Film
Green Book- Eine besondere Freundschaft

Das schillernde Spiel mit Rollenklischees und Diskriminierungsmechanismen, mit Komik und Tragik ist riskant, Bruchlandungen oft vorprogrammiert, aber US-Regisseur Peter Farrelly gelingt der Balanceakt: Sein Roadmovie „Green Book” über die Rassentrennung im Süden Amerikas Anfang der Sechziger Jahre entwickelt sich zum verblüffenden Konstrukt zwischen Identitätskrise und Selbstfindung: lakonisch, klug, anrührend, süffisant ironisch, bodenständig witzig, scharfsinnig, dreist, dann wieder melancholisch oder gar sentimental, den permanent wechselnden Ton bestimmen die beiden Protagonisten.

Der Film, für fünf Oscars nominiert, basiert auf wahren Begebenheiten und ist vor allem ein Revival des genialen schwarzen Jazz-Pianisten Don Shirley (1927- 2013), seine Kompositionen spiegeln als Subtext die Konflikte jener Zeit.

 
Film
The Favorite

Auf absurde menschliche Abgründe versteht sich Yorgos Lanthimos wie kaum ein anderer. Dieses Mal entsagt der griechische Regisseur seinem surrealistisch distanzierten kühlen Stil, entführt uns stattdessen in einen betörenden wie klaustrophobischen barocken Kosmos der Dekadenz.
„The Favorite – Intrigen und Irrsinn” ist eine bitterböse brillante Satire über drei Frauen im Kampf um Macht und Gunst am britischen Hof Anfang des 18. Jahrhunderts. Wundervoll maliziös inszeniert, opulent, raffiniert der Spott wie der Dekor. Das Schloss wird zur Bühne, ein hochemotionales Schlachtfeld, hier sind Männer lediglich Mittel zum Zweck, sie spielen nur noch eine klägliche Nebenrolle. Belohnt wurde die bild- und wortgewaltige Groteske dafür mit zehn Oscar-Nominierungen.

 
Film
Capernaum – Stadt der Hoffnung

Beirut. Das Alter von Zain (Zain al Rafeea) wird auf zwölf Jahre geschätzt, genau weiß es keiner. Der schmächtige magere Junge sieht viel jünger aus, aber der Zorn, sein Zynismus ist der eines Erwachsenen. Das Kind illegaler syrischer Immigranten verbüßt eine fünfjährige Haftstrafe, doch in diesem Prozess steht Zain als Kläger vor Gericht, er verklagt seine Eltern, weil sie ihn auf die Welt gebracht haben.
Drei Jahre hat Nadine Labaki für „Capernaum – Stadt der Hoffnung” recherchiert. Die Dreharbeiten begannen kurz nach der Geburt ihrer Tochter Myroon und dauerten sechs Monate. Die libanesische Regisseurin löst meisterhaft die Grenze zwischen Fiktion und Realität auf, dahinter verbirgt sich eine ästhetisch virtuos inszenierte „Mad Max”- Allegorie voll rauer Poesie und fordernder Systemkritik. Erschütternd, herzzerreißend, fern jeder Sentimentalität.

 
Film
Shoplifters

„Shoplifters” ist Hirokazu Kore-edas radikalster Film, die Familie bleibt zentrales Thema seines Werks, in ihr spiegelt sich die Kälte einer gnadenlos Konsum- und Karriereorientieren Gesellschaft. Was verbindet Menschen eigentlich, fragt uns der japanische Regisseur: Geld, Gaunereien oder bedingungslose Zuneigung? Kann eine fremde Frau nicht vielleicht eine viel bessere Mutter sein als die leibliche?
Um den Protagonisten des Prekariats jenen ungeschliffenen Charme geben zu können zwischen Komik, Trauer, Optimismus, Stolz, Verrat und desperater Loyalität, weicht Kore-eda von seiner gewohnten formalen Strenge wie in „Nobody Knows” ab. Mit subtiler Finesse inszeniert er ästhetisch virtuos das berührende Porträt einer Schicksalsgemeinschaft als schillerndes Beziehungsgeflecht voller Abgründe, verborgener Leidenschaften und Tragik.

 
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Climax

Höchste tänzerische Disziplin explodiert unvermittelt in einem mitreißenden anarchistischen Rausch aus Begierde, Schmerz, Geltungssucht, Gewalt, Trance, schwindelerregenden Bewegungen. Gaspar Noés visueller Kosmos ist überwältigend schön und zutiefst verstörend.
Dieses Mal schwärmen die Kritiker von dem sonst als Enfant terrible gefürchteten Regisseur. Eine Sternstunde des französischen Kinos. Der gebürtige Argentinier reagiert eher befremdet über das Ausmaß solch euphorischen Lobes, nur wenige Zuschauer verließen in Cannes die Premiere, für den erfahrenen Meister der Provokation ein ungewohntes Phänomen, hat er an Biss verloren? Wahrlich nicht.

 
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The House That Jack Built

Der virtuose Provokateur Lars von Trier inszeniert sein suggestives düsteres Serienkiller-Porträt als boshaft-philosophisches Zwiegespräch zwischen Obszönität und Offenbarung. Dem Zuschauer stockt der Atem, „The House That Jack Built” katapultiert uns ins Zentrum raffiniert barbarischer Zerstörungswut, ein abenteuerlich danteskes Road-Movie.
Protagonist Jack (Matt Dillon) schwadroniert stolz auf dem Weg ins Jenseits über sein mörderisches Gesamtkunstwerk, rechtfertigt es mit zynischer Finesse. Dies ist nicht das blutig-kokette Grauen eines Horror-Films sondern die erbarmungslose wenn auch spielerische Konfrontation mit einer moralischen Apokalypse. Der Nationalsozialismus bleibt omnipräsent. Sieben Jahre war der dänische Kult-Regisseur in Cannes Persona non grata nach jener missglückten frivolen Sympathiekundgebung für Hitler auf der Pressekonferenz zu „Melancholia”. Von Trier versteht sich auf Rache.

 
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Film Cold War Der Breitengrad der Liebe

Paweł Pawlikowski hat das schwermütige, visuell atemberaubende Noir-Drama „Cold War” seinen Eltern gewidmet, deren stürmische On- und Off-Beziehung ihn zu dem Film inspirierte, und so gab er den Protagonisten ihre Namen, der Rest ist jedoch Fiktion.
Der polnische Regisseur und Oscarpreisträger greift nur einzelne Momente der Love-Story auf, dazwischen lässt er die Leinwand kurz dunkel werden, zwingt den Zuschauer die Lücken mit der eigenen Vorstellungskraft zu füllen. Es funktioniert phantastisch, grade dann, wenn wir uns irren. Die betörende Schwarz-Weiß-Ballade vor dem Hintergrund des Kalten Krieges ist eine Grenzüberschreitung, geographisch, musikalisch, politisch und existenziell. Die Missverständnisse, das Unausgesprochen dieser selbstzerstörerischen Liebe reflektiert die Musik der verschiedenen Stile, Folk, Jazz, Swing, Rock.

 
Film
Assassination Nation

„Assassination Nation” ist der perfekte Film für eine krasse Lady’s Night. Taugt der politische Anspruch als Message oder verbirgt sich dahinter nur eine feministisch aufgemotzte Pose?
US-Regisseur Sam Levinson blufft nicht, er inszeniert das semi-surreale Gesellschaftsporträt als verstörende Horror-Satire, ästhetisch inspiriert von Jean-Luc Godard und den japanischen Sukeban-Rachedramen der Siebziger Jahre.

 
Film
The Guilty

Regisseur Gustav Möller inszeniert seinen klaustrophobischen Thriller „The Guilty” als rätselhaftes fesselndes Kammerspiel, ein Meisterwerk der Suspense zwischen Schuld und Sühne, unberechenbar bis zum letzten Moment.
Wo sonst der Zuschauer auf der Kinoleinwand mit Bildern überschwemmt, fast erdrückt wird, erwartet ihn hier nur eine triste Notrufzentrale der Kopenhagener Polizei, bläuliche Computerbildschirme, Fernsprechanlagen mit kleinen flimmernden roten Lichtern. Jasper Spannings Kamera konzentriert sich auf das Gesicht des Protagonisten, der eigentliche Schauplatz aber ist unsere Phantasie.

 
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Dogman

Mit seinem hinreißenden Kleingangster-Epos „Dogman” kreiert Regisseur Matteo Garrone einen düster-poetischen Parallelkosmos und den vielleicht berührendsten Protagonisten seit Ende des italienischen Neorealismus. Der ästhetisch virtuose Film ist in der Wirklichkeit verankert, aber fühlt sich an wie ein tragischer dystopischer Western.
Jenes verzweifelt demütige und fast bis zuletzt noch ridikül hoffnungsvolle Lächeln des schmächtigen Hundefriseurs (Marcello Fonte) ist herzzerreißend und zugleich Warnsignal an eine Kultur, wo nur das Recht des Stärkeren zählt. Gewalt und Ohnmacht bleiben Garrones zentrales Thema wie in „Gomorra” (2008), doch nie zuvor verbarg sich dahinter so viel Zärtlichkeit, so viel desperate Sehnsucht nach Nähe und Gemeinschaft.

 
Film
Werk ohne Autor

Eine emotionale Achterbahnfahrt durch drei Jahrzehnte deutscher Geschichte nennt Florian Henckel von Donnersmarck seinen neuen Film. Er inszeniert „Werk ohne Autor” als suggestives grandios konstruiertes Puzzle zwischen Wirklichkeit und Fiktion, Ost und West.
Atemberaubend jener Mix aus Künstlerporträt, Lovestory, Neo-Noir und verstörendem Euthanasiedrama. Das opulent wagemutige Polit-Epos in der Tradition von Orson Welles’ „Citizen Kane” macht die Malerei zum Schlachtfeld und Schauplatz wechselnder Ideologien.
Manche deutschen Kritiker tun sich offensichtlich schwer mit dem Oeuvre: nach ersten positiven Rezensionen und Standing Ovations bei der Premiere begann plötzlich in Venedig auf der Biennale del Cinema ein feuilletonistischer Großangriff der Häme. Welche Ironie, zentrales Thema bei Donnersmarck ist die Freiheit der Kunst, und grade die wird ihm, dem Regisseur, nicht zugestanden.

 
Film
Ava

„Ava” ist eine Studie weiblicher Sexualität aus der Perspektive einer störrischen Dreizehnjährigen, der Arzt hat ihr grade eröffnet, dass sie in wenigen Monaten erblinden wird. Das Drehbuch schrieb die französische Regisseurin Léa Mysius zusammen mit ihrem Kameramann Paul Guihaume.

Der leicht surrealistische Film mit seinen magischen wunderschönen Bildern entwickelt sich für den Zuschauer zu einem suggestiven visuellen Abenteuer zwischen Sehnsüchten, Bedrohung und Albträumen: Sinnlich, verwegen, von trotziger Eindringlichkeit, unberechenbar wie die Protagonistin selbst.

 
Film
Mackie Messer Brechts Dreigroschenfilm

In „Mackie Messer – Brechts Dreigroschenfilm” schildert Regisseur Joachim A. Lang die Querelen um jenes nie gedrehte Leinwand-Epos, während er es zugleich vor unseren Augen entstehen lässt. Der verblüffende Mix aus Realität und Fiktion ist ein gewagtes Unterfangen, aber das Resultat hinreißend: Überbordend, frech, hoch aktuell und musikalisch fulminant.
Da jongliert der 30jährige Brecht (Lars Eidinger) in den Kulissen der blau schillernden Halb- und Unterwelt Londons mit den Grundsätzen des epischen Theaters, zerstört gekonnt wie amüsant jede Illusion: Ein Mond wäre romantisch, also müssen zwei am nächtlichen Himmel über Soho auftauchen. „Nur das Künstliche, die Kunst gibt die Sicht auf die Wirklichkeit frei,” so lautet des Meisters Credo.

 
Film
Glücklich wie Lazzaro

In ihrem neuem Film „Glücklich wie Lazzaro” erzählt Alice Rohrwacher vom Ende der italienischen Agrargesellschaft, von Ausbeutung, Dekadenz, dem sozialen Abseits anonymer Industriestädte und der fragilen Freundschaft zweier Außenseiter.
Musik und Bilder verschmelzen zur seltsam betörenden, rätselhaften Wehmutswelt, sie wird sich einnisten in der Erinnerung des Zuschauers wie Federico Fellinis „La Strada” aus dem Jahre 1954. Es ist die Geschichte eines unscheinbaren Heiligen, uns verblüfft seine Duldsamkeit, er, der grenzenlos Bescheidene, beansprucht nichts für sich, ihm genügt es, das Glück der Anderen zu beobachten. Das Fantastische setzt die Zeit außer Kraft, wird zum poetischen Bindeglied zwischen den Epochen.

 

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