Film

„LOLA“ erzählt von den britischen Boheme-Erlebnissen zweier Schwestern während des letzten Weltkriegs und avanciert schon in den ersten Minuten zum Juwel des Found-Footage Genres, es versteht uns zu blenden, auf falsche Fährten zu locken, perfektioniert die Illusion als gefährliche Waffe.

 

Wir genießen den verliebten Blick in den historischen Abgrund. Genial wie der irische Regisseur Andrew Legge in seinem selbstironischen Zeitreise-Thriller mit der Wahrheit und den Jahrzehnten spielt, mit Filmformen und Musik als Teil jenes Erzählprozesses. 

 

Sussex, 1941. Thomasina (Emma Appleton) und Martha Hanbury (Stefanie Martini) haben schon früh ihre Eltern verloren, leben seitdem allein auf dem alten verfallenen Landsitz der Familie. Thom und Mars, wie sie sich nennen, sind unzertrennlich, kreieren ihren eigenen idyllisch wilden Kosmos fern bürgerlicher Konventionen, von denen schon die Eltern wenig gehalten hatten. Immer griffbereit ihre Bolex-Kamera, die Schwestern filmen einander ständig, ob beim Tanzen (getanzt wird viel) oder in der Badewanne als schaumbedeckte Amazone oder hoch zu Ross beim Durchqueren der dunklen Zimmerfluchten. Es ist, als glaubten die beiden nur jene beweglichen Bilder könnten verhindern, dass auch sie plötzlich für immer verschwunden sind. Und so trotzen sie dem Tod mit ihrem Lachen, heben ihr Cocktailglas auf die Freiheit. Es fühlt sich an, als schauten sie uns in die Augen, Beifall heischend, das Lachen, ihr erfrischender durchtriebener Humor sind unwiderstehlich. 

 

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Die zwei quirligen Protagonistinnen bilden eine kleine verschworene Gemeinschaft und könnten doch nicht konträrer sein: Thom grüblerisch, eine eher introvertierte Visionärin, Mars dagegen impulsiv und romantisch, viel emotionaler als ihre Schwester, die sich scheinbar nur von der Logik leiten lässt. Thom ist die geborene Erfinderin, sie konstruiert aus Elektroprozessoren jene magische Apparatur, die Fernseh-, Radio- und Funkwellen aus der Zukunft abfangen kann. LOLA, so benannt nach der verstorbenen Mutter, eröffnet den eigenwilligen jungen Frauen völlig neue Welten wie die Popkultur der Sechziger Jahre. Die Schwestern begeistern sich für David Bowie und seine Songs noch bevor er geboren wird (8. Januar 1949), sind versessen auf Stanley-Kubrick-Filme, lange Zeit, bevor sie gedreht wurden. Bedenkenlos übernehmen sie den Jargon jener Epoche wie das unvermeidliche „cool", überraschen ihre Zeitgenossen mit Statements zur amerikanischen Bürgerrechtsbewegung und ihrem Wissen von der Mondlandung. Vor dem erstaunten Bar-Publikum der 40er-Jahre präsentiert Mars eine hinreißende Version des Hits der The Kinks „You Really Got Me“. Die Schwestern platzieren todsichere Pferdewetten und „leben“, so Regisseur Legge, „ihren inneren Punk aus, bevor die Bewegung überhaupt erfunden wird“. 

 

Bisher war alles nur ein höllischer Spaß, das Setzen der Wetten bleibt ohne Folgen nicht aber das Eingreifen in den Verlauf des Zweiten Weltkriegs. 1941 war ein Sieg Hitlers durchaus noch möglich. Mit abgefangen Militärinformationen über die Luftangriffe der Deutschen Wehrmacht rettet LOLA anfangs Tausenden von Briten das Leben. Während Mars sich in einen britischen Offizier verliebt, lässt sich Thom von der Presse als Heldin feiern, sie giert nach Macht, will den Verlauf der Geschichte verändern. Ihre Schwester erkennt die Gefahr der Zeitmaschine. Zu spät. David Bowie ist verschwunden, die Schwestern entzweit, im Stechschritt marschieren Nazis durch London. LOLA ist nicht unfehlbar, was sie zeigte, war keine Wahrheit, sondern Fiktion, die sich nun ihrerseits in die Zeit einschreibt und eine ganz andere Welt zu begründen droht. Statt „Ground Control to Major Tom“ erklingen nun ein faschistischer Pop Song über den Sound marschierender Stiefel. In den Nachrichten spricht man von arglistigen Falschinformationen, die Heldin wird zur Verräterin degradiert. 

 

„LOLA“ ist ein durch seinen Einfallsreichtum atemberaubendes Sci-Fi-Doku-Drama mit grandiosem Finale, die eigentliche Stärke aber liegt in dem unberechenbaren Rhythmus der Erzählung und der fast beängstigend perfekten Authentizität von Vergangenheit und Emotion. „Ich wollte, dass der Film so nah wie möglich an ein Artefakt aus den 1940er Jahren herankommt,“ erklärt Legge. "Die Idee ist, dass der Film von einer der Hauptfiguren, nämlich Martha gedreht wurde.“ Es ist ihr letzter verzweifelter Appell an die Schwester, umzukehren: „Thom Du bist noch genialer als Dir bewusst ist, aber auch gefährlicher“.  

 

Der in Dublin lebende Regisseur kreierte mehrere preisgekrönte Kurzfilme wie „The Unusual Invention of Henry Cavendish" (2005), eine stumme Liebesgeschichte, teilweise mit einer 16 mm Handkamera gedreht. In Dublin, New York und im Barbican Center in London wurde der Film mit Live-Begleitung eines Pianisten vorgeführt. „The Girl with the Mechanical Maiden“ (2012) wurde in Dublins National Concert Hall und dem New Yorker Lincoln Center gezeigt mit einem 25-köpfigen Orchester und einem Team aus Synchron-Sprechern in Laborkitteln. Kreative Grundlage für „LOLA“ ist „The Chronoscope“ (2009), ein fiktiver Dokumentarfilm über die irische Wissenschaftlerin Charlotte Koppel, sie erfand in den 1930er Jahren eine Maschine, die in die Vergangenheit blicken konnte. 

 

Die Protagonistinnen "sind nicht wirklich Frauen aus den 1940er Jahren, leben aber in dieser Zeit“, so der Autorenfilmer „Sie schufen Musik, die von Dingen inspiriert war, die sie hörten. Die Musik der Schwestern sollte sich irgendwie zeitgenössisch anfühlen, aber mit einem futuristischen Twist, weil sie mit dem Sound der 50er, 60er und 70er Jahre in Berührung gekommen sind. Und weil sie Erfinderinnen sind, konnten wir Synthesizer-Sounds kreieren, die angeblich von dem von selbstgebauten Synthesizer der Schwestern stammen. „Dieser Synthesizer," erklärt Legge „wurde von einem deutschen elektronischen Instrument aus dem Jahr 1929 namens Truatonium inspiriert. Und schließlich hatten wir die Gelegenheit, kultige 60er Jahre-Songs wie „You Really Got Me“ mit einer Swing-Band aus dem 1940ern neu zu arrangieren." Die Musik für „Lola“ schrieb und realisierte Neil Hannon, Gründer und Frontman der Chamber-Pop-Gruppe Divine Comedy. "Neil durfte wirklich spielerisch sein. Wir mussten die Lieder von Reginald Watson komponieren, einem faschistischen Popstar, der in einer alternativen Realität auftaucht, die von den Schwestern versehentlich geschaffen wurde. Diese Musik sollte ein Gefühl vom Pop der 70er und 80er Jahre vermitteln, aber mit einem gewissen Twist."

 

Found-Footage-Format ist eine besondere Herausforderung. „Es bedeutete, dass ich alle Aufnahmen arrangieren musste“, so der Autorenfilmer. Es war auch komplizierter, intime Szene zu schreiben oder von Marthas Sichtweise abzurücken. Das einzige Mal, dass wir uns von Marthas Perspektive wegbewegen, ist bei der Verwendung von Wochenschauen, die sie gesammelt und zu ihrem Dokumentarfilm zusammengeschnitten hat.“ Mit seinen Protagonistinnen verbindet den Regisseur die Liebe für Film, verrückte Technologien und unbegrenzte Fantasie. Eine Szene aus frühen Kindertagen der Schwestern zeigt übrigens seine kleinen Töchter. Gedreht wurde auf 16 mm im Format 4:3 und einem fast geisterhaftem Schwarz/Weiß. Vintage Objektive garantieren jene historischen Authentizität, nur für die alternativen Welten musste das Archivmaterial digital bearbeitet werden. Die Aufnahmen wirken körnig, zerkratzt, angesengt, die Emulsion aufgequollen. Mars’ Stimme knistert, knackt, wenn sie ihre Schwester anfleht, mit dem Wahnsinn aufzuhören. 

 

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LOLA 

Regie: Andrew Legge 

Drehbuch: Andrew Legge, Angeli Macfarlane

Darsteller: Stefanie Martini, Emma Appleton, David Bowie

Produktionsland: 

Länge:  78 Minuten

Kinostart: 28. Dezember 2024

Verleih: Neue Visionen Filmverleih GmbH

 

Fotos, Pressematerial & Trailer: Neue Visionen Filmverleih GmbH

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