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Foto: Sasin Tipsai

 

Wirklich, für mich war dieser Meister des Grauens ein Zeitgenosse, denn wie wäre es sonst möglich, dass man am Anfang der Romanverfilmungen mit Fuchsberger und Konsorten sein „Hier spricht Edgar Wallace“ hört?
In meiner Jugend hielt ich es für selbstverständlich, dass es der König des Kriminalromans höchstpersönlich war, der da sprach, aber in Wahrheit war er bereits seit vielen Jahren tot: Edgar Wallace (1875-1932), „The King of Thrillers“, versammelte sich bereits Anfang der 1930er Jahre zu seinen Ahnen und konnte also in den Sechzigern unmöglich anders als aus dem Jenseits zu uns sprechen.
Dass Wallace einer in jeder Hinsicht anderen Zeit als der unsrigen angehörte, kann man an einer ganz beiläufigen Bemerkung erkennen, mit der sich ihm und seinen Lesern ein Bösewicht als leibhaftiger Teufel offenbart. In den „Toten Augen von London“ erklärt nämlich ein durch und durch gewissenloser Mensch, dass für ihn „ein Mensch nichts weiter als irgendein anderes animalisches Leben“ sei, und der Police Inspector als die Verkörperung alles Guten kann angesichts dieser Bemerkung „kaum einen Schauder unterdrücken.“ Was hätten dieser Polizist und sein Erfinder wohl gesagt, wenn sie heutige Bücher über Moralphilosophie lesen würden?


Denn mit dem, was bei Wallace das Böse schlechthin von sich gibt, stimmen heute vielleicht nicht alle, aber doch viele überein, und niemand wird von einem Schauder überlaufen, wenn es „der Mensch und andere Tiere“ heißt. Schon seit langem sieht man keinen Wesensunterschied mehr zwischen Mensch und Tier, sondern der Mensch ist nur eine der Kreaturen neben anderen, und für viele wiegt die Tötung eines Tieres kaum weniger schwer als die eines Menschen. So gilt nicht mehr, was für die meisten bis vor fünfzehn, zwanzig Jahren selbstverständlich war: Der Mensch ist nicht herausgehoben aus den Lebewesen dieser Welt, ihm wird kein Sonderstatus zugestanden.

Es war der im amerikanischen Princeton lehrende australische Philosoph Peter Singer, der 1975 in seinem Buch „Animal Liberation“ den Ausdruck „Speziesismus“ prägte. Darunter verstand er die von ihm rigide bekämpfte Höherwertung des Menschen in einer sinistren Ideologie. Die Interessen und Ansprüche des Menschen, lehrt Singer, sollen nicht anders bewertet werden als diejenigen von Tieren. „Speziesismus“ ist so etwas Ähnliches wie Rassismus, schwieriger auszusprechen und zu buchstabieren, aber ebenso verächtlich. Tier wie Mensch seien schmerzempfindlich und besitzen eine Seele, und so müsse man ganz unbedingt auch Tieren das Recht zubilligen, sie nicht zu quälen. Soweit können die meisten folgen. Aber manche – so auch Singer selbst – gehen viel weiter, sehen nämlich Tier und Mensch gleichberechtigt nebeneinander und spielen gelegentlich sogar die Rechte von Tieren gegen Behinderte aus.

Für Singer und den Philosophen Peter Lohmar, mit dessen Buch sich diese Besprechung beschäftigt, ist der Ausdruck „Menschenwürde“ Ausdruck eines „Speziesismus“, der den Menschen unberechtigterweise heraushebt aus der Masse der Lebewesen. Es gibt keine Menschenwürde, sagt uns der Begriff „Speziesismus“, und eben das will Lohmar beweisen. Es ist ein falsches moralisches Bewusstsein, so die Kernthese des Buches, dass sich von der leeren und fragwürdigen Idee der Menschenwürde leiten lässt.

Das zweite große Thema des Buches ist der „Konservativismus“ als die Weigerung uneinsichtiger Menschen, ihre moralischen Grundsätze einer radikalen Prüfung zu unterwerfen. Nach Lohmar zielt das Ideal eines kritischen Philosophen dagegen darauf, nicht weniger als alles in Zweifel zu ziehen. Da fragt sich der kritische Leser, ob eventuell auch der kritische Philosoph Sätze kennt, die er lieber keiner Prüfung unterziehen möchte.

Aber ja, die kennt er wirklich! Menschenwürde als ethisches Grundprinzip sieht Lohmar als widersprüchlich an, weil sie eine Gruppe von Lebewesen privilegiert, die Bevorzugung einer Gruppe aber einem moralischen Wert widerspreche. Diesen Satz, an dem seine ganze Argumentation hängt, versucht er gar nicht erst zu begründen. Er hätte es aber tun sollen, denn seiner Prämisse widersprechen andere Philosophen entschieden. Nur einer der ganz Großen sei hier genannt, Max Scheler (1874 – 1928), der den folgenden Grundsatz aufgestellt hat: „Das in der Interessensphäre Nähere zu lieben ist wertvoller als das Ferne zu lieben – sofern der Träger dieser Liebe ein Lebewesen ist.“ Wir verurteilen selbst animalischen Kannibalismus aufgrund dieser Einsicht mit größter Schärfe, und überhaupt bestimmt dieser Satz unser ganzes Verhalten – auch und gerade gegenüber Tieren. Säugetiere aller Art würden wir niemals so gefühllos wie Insekten, Fische oder Krebse behandeln, weil wir uns ihnen näher fühlen.

Achim Lohmar BuchumschlagLohmar hält den Begriff der Menschenwürde teils für widersprüchlich, teils für leer und auf jeden Fall für gänzlich ungeeignet, das Fundament einer Ethik abzugeben. Mit Verve argumentiert er gegen einen ethischen Anthropozentrismus als den Ursprung eines wahnhaften Vertrauens in die Menschenwürde („Quelle einer fideistischen Illusion“ [Anm. d. Red.: Erkenntnislehre bei der sich Glaube und Vernunft ausschließen]), und mit, zugegeben, großem Scharfsinn insistiert der Autor auf den Widersprüchen seiner Gegner oder wirft ihnen vor, gänzlich leere Begriffe zu verwenden.

Parallel zu seiner Polemik gegen den Begriff der Menschenwürde ist Lohmar darum bemüht, den Begriff der Aufklärung beziehungsweise den der Unmündigkeit zu sezieren. Im Ergebnis führt er Unmündigkeit auf „kognitive Mängel“, vulgo Blödheit, zurück, hält es also für ganz und gar verkehrt, dass Kant von einem aufgeklärten Menschen den Mut fordert, sich „seines eigenen Verstandes“ zu bedienen. Kant denkt, dass der unmündige Mensch ausreichend Verstand besitzt, Lohmar denkt das nicht. Nach ihm mangelt es an Einsicht, weil das falsche Bewusstsein, vor allem aber der „aktive Konservativismus“, überhaupt nicht auf die Wahrheit zielt: „Falsches Bewusstsein manifestiert sich in pseudo-rationalem Denken, wobei sich pseudo-rationales Denken, weil es nicht wahrheitsorientiert ist, durch die Tendenz zu einem unverantwortlichen Umgang mit Evidenzen, d.h. durch epistemische Leichtfertigkeit auszeichnet.“

Ich versuche zu übersetzen: Man will es gar nicht wissen, sondern hat es sich in seiner fehlerhaften Argumentation gemütlich gemacht.

Eines der Lieblingsworte des Autors neben „epistemisch“ (= die Erkenntnis betreffend) ist „Präsumption“ (= begründete Vermutung). So versucht er zu zeigen, dass „es eine Präsumption für die Aufklärung, d.h. für das liberationistische (= befreiende) Projekt der Befreiung unseres moralischen Denkens von der Idee und der Ideologie der Menschenwürde gibt“, und spricht sich damit dafür aus, doch bitte schön ohne den Begriff der Menschenwürde auszukommen. Man dürfe diesen Begriff nicht verwenden, weil er nicht präzise bestimmt sei. Deshalb bekämpft Lohmar den von ihm „epistemisch“ genannten Nihilismus, der die Relevanz „epistemischer Werte“ bestreite, der also eventuell noch etwas anderes als die reine Logik einer Argumentation im Auge hat.

Mich stört an diesem Buch eigentlich alles. Nicht allein, dass ich der Philippika gegen die Menschenwürde nicht zustimmen kann. Nein, zusätzlich nerven völlig überflüssige Fremdwörter und die blasse Sprache, sodann langweilen die unzähligen Wiederholungen, die eine Argumentation, die für nicht mehr als zwanzig Seiten reicht, zu einem Buch von gut vierhundert Seiten aufblähen. Vor allem aber schränkt der Autor die Diskussion in einer sehr einseitigen Weise auf Logik und Wortanalyse ein. Eben dieses hindert ihn, sich mit einem Autor wie Scheler auseinanderzusetzen, der zwar den Begriff der Menschenwürde nicht gebraucht, wohl aber die Sache selbst kennt und der noch andere Zugangsweisen zu Begriffen kultiviert, als bloß die Bedeutung eines Wortes zu untersuchen. Allein, eine philosophische Tradition wie die Phänomenologie kommt Lohmar nicht einmal von weitem in den Blick. Auch ist sein Wüten gegen den Konservativismus kaum überzeugend.

Unter Konservativismus versteht er eine Geisteshaltung, die an einem Begriff auch dann festhält, wenn dessen Unbrauchbarkeit bereits bewiesen ist. Lohmar wirft also allen, die eine andere Position vertreten, mit diesem durch und durch polemischen Begriff vor, um die Unhaltbarkeit ihrer Argumentation zu wissen, aber wider besseres Wissen stur und uneinsichtig an ihr festzuhalten. Dabei akzeptiert er keine andere Begründung als eine rein logische, die er sie auf eine Untersuchung von Wörtern und ihrer Bedeutung reduziert. Aber wenn wir über unser Verhältnis zu Tieren nachdenken, sollten wir dann nicht die Ergebnisse von Biologie wie Psychologie zur Kenntnis nehmen? Auch könnte es nicht schaden, unsere Wahrnehmung zu beschreiben und unser Verhalten kritisch zu bewerten. Aber Lohmar zieht es wie viele andere Philosophen unserer Zeit vor, zugunsten der Präzision der Begriffe auf die Begegnung mit der Realität und damit auf eine vielschichtige, vielsträhnige Argumentation zu verzichten.

Vieles an uns Menschen ist wirklich animalisch, andere an uns ist sogar pflanzlichen Ursprungs, aber es ist unendlich vieles, das den Menschen von der Kreatur, das ihn also auch von dem intelligentesten Affen und dem schlauesten Hund unterscheidet. Große Philosophen wie Max Scheler oder Helmuth Plessner ist eben dieser Nachweis auch gelungen, aber Lohmar geht ja nicht auf sie ein.

Die Selbstkastration einer philosophischen Argumentation beruht auf der Prämisse, dass ein moralisch verantwortlich handelnder Mensch nichts weiter berücksichtigen müsse als die Gesetze der Grammatik. Lohmar sieht den moralischen Menschen nicht im Kontakt zu lebendigen Menschen, auch nicht in einer von Traditionen bestimmten Welt, sondern will wie in einem Labor alles einer Prüfung unterwerfen und von einem Nullzustand ausgehen, von einem Status, der keine überlieferte Moral kennt und akzeptiert.

In den letzten Passagen des Buches („Das Problem der Verteidigung epistemischer Quarantäne“) bastelt er sich Abziehbilder gegnerischer Positionen, im Grunde Schießbudenfiguren, die sich nicht ganz unerwartet in Grund und Boden diskutieren lassen. Zum Beispiel konstruiert er den „Konsequentialisten K.“ oder eine gewisse „M.“, die sich daran gewöhnt habe, „dass das Ethos der Menschenwürde eine wichtige soziale und politische Funktion hat“. Und denen zeigt er es so richtig, die macht er fertig, nachdem er sie so hingestellt hat, dass sie sich nicht mehr wehren können. Zitiert wird in diesen Passagen nicht, auch in den Personen können wir (kann ich…) niemanden wiederkennen, sondern es werden ganz abstrakt K. und M. angegriffen. Lohmar „rekonstruiert“ Argumente, in dem er sich in seinen eigenen Worten „eine möglichst blutleere Figur mit einem möglichst banalen Vorhaben“ ausdenkt. Er schreibt das wirklich!

Um den Konservativismus in Schutz zu nehmen, kann man ganz gut auf jemanden zurückgreifen, der ein Gesicht besitzt und einen Namen, auf den französischen Soziologen Emile Durkheim (1858 – 1917), der die Religionen gegen die Angriffe auf sie in Schutz nahm und von ihnen sagte, dass sie „soziale Notwendigkeiten und kollektive Interessen in symbolischer Form zum Ausdruck“ bringen: „Sie stellen die Beziehungen bildlich dar, welche die Gesellschaft mit den Individuen, aus denen sie zusammengesetzt ist, und mit den Dingen unterhält, die Teil ihrer Substanz sind. Und diese Beziehungen, die Interessen sind real.“ In diese Kategorie – auch wenn es keine religiöse Idee ist – gehört die Menschenwürde.

Man könnte noch zusätzlich auf Max Scheler zurückgreifen, der nicht so überheblich wie Lohmar auf den Konservativismus hinabschaute, sondern von der „relativ natürlichen Weltanschauung“ schrieb, zu der alles gehöre, „was generell […] als fraglos ‚gegeben‘ gilt“. Dazu zählte für ihn jeder Gegenstand, „der allgemein […] einer Rechtfertigung nicht bedürftig und fähig gehalten und empfunden wird.“ Eben das gilt auch für die Menschenwürde: Sie ist nicht auf eine Verteidigung angewiesen.

„Die Leute“, schreibt Lohmar über alle Andersdenkenden, „mögen es im Allgemeinen nicht, wenn man sie auf Irrtümer, Illusionen und andere kognitive Fehlleistungen hinweist. Sie fühlen sich bedrängt, geraten in schlechte Stimmung, haben das unangenehme Gefühl gekränkter Eitelkeit, werden ärgerlich usw.“ Ja, so geht es uns, wenn wir einem überlegenen Geist begegnen, und ich verstehe endlich, warum meine Laune während der Lektüre nicht die beste war. Es war gekränkte Eitelkeit! Es war die Einsicht in meine Unterlegenheit!


Achim Lohmar: Falsches moralisches Bewusstsein. Eine Kritik der Idee der Menschenwürde

Felix Meiner Verlag, Hamburg 2017
437 Seiten
ISBN: 978-3787331451

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