Bildende Kunst
Jan Fišar – My View of Life

Vergessen sie alles, was sie über Glas wissen! Vergessen sie all die Trinkbehältnisse, Fensterscheiben, Aquarien und Kronleuchter, vergessen sie Vasen und Schüsseln und all die kitschigen Figürchen auf dem Regal oder auf Weihnachtsmärkten. Denken sie einfach nur an Kunst und Skulptur! Wenn sie das geschafft haben, dann wird dieser Ausflug in die Welt der Glaskunst, sie ebenso faszinieren wie mich.

Die Glasgalerie Stölting in der Hamburger HafenCity stellt unter dem Titel „Jan Fišar: My View of Life – Retrospective“ gut fünfzig Werke des tschechischen Künstlers Jan Fišar aus. Das sind quasi alle verfügbaren Werke, die sich noch im Handel befinden, aus seinem gesamten Oeuvre von ungefähr 350 Exponaten. Sammlungen und Museen weltweit – darunter auch das Museum für Kunst und Gewerbe in Hamburg – haben Glaskunst von Jan Fišar (wird 'Fischar' gesprochen) in ihrem Besitz.
Der 1933 in Hořovice/Tschechoslowakei geborene Künstler studierte Bildhauerei an der Hochschule für Angewandte Kunst in Prag, arbeitete zunächst mit den Materialien Holz, Stein und Gips bis er in Nordböhmen auf den Werkstoff Glas stieß. Im Jahr 1966 boten ihm nämlich die weltweit führenden Glaskünstler Stanislav Libenský und Jaroslava Brychtová die Mitarbeit an ihrem monumentalen Projekt „Blue Concretion“ für die Weltausstellung Expo 1967 in Montreal an. Dadurch gelangte er zum ersten Mal zu künstlerischer Arbeit mit Glas, ohne zu ahnen, dass gerade dieses Material seine ganze zukünftige Laufbahn und sein Leben bestimmen würde. Er starb vor fünf Jahren, im Mai 2010 in Novy Bor.

Für Fišar war Glas keine Abkehr von der Kunst, hin zum Kunsthandwerk, sondern die Gewinnung eines bisher wenig genutzten Materials für die Kunst.
Mit seinem künstlerischen Wissen entschied er sich sehr bewusst für den komplexen Feststoff, weil er viel Gestaltungsmöglichkeit bietet. Durch seine Lichtdurchlässigkeit kann die Gestalt Veränderungen ausgesetzt werden, die sowohl das Innen wie das Außen in der jeweiligen Situation beeinflussen. Darüberhinaus verändern sich durch Lichtbrechungen die Farbigkeit, Reflexion und Transparenzerscheinung, sobald sich der Betrachter vor dem jeweiligen Unikat bewegt. Das gibt jeder Skulptur eine einzigartige, oft kosmische Aura.

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Vorzeichnungen helfen dem Künstler zu einem Ergebnis zu gelangen. Die Kalkulierbarkeit des Materials, das durch Metallzusätze seine Farbigkeit erhält, ist für den Künstler ein permanenter Kampf. Fišar war ein Entwickler von Techniken. Selbst Spezialisten aus Glashütten fragen sich bei einigen Objekte: „Wie hat es das hinbekommen?“ Die Antwort bleibt offen, denn der Künstler hat sie mit ins Grab genommen. Der Reproduzierbarkeit ist damit ein Riegel vorgeschoben und so erklären sich, neben der künstlerischen Kompetenz und Aussagekraft, auch die Preise zwischen acht- und neunundzwanzigtausend Euro.

Schaut man sich die frühen Werke des Künstlers, aus den Jahren 1959 bis 1966 an, so steht er ganz in der Zeitgenossenschaft der Informellen Plastik. Er ist künstlerisch auf Augenhöhe mit den Westdeutschen Künstlern jener Zeit: Emil Cimiotti, Otto Herbert Hajek und Hans Uhlmann. Seine abstrakten Formengebilde aus Lindenholz und patiniertem Gips erhalten erst durch ihre Betitelung wieder eine decodierbare Verortung („Büste“ und der Zyklus „Pflanzen“).

Fišar konnte durch Auftragskunst sein selbst renoviertes Atelier in einem alten Fabrikgebäude finanzieren. Er arbeite für ‚Kunst am Bau’- und ‚Kunst im öffentlichen Raum“-Projekte und gestaltete Räume in Schulen, Thermalbädern und Kolonnaden. In den 1970er-Jahren kombinierte er Glaskörper mit Metallgelenken, so dass die Objekte benutzbar, drehbar wurden. Später, ab den 1990ern dienten ihm Metalle wie Messing oder Bronze dann als funktionslose Werkmaterialien.

Besonders beeindruckend sind seine Figuralen Kompositionen wie „Freier Fall“ (1991), „Herrenspaziergang (1991) und „Es lebe das Leben“ (1995). Mal sind die Oberflächen geschliffen und poliert, mal sandgestrahlt und auch einmal beides. Aber besonders sind die Objekte auch deshalb, weil sie eine ungeheure Portion an Humor und Selbstironie haben. Da hat jemand intensiv erlebt und erfahren!
Die seriellen Skulpturen „Muscheln“ sind von einer unglaublichen Schönheit. Die abgesenkten Hohlgläser sind scheinbar farblich und von ihrer Form her, der ozeanischen Flora und Fauna entnommen. Hier kann sich das Auge regelrecht im gläsernen Mikrokosmos verlieren.
„Visueller Raum“ nennen sich eine Reihe von Glasblock-Objekten, die sich nahezu minimalistisch der fundamentalen Bedeutung von Halbkugeln in Bezug auf deren kosmisch-räumliche Erscheinung berufen. Von diesen Werken sind eine große Anzahl in der Ausstellung der Glasgalerie Stölting zu sehen. „Sie“ (1999) huldigt in unaufdringlicher, geradezu zarter Weise der Weiblichkeit per se und „Der Ur-Stein“ (1995) bildet eine Art mystischer Genese-Quelle planetarischer Entwicklung.
Schließlich stehen noch die unifarbigen Gläser und die vermeintliche „Bewegung der Materie“ im Zentrum des Schaffens von Jan Fišar. Balancierende Gebilde, eingefrorene Momente, gebogene Spannungen, lichtgebrochene Körper zeigen Aggregatszustände kosmischen Seins und thematisieren, Zeit, Raum, Licht, Bewegung und Veränderung.

Nehmen sie sich Zeit, um all das zu entdecken!

Jan Fišar – My View of Life, Retrospektive
Zu sehen ab 26. März in der Glasgalerie Stölting – Tom Stölting, Am Sandtorpark 14, in 20457 Hamburg-HafenCity
Geöffnet: Mittwoch bis Samstag von 12-18 Uhr.
Homepage

Abbildungsnachweis: © Glasgalerie Stölting und Jan Fišar
Header: Jan Fišar, Muschel aus stehendem Wasser, 1992, Abgesengtes Hohlglas, geschliffen und poliert, 21x44x26cm. Privatsammlung
Galerie:
01. In der Glashütte. Ganz links: Jan Fišar
02. Zyklus Pflanzen, 1966, Patinierter Gips
03. Freier Fall, 1991, Abgesenktes Hohlglas, geschliffen, poliert, Metallsockel, 55x40x30cm
04. Skizze zum Objekt Die Streithähne, 1994, Bleistift auf Packpapier, 40x37cm
05. Es lebe das Leben (2-teilig), 1995, Abgesenktes Hohlglas, geschliffen, poliert, sandgestrahlt, Metallsockel, 57x72x65cm
06. Die Gezeiten, 1992, Abgesenktes Hohlglas, geschliffen, poliert, 45x26x26cm
07. Der Wachstein, 1991, Glasblock, eingearbeitete Glasstäbe, geklebt, geschliffen, poliert, 30x21x12cm
08. Sie, 1999, Glasblock, geschliffen und poliert, 36x37x15cm
09. Grad der Erkenntnis, 1993, Abgesenktes optisches Glas, geschliffen und poliert, 26x56x32cm
10. Der Wächter, 2000, Abgesenkter Glasblock, teilweise geschliffen und poliert, 30x43x21cm
11. Eingang zur Glasgalerie Stölting in der Hamburger HafenCity
12. Galerist Tom Stölting

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