Film

Altmeister Marco Bellocchio inszeniert seinen Film „Die Bologna-Entführung – Geraubt im Namen des Papstes“ ästhetisch virtuos als historisches True-Crime-Drama mit der leidenschaftlichen Vehemenz eines Charles-Dickens-Epos'. 

 

In jener ungewohnt fast wuchtigen Opulenz weicht „Rapito“ – so der Originaltitel“ – von dem uns geläufigen Stil des 84-jährigen italienischen Regisseurs ab, und doch entdecken wir zwischen Realismus, Fiktion und surrealen Albträumen immer wieder Querverbindungen zu den früheren Werken von ihm. Ob Mafia, Rote Brigaden, Politik oder Kirche, der Protagonist steht im Zwiespalt zwischen zwei Welten, wem schuldet er seine Loyalität? Die Dialektik der Macht entscheidet über das Schicksal.

 

Bologna 1858. Im Auftrag von Papst Pius IX. dringen nachts Uniformierte in das Haus der Familie Mortara im jüdischen Viertel Bolognas ein, sie fordern die Herausgabe des siebenjährigen Sohnes Edgardo (überragend: Enea Sala). Als Säugling wurde der Junge heimlich von einem katholischen Dienstmädchen getauft und ist nach dem Selbstverständnis der Kirche ein Christ. In solchen Fällen galt es damals als unumstößliche Gesetz, das Kind musste eine katholische Erziehung erhalten. Die Eltern flehen, betteln, ihnen wird Aufschub bis zum nächsten Morgen gewährt. Ein letztes Mal spricht Marianna, die Mutter (Barbara Ronchi) mit dem Jungen das „Schma Israel“ (שְׁמַע יִשְׂרָאֵל – šma‘ yiśra’el, deutsch ‚Höre, Israel!’), eines der wichtigsten hebräischen Gebete. 

 

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Am nächsten Tag in aller Frühe erscheinen die Uniformierten. Momolo, der Vater (Fausto Russo Alesi) steht am offenen Fenster, Edgardo im Arm. Unten auf der Straßen drängen sich Freunde, Nachbarn, Verwandte, das Weinen, die Verzweiflung zerreißt einem das Herz. Und doch wird „Rapito“ nie sentimental, im Gegenteil, wahrt eher emotionale Distanz, um das Ausmaß von Schmerz und Gewalt in jedem Moment voll erfassen zu können. Der Vater zögert, spielt mit dem Gedanken, den Sohn aus dem Fenster zu werfen, hinein in die Arme der Menschenmenge. Von kirchlicher Seite sichert man den Eltern zu, sie würden Edgardo bald besuchen dürfen, es ist die erste von unzähligen Lügen. Aus dem weinenden Kind, das eben noch versuchte, sich unter dem Rock der Mutter zu verstecken, sich an den Vater klammert, wird auf der Flussfahrt Richtung Rom ein erschreckend ruhiger fast erwachsen wirkender Junge, der kühl die angebotenen Süßigkeit ablehnt. Er ist allein, völlig auf sich gestellt. Er gibt sich keine Blöße den Geistlichen gegenüber, von nun an dreht sich der Tagesablauf nur um die fremde Religion, ihre Gebote, Regeln und Riten. Er folgt dem Ratschlag eines Mitschülers, sich anzupassen, nur bei Gehorsam und guten Leistungen dürfe man die Eltern sehen. Was Edgardo fühlt, seine innere Zerrissenheit, wir können sie nur erahnen. Die winzige Mesusa, die ihm seine Mutter in jener Nacht in die Hand drückte, bleibt unentdeckt genau wie die heimlich geflüsterten Gebete nachts unter der Bettdecke. „Schma Israel“, einzige Verbindung zu seiner Vergangenheit, den Eltern und Geschwistern, einem Glauben, einer Kultur, die seinen Alltag, sein Denken, seine moralischen Werte bisher bestimmt hatte. 

 

Wir nehmen den für ihn ungewohnten überwältigenden architektonischen Prunk der Kirchen und Palazzi mit seinen Augen wahr, erleben die Konfrontation mit Katechismus und Neuem Testament aus der Perspektive eines Siebenjährigen. Schritt für Schritt entdeckt er eine streng reglementierte irgendwo aber auch abenteuerlich sagenumwobene Welt, er darf sich bewähren, wird angespornt, gelobt, glaubt, was die Priester ihm als alleingültige Wahrheit vermitteln, fühlt sich schuldig, waren es doch Juden, die den Sohn Gottes ans Kreuz nagelten. Das riesige Kreuz nahe dem Altar manifestiert seinen eigenen Schmerz, den Bruch zwischen Christen- und Judentum. Im Traum schleicht er sich in die Kirche, entfernt die Nägel von den Füßen und Händen der Statue, Jesus steigt herab, kehrt zurück ins Leben. Und darf er, Edgardo, nun wieder heim? Es bleibt ein Traum.

 

In Bologna kämpfen die Eltern weiter verzweifelt um die Rückkehr des Sohnes. Der Fall macht international Schlagzeilen, sorgt für Aufsehen und Empörung. Die Regierungen Frankreichs, Großbritanniens und Englands setzten sich beim Vatikan für die Mortaras ein. Vergeblich. Die Macht des Kirchenstaats beginnt zwar zu schwinden, fast ist es, als würde der Papst ein Exempel statuieren wollen, es schadet seinem Ansehen immens. Auch unter den geistlichen Ratgebern regt sich Unmut über das ostentative Machtspiel und Sorge, es sich mit ihren einflussreichen Kreditgebern, den Rothschilds zu verderben. In Satiren mokieren sich Journalisten und Zeichner über Pius IX. Mit genussvoller Ironie greift Marco Bellocchio diese Karikaturen auf, inszeniert den Albtraum des machthungrigen paranoiden Papstes (Paolo Pierobon), der um den Verlust seiner Vorhaut fürchtet. 

 

Bellocchio („I pugni in tasca“,1965, Il traditore, 2019) bezeichnet sich in Interviews als „nicht gläubig“, aber keinesfalls als Atheist, denn dem Begriff Atheismus wohne immer etwas Kämpferisches inne, eine gewisse Feindseligkeit. Er betont, dass er in der römisch-katholischen Kirche einer Haltung begegnet sei, die zum Dialog bereit war:  „Ich als Nichtgläubiger wurde nicht als Gegner gesehen, sondern es wurde versucht, einen Austausch, eine gemeinsame Basis herzustellen. Diese Haltung ist schon vor einigen Jahrzehnten entstanden, sie begann mit Johannes XXIII. und wurde von Paul VI. fortgeführt. Und der jetzige Papst stellt die politische Strategie der katholischen Kirche ganz auf die Basis des Dialogs… Wir leben in einer Welt, die so kurz vor der Katastrophe steht, dass wir alle gemeinsam versuchen müssen, diese Katastrophe abzuwenden. Der Kampf gegen die Armut ist ein Thema, über das alle einig sind. Das Gleiche gilt für die Klimakatastrophe, für die Kriege, ganz allgemein für die Nächstenliebe… Papst Franziskus liegt es vollkommen fern für die Bekehrung Andersgläubiger zu kämpfen“. 

 

Dem öffentlichen Druck gab Papst Pius IX nie nach. „Non possumus“ lautete seine kategorische Antwort. Er schenkt Edgardo besondere Aufmerksamkeit.  Und der zeigt sich nach außen hin als vorbildlicher Konvertit und Schüler, intelligent, wissbegierig. Der Glaube scheint für ihn bald schon eine unwiderstehliche betörende Verlockung. Einer der Jungen im Katechumenenhaus liegt schwer erkrankt danieder, er bittet Edgardo für seine Genesung zu beten und der nimmt diese Aufgabe ernst, ist unendlich enttäuscht, als der Schwerkranke, wie zu erwarten war, stirbt. Hat er versagt, nicht genug gebetet? Er hat die neue Religion schon verinnerlicht.

 

Ein Tableau der Bigotterie, befremdend, abstoßend, die Szene, in der Pius IX den Jungen im Taufkleid auf den Schoß nimmt. Grandios verkörpert Enea Sala die widersprüchlichen Gefühle, das Doppelleben, die Angst, die Überreste von Sehnsucht nach dem unbeschwerten Zusammensein mit den Geschwistern, alles nur angedeutet. Aber aus Anpassung wird Selbstverständlichkeit, beim Versteckspiel mit den Mitschülern in den Gärten des Vatikans, schlüpft er unter die Soutane von Papst Pius. Der andere Junge entdeckt die kleinen Stiefel neben den großen Schuhen des Kirchenoberhaupts. Er lässt sich nichts anmerken, gibt vor, Edgardo nicht zu finden. Die kindliche Geste des Versteckens unter dem Rock, Privileg einer Mutter, ist hier von grausam toxischer Intimität. Den Eltern werden ein, zwei Besuche gewährt. Mit Schrecken registrieren sie die Verwandlung des Jungen, das goldene Kreuz um seinen Hals, nur ein Glücksbringer wehrt der Sohn ab, er plappert nach, was man ihm sagt, sich nie bewusst der Symbolik und Tragweite seiner Gesten und Worte. Er ist ein Kind. Seine Identität löst sich auf. Nur der Mutter gelingt es, ihn für einen Augenblick aus seiner Erstarrung zu reißen. 

 

Bellocchio, seit 60 Jahren Chronist italienischer Geschichte, illustriert, wie Entführungen einen Menschen verwandeln, sich die Betreffenden neu entdecken, neu definieren. So geschehen in „Esterno Notte“ (2022). Es ist mehr als ein simples Stockholm-Syndrom. Herauskatapultiert aus dem privaten und politischen Kontext, löst sich die Vergangenheit auf, gleich ob Manipulation oder Infiltration, es ist als würde derjenige völlig neu programmiert. Auch wenn Edgardo (nun gespielt von Leonardo Maltese) sich noch einmal aufbäumt, fast wagt, den Papst zu Fall zu bringen, sich danach aber bestraft und den Boden ableckt in einer Geste hündischer Ergebenheit. „Er selbst“- so der Regisseur- "übernimmt die Verantwortung für das, was geschehen ist und weist sie niemals dem Papst zu. Im Gegenteil, Mortara hat den Papst immer verteidigt und seine Menschlichkeit, seine Großzügigkeit und Großherzigkeit hervorgehoben. Er betrachtete den Papst fast als einen zweiten Vater.“ Als er mit 21 Jahren zum Priester geweiht wurde, ließ er sich Pius Edgardo nennen.

 

Der Kirchenstaat zerfällt, noch einmal begehrt Mortara kurz auf, als wutentbrannte Königstreue den Sarg des verhassten Papstes in den Tiber werfen wollen, schließt er sich dem Mob an. Immer wieder brechen längst verdrängt Emotionen hervor. Heimlich versucht Edgardo die Mutter auf ihrem Sterbebett zu taufen, sie wehrt sich. Mit diesem überbordenden historischen Glaubens-Drama ist Bellocchio ein Meisterwerk gelungen.

 

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Die Bologna-Entführung - Geraubt im Namen des Papstes

Originaltitel: Rapito

Regie: Marco Bellocchio

Drehbuch: Marco Bellocchio, Susanna Nicchiarelli 

Darsteller: Paolo Pierobon, Barbara Ronchi, Fausto Russo Alesi, Enea Sala, Leonardo Maltese, Alessandro Fiorucci, Filippo Time

Produktionsland: Italien, Frankreich, Deutschland, 2023

Länge: 134 Minuten

Kinostart: 16. November 2023 

Verleih: Pandora Film Verleih 

 

Fotos, Pressematerial & Trailer: © Pandora Film Verleih 

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