Warum führt der Mensch Kriege? Gewalt kennt auch das Tierreich, aber es ist der Mensch – und unter allen Kreaturen dieser Erde er allein –, der Kriege führt.
Bescheiden ist der Anspruch dieses Buches nicht, denn es verspricht nicht weniger als eine „Menschheitsgeschichte“. Kann es diesen Anspruch einlösen?
Wenn es eine Menschheitsgeschichte ist, müssen die drei Autoren – ein Archäologe, ein Historiker und ein Evolutionsbiologe – ganz vorne anfangen, am allerersten Beginn, dort, wo sich der Mensch aus dem Tierreich löste. Aber hat er das wirklich getan, hat der Mensch tatsächlich sein tierisches Erbe hinter sich gelassen? Oder – und es sind viele, die so denken –: sind wir nicht immer noch Tiere? Aber unbedingt! sind die Autoren überzeugt: „keine Frage“, so heißt es ausdrücklich, sei der Mensch ein Tier. Immer und immer wird betont, dass der Mensch „eine Tierart“ sei, ein „Primat“ (also ein Menschenaffe), dass wir zwar „höchst kooperative Tiere“ seien und auch sonst ein wenig anders, weil wir schließlich über eine „hohe Empathiefähigkeit“ verfügen, aber Tiere seien wir eben doch. Wenn wir die Verfasser beim Wort nehmen – und das scheint mir ganz unbedingt erforderlich –, bietet uns das Buch die Geschichte einer Tierart. Also keine Menschheitsgeschichte?
Denn: Können Tiere überhaupt Geschichte haben? Eigentlich sollte das nicht möglich sein – zwar gibt es eine Naturgeschichte, die von der Entwicklung der verschiedenen Lebensformen erzählt, aber von der Geschichte einer Tierart habe ich noch nie gehört. Gehört zu einer Geschichte nicht immer auch eine sich wandelnde Kultur? Eine Kultur bleibt sich nicht immer gleich, sondern verändert sich, wird reicher oder verarmt, wogegen Tiere doch immer dieselben bleiben.
„Die Evolution der Gewalt“ ist ein gut geschriebenes, sauber lektoriertes Sachbuch mit einer differenzierten Argumentation, das in vier großen, 18 Kapitel zusammenfassenden Teilen die Geschichte der Menschheit erzählt. Es beginnt mit der Loslösung des Menschen aus dem Tierreich – nun, das scheint ja nicht ganz geklappt zu haben –, und dann geht es in der historischen Ordnung durch die einzelnen Phasen der Geschichte. Interessant für den Rezensenten war besonders die Schilderung der frühen, der stein- und bronzezeitlichen Episoden.
Carel van Schaik ist ein Evolutionsbiologe, der vierzehn Jahre lang dem Institut für Anthropologie der TH Zürich vorstand. Also ein respektierter Fachwissenschaftler, aber auch ein erfolgreicher Autor, der zusammen mit Kai Michel ein von der Evolutionstheorie inspiriertes, sehr dickes Buch über die Bibel mit einem ähnlich hochtrabenden – na gut, von mir aus ehrgeizigen – Titel wie das jetzige Buch schrieb: „Das Tagebuch der Menschheit. Was die Bibel über unsere Evolution verrät“.
Es lohnt sich, einen Blick in das ältere Buch zu werfen, denn wesentliche Teile der aktuellen Arbeit stimmen mit der Argumentation seines Vorgängers überein. Sie sind einander nicht bloß ähnlich, sondern es wird genauso argumentiert, wenngleich das Vorgängerwerk seine Menschheitsgeschichte auf der Folie der Bibel erzählt. „Anders als eine rein historische Betrachtung“, so grenzt sich die Arbeit von theologischen oder religiösen Publikationen ab, bettet die „Bibelanthropologie den Menschen in das große evolutionäre Weltgeschehen ein. Wir sehen ihn als biologisches Wesen, als Tier, das sich von seiner Primatenverwandtschaft wie den Schimpansen dadurch unterscheidet, dass es die Fähigkeit zur kumulativen kulturellen Evolution besitzt.“
Unter der Hand wird hier zugegeben, dass eine kulturelle Evolution etwas ganz anderes sein muss als die Evolution, mit der sich die Biologen beschäftigen. Warum also dasselbe Wort? Für die Evolution spielt die Kumulation erst dann eine Rolle, wenn die Anhäufung spezifischer Unterschiede zu einer neuen Art führt. Aber eben davon kann hier keine Rede sein – es wird keine neue Art geben. Wenn das Autorentrio von einer kulturellen Evolution spricht, versteht es darunter also nur eine Addition: „Nicht nur die konkrete Welt der Dinge, auch unsere Vorstellungen und Begriffe, Narrative, Diskurse und Institutionen sind durch die Zeiten gewachsene Produkte. Schicht um Schicht lagern sie sich ab, versteinern und schaffen damit eine künstliche Umwelt, die unsere Wahrnehmung und unser Verhalten bestimmt.“ Hier wird in den Begriffen der Geologie die Evolution beschrieben!
Michel und van Schaik haben noch einen dritten Autor an Bord geholt: Als Leiter der Landesarchäologie von Sachsen-Anhalt (Himmelsscheibe!) weiß Harald Meller zweifellos genau, wovon er berichtet, wenn er über stein- und bronzezeitliche Phasen der Geschichte schreibt. Mit Michel zusammen hat er erst vor zwei Jahren das interessante Buch über „Das Rätsel der Schamanin“ vorgelegt. Ihm und seinen beiden Kollegen ist es darum zu tun, die Gewalt, die es zweifellos auch schon in sehr frühen und entsprechend schriftlosen Zeiten gab, nicht klein- oder schönzureden, aber doch deutlich von späterer Kriegführung zu unterscheiden. So entsteht ein ziemlich differenziertes und farbiges Bild menschlicher Gewalt und der allmählichen Entstehung von Krieg.
Wir wollen nicht vergessen, wie schwierig es sein muss, die schriftlosen und also stummen Zeugen der Vergangenheit zu deuten. Sehr vieles ist notwendig Spekulation. In diesem Buch wird aber erfreulich vorsichtig argumentiert. Vor allem findet sich nicht der seit mehr als hundert Jahren so beliebte (Kurz-) Schluss von heutigen indigenen Völkern auf Frühzeiten der Menschheit. Denn es ist ja, wie von Kritikern dieser Methode immer wieder eingewandt wurde, sehr fragwürdig, steinzeitlichen Hochkulturen dasselbe Verhalten wie das von Urwaldstämmen oder isolierten Inselvölkern heutiger Zeit zuzusprechen.
Es gibt mehr als nur einen Grund dafür, dass Menschen Kriege führen. Zentral scheint den Autoren der lange Prozess, während dessen die Menschen sich niederließen, mit der Landwirtschaft begannen und erste Städte gründeten. Gleich eingangs ihres Buches kommen sie deshalb auf die Geschichte von Kain und Abel zu sprechen, in der viele Interpreten den Zusammenprall von nomadischer und sesshafter Kultur sehen. Leider wird über diese an Widersprüchen reiche Anekdote etwas hopplahopp hinweggegangen, also zum Beispiel ohne die berühmte Studie Hyam Maccobis über den „Heiligen Henker“ anzusprechen, in der diese Mordgeschichte in einer ganz anderen Weise gedeutet wird – nämlich mit Blick auf das Menschenopfer.
In der Epoche, als sich die Landwirtschaft allmählich durchsetzte, kam es zu einer Ausdifferenzierung und Hierarchisierung der Gesellschaft, die mehr und mehr zu Gewalt führte – zum Beispiel, weil in den steilen Hierarchien manche Alphatiere ganze Harems für sich reservierten, wogegen die weniger Glücklichen in der Einsamkeit verblieben. Viele Männer blieben deshalb unbeweibt – ob es ihnen etwas ausmachte, ohne Nachwuchs zu bleiben, wissen wir natürlich nicht. Aber wahrscheinlich hätten viele von ihnen ganz gerne eine Gefährtin besessen, ja vielleicht wäre das vielen sogar viel wichtiger gewesen als der Nachwuchs. Wie sprach doch der Herr, der die Seele eines Menschen offensichtlich besser kannte als heutige Darwinisten? „Es ist nicht gut das der Mensch allein sey / Jch wil jm ein Gehülffen machen / die vmb jn sey,“
Im Jargon der Evolutionsbiologen heißt es dagegen, die ungewollte Kinderlosigkeit sei eine „evolutionäre Sackgasse“. Haben die Autoren die Perspektive des britischen Hardcore-Darwinisten Dawkins („Das egoistische Gen“) so sehr verinnerlicht, dass sie, anders als der Schöpfer, elementare menschliche Regungen nicht mehr in Betracht ziehen? Solche Stellen meine ich, wenn ich das Gerede von der Evolution ärgerlich finde.
Es gibt eine Stelle, an der es besonders deutlich wird, wie fragwürdig es sein muss, mit evolutionären Argumenten zu arbeiten: „Der Krieg war die tödliche Selektionskraft – aber der kulturellen, nicht der biologischen Evolution. Die Auslese“, formulieren die Verfasser und versuchen damit, eine Brücke zwischen beiden Welten, der Natur und der Kultur, zu schlagen, „basierte auf Faktoren, welche die militärische Überlegenheit sicherstellten.“ Das klingt zunächst so einigermaßen plausibel, weil der Begriff der Auslese, obwohl er in beiden Sphären gänzlich Verschiedenes bedeuten muss, sich so schön als Brücke missbrauchen lässt. Aber in den beiden folgenden Sätzen widerlegen sich die Autoren selbst, denn erst führt die Kriegstüchtigkeit zu einem evolutionären Vorteil, dann forciert sie „ein ‚neoplastisches‘ Wachstum, wie es für Krebsgeschwüre typisch ist“. Ein Tumor als evolutionärer Vorteil?
Es ist nicht ganz grundlos umstritten, ob es überhaupt eine kulturelle Evolution gibt. Der inflationäre Gebrauch dieses Wortes – nicht nur von diesen Verfassern und nicht allein in diesem Buch – hat es schon fast unbrauchbar gemacht. Meint Evolution Auswicklung von bereits vorhandenen Anlagen (das wäre der ursprüngliche Sinn), meint dieses Wort eine fortschreitende Veränderung von Anlagen, die dank der natürlichen Auslese zu einer Verbesserung, vielleicht auch nur zu der Anpassung einer Art an eine bestimmte Situation oder Landschaft führt? Oder meint Evolution jede Form von Veränderung, vielleicht gar die Veränderung von Begriffen? Denn auch damit wird Evolution in Verbindung gebracht – wahrscheinlich soll dieses Wortgeklingel eine Anlehnung an eine allseits akzeptierte Theorie und damit eine reflektierte Wissenschaftlichkeit vortäuschen. Ganz gewiss ist es von Vorteil, dass jedem, der kritisch die Stirn runzelt, jetzt ein vernichtendes „Bibelfundamentalist“ entgegengeschmettert werden kann. Aber ich bin kein Bibelfundamentalist – Gott behüte! –, sondern erlaube mir nur ein paar kritische Anmerkungen.
Trotz dieser Einwände: Es scheint plausibel, dass sich die Gewalt zwischen Menschen wirklich so entwickelt hat, wie es in diesem Buch geschildert wird.
Harald Müller, Kai Michel, Carel van Schaik: Die Evolution der Gewalt. Warum wir Frieden wollen, aber Kriege führen. Eine Menschheitsgeschichte.
dtv 2024
368 Seiten
ISBN 978-3423284387
Weitere Informationen (dtv)
Carel van Schaik und Kai Michel: Das Tagebuch der Menschheit. Was die Bibel über unsere Evolution verrät
Rowohlt 2016
576 Seiten
ISBN 978-3499631337
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