamkeit für die sich aus solch ethischen und sozialen Fragestellungen ergebende Ästhetik, deren Botschaft – frei übersetzt – dem Motto „REcreate your future“ zu folgen scheint, gemäß der proaktiven Aufforderung: „ERschaffe dir deine Zukunft“ – selbst!

 

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Giuseppe Penone: 33 Herbs, 1989. Foto: Dagmar Reichardt

 

Monterossos Einleitung zum „Buch zur Ausstellung“ ist ein leidenschaftliches, ebenso poetisch stilisiertes wie politisch schlagkräftiges, selbstsicheres Plädoyer für einen inneren und äußeren Aufbruch, der sich gegen einen derzeit weltweit zu verspürenden Rechtsruck und damit einhergehende autokratisch aufoktroyierte Gesellschaftsformen wendet. Diese führten doch immer – so heißt es am Schluss – entweder zum Hässlichen oder zur Brutalität: ein Dilemma, das nur dadurch umgangen werden könne, dass die Kunst einen konzeptuellen Ansatz entwickle, um das zeitgenössische Momentum einzufangen und Ungleichgewichten entgegenzuwirken. Die Kraft der Ästhetik allein genüge nicht, um eine heilsame „Conditio humana“ oder „Human Condition“ (wie Zhang Hong Mei sagen würde) – d.h. ein friedliches Miteinander und entspanntes Menschsein – im Rahmen neuer Bündnisse herzustellen und im Schutz von Kunst und Natur nachhaltig zu gewährleisten. Es sei an der Zeit, mit überholten Ordnungsstrukturen aufzuräumen und mit dem Chaos der Geschichte abzurechnen.

 

Zu Recht setzt sich die heutige, nach Friedrich II. – der, berühmt als „Stupor mundi“ („Staunen der Welt“), in dem von ihm geliebten Sizilien aufwuchs, das er ab 1198 als König regierte, bevor er 1212 nach Deutschland zog, wo er zunächst römisch-deutscher König und dann Kaiser wurde – benannte Stiftung in Palermo mittels der für das „.ЯƎ“-Projekt ausgewählten Werke dafür ein, den Kunsthorizont des Zuschauers zu „REaktivieren“ und ihm eine „Spiritualität ohne Scheinheiligkeit“ darzubieten. In der Zusammenschau zeigten die Arbeiten, so abschließend Monterosso, sechzehn Annäherungsversuche an diese unsere heutige, veränderte „REaltität“ sowie sechzehn Varianten auf, wie die Emotionalität und Reflexivität des Besuchers „REhabilitiert“ werden könnten, um sich eine vitalisierende, möglichst wirklichkeitsaffine, neu ausgehandelte Identität für unsere Gesellschaften im Plural sowohl einzeln zu erarbeiten als auch eine solche der Gegenwart im Kollektiv abzutrotzen.

 

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Claudio Parmiggiani: A Sculpture, 1991. Foto: Dagmar Reichardt

 

Warum diese programmatische Kunstausstellung gerade in der Hauptstadt der Autonomen Region Sizilien blendend funktioniert, liegt nicht nur an den hochwertigen Exponaten, dem Bekanntheitsgrad der Künstlernamen, dem sinnlich faszinierenden, technisch rundum gut ausgestatteten und architektonisch gepflegten Trakt im Inneren des Normannenpalasts oder an den üppig gedeihenden königlichen Gartenanlagen, die im Außenbereich hinter dem Museum zum Ausruhen, Spazieren und Verweilen einladen. Ihr Erfolg kann auch nicht ausschließlich mit der erklärten Absicht der Stiftung Fondazione Federico II zusammenhängen, Palermo als Schaubühne zeitgenössischer Kunst im Zuge ihres kontinuierlichen Wachstumskurses in den letzten vier Jahren zu etablieren.

 

Sicher, dank ihrer Zusammenarbeit mit einigen der weltweit führenden Vertretern der zeitgenössischen Kunst genau in der entscheidenden Phase einer kollektiven „Auferstehung“ nach dem Pandemieausbruch 2020, dem demokratischen Rückschritt und dem Kriegsbeginn zwischen Russland und der Ukraine im Februar 2022 wird unsere Sehnsucht nach einer gesellschaftlichen „REnaissance“, einer ethisch vertretbaren internationalen „Wir“-Konsolidierung und einem ebenso körperlichen wie geistigen „Wiedererwachen“ vor Ort direkt greif- und spürbar. Dieses Vorhaben dürfte zweifelsfrei als geglückt gelten, zeigt die Ausstellung im Normannenpalast doch verschiedene konkrete Richtungen und Diskursebenen auf, wie wir diese überwältigenden und vernichtenden Ereignissen verarbeiten, uns selbst wieder neu positionieren und die Neuschreibung der Wirklichkeit reanimieren könnten: Dafür würde es allerdings reichen, den Kunstwerken ihre selbstreflexive Dimension und soziale Funktion unter veränderten Vorzeichen zuzugestehen.

 

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Zhang Hong Mei: Human Condition, 2021. Foto: Dagmar Reichardt

 

Vielmehr scheinen – von der Besucherwarte aus gesehen – die Ausdruckskraft des Arrangements und der Zauber dieses Museumsbesuchs in einem Maß, das den Funken zum Überspringen bringt, am passgenauen Zusammenspiel der Ausstellung mit ihrer Umgebung zu liegen, an der geschichtsträchtigen, von Kollisionen und Kooperationen gezeichneten Stadt als zusätzlich sinnstiftendem Ort und somit an Palermo selbst als Protagonisten – mit seinem Hafen und Blick aufs weite Meer, den vielen Kuppeln, Partylichtern, Grünanlagen und Theaterhäusern. Palermo ist in den 2000er-Jahren eine völkerverbindende, moderne „Metropole des Mittelmeerraums“, die seit jeher nicht nur ein kosmopolitischer, von den Weltmächten einst hart umkämpfter Warenumschlagplatz, sondern stets auch Schmelztiegel verschiedenster Kulturen und Sprachen war: vom Arabischen, über das Hebräische, bis hin zum Phönizischen und Griechischen. Es ist dieses Ambiente, jene elektrisierende und zugleich der Zeit enthobene, gelassene Atmosphäre, die die Einwohner vor Ort in der – geographisch am Rande Europas gelegenen, jedoch mit einem transkulturellen Puls sämtliche fremden Gäste, Sprachen und Vorstellungen absorbierenden – italienischen Kulturhauptstadt von 2018 verbreiten, die uns alte und neue Möglichkeiten weist, um das Anthropozän nach dem überstandenen weltweiten Kollaps produktiv zu beleben.

 

Die Ausstellung „.ЯƎ“ veranschaulicht tröstend, anregend und aufmunternd zugleich, dass sich Kunst keineswegs in der flüchtigen Darstellung von Wirklichkeit erschöpft. Vielmehr bietet sie sich dem Besucher als kulturelles Event an, die von der Weltgesellschaft erst kürzlich erlittenen Traumen in die Wiederherstellung authentischer und verantwortungsvoller Lebensumstände jenseits von Klischees und Stereotypen umzuwandeln. Ein solch künstlerisch gelungener Transformationsprozess muss dabei vom Anspruch ausgehen, nie „wirklich“ reell, aber immer „wahr“ sein zu wollen und zu können. Vor die Frage gestellt, was von der jüngsten krisengeschüttelten Geschichte übrigbleiben wird und ob wir derweil „einfach“ so weitermachen sollen als sei nichts geschehen, haben sich die Kuratoren eindeutig dafür entschieden, einen interaktiven und kulturell solidarischen Versuch zu starten, der sich aufgeschlossen und ernsthaft für das Ziel einer erneuerten Menschheit – und Menschlichkeit – einzusetzen bereit ist.

 

So wendet sich „.ЯƎ“ nicht von unserer Geschichte ab, sondern unterzieht sich der Mühe, sie neu zu definieren, indem sie mit vielfältigen, verzweigten und sich überschneidenden Blickwinkeln aus (der jüngeren) Vergangenheit und (aktuellen) Gegenwart in eine Beziehung gesetzt wird, die das Individuum mit offenen – d.h. vorab nicht festgelegten – konstruktiven und eigenen Perspektiven assoziieren kann. Die Inszenierung exemplarischer Werke der sechzehn Künstler, die aus den letzten sechzig Jahren internationaler Kunstproduktion hervorgegangen sind, erlauben es dem Besucher nicht einmal in dieser postpandemischen Phase, nach vielen Monaten des erzwungenen Stillstands, nur eine einzige Geschichte zuzulassen und zu erzählen oder notwendige Veränderungen und den Reichtum von Unterschieden eindimensional zu lesen und zu deuten.

 

Diese Ausstellung fordert uns ganz im Gegenteil explizit dazu auf, die am eigenen Körper er- und gelebte Realität weiterhin unermüdlich zu entschlüsseln und zu verwandeln. Zu diesem Zweck präsentiert sie stilprägende, herausragende und paradigmatische Kunstwerke als ein Medium, das den Betrachter mit durchaus unterhaltsamer Leichtigkeit, ihren abwechslungsreichen Gegensätzen und einer spannenden Dramaturgie nicht nur in ihren Bann zieht, sondern ihr Publikum auch zu mehr Wagemut, Authentizität und Verantwortungsbewusstsein anspornt. Durch die Betonung von in sich oszillierenden, sich gegenseitig befruchtenden und einander im Blick des Betrachters überraschenden Gemeinsamkeiten schaffen es die unter dem Signet „.ЯƎ“ zu einer durchkomponierten, schillernden und facettenreichen Einheit versammelten älteren und neueren Arbeiten, im Besucher Hoffnung auf einen Zusammenhalt in einer Welt zu schüren, in der alles mehr denn je voneinander ab- und miteinander zusammenhängt. So gesehen, ist „.ЯƎ“ sowohl ein Haltung zeigendes, unmissverständliches Statement zur derzeitig prekären Weltenlage als auch ein kompaktes Symbol hoch komplexer Zivilisationsbereitschaft, und genau die brauchen wir – gerade jetzt.


„.ЯƎ“ – In a virtual age, sixteen artists face ‘reality’ for a collective rebirth

Zu sehen bis zum 8. Januar 2023 im Palazzo dei Normanni/Palazzo Reale, Piazza del Parlamento, 1, 90129 Palermo PA, Italien

Künstler*innen: Alberto Burri, Saint Clair Cemin, Tony Cragg, Zhang Hong Mei, Anselm Kiefer, Jeff Koons, Sol LeWitt, Emil Lukas, Mimmo Paladino, Claudio Parmiggiani, Giuseppe Penone, Michelangelo Pistoletto, Tania Pistone, Andres Serrano, Ai Wewei und Gilberto Zorio.

Weitere Informationen www.dotre.it (Italienisch) und www.dot-re.it/english/ (Englisch).

Online-Tickets, die vorab erworben werden können, um Warteschlangen zu umgehen, sind hier erhältlich (Homepage Federico Secondo)

 

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