Film & Kino aktuell
- Geschrieben von Anna Grillet -

US-Regisseur Robert Zemeckis durchbricht seit Jahrzehnten immer wieder gezielt die Grenzen zwischen den Genres, zwischen Spielfilm, Animation und Cartoon, revolutionierte so behutsam den Mainstream. Mit „Forrest Gump” kreierte er einen neuen Heldentypus fern protzender Supermann-Qualitäten, mit „Zurück in die Zukunft” setzte er die Zeit außer Kraft.
Der Oscar-Preisträger lehrte uns Macht und Tücken der Fantasie. „Willkommen in Marwen” ist eine Suche nach Identität, signalisiert das Ende traditioneller Geschlechterrollen. Hier marschieren kämpferische Barbie-Puppen im Stechschritt zu den Klängen von „Addicted to Love”, greifen zu den Gewehren, um ihren Captain gegen seine Nazi-Verfolger zu schützen. Der Film basiert auf wahren Begebenheiten, schildert, wie der schwer traumatisierte Mark Hogancamp (Steve Carell) nach einer fast tödlichen Prügelattacke, sich eine imaginäre Welt als Refugium schafft: Kunst als Form des Überlebens.
- Geschrieben von Anna Grillet -

Die Filme von Steven Spielberg und Robert Zemeckis waren unverzichtbarer Teil seiner Kindheit. Jene Blockbuster setzte sich Alexis Michalik später als Maxime für seine Theaterinszenierungen: Klar, virtuos, populär, intelligent ohne intellektuelle Spitzfindigkeiten aber mit einem unverwechselbarem Rhythmus. „Ich will, dass es swingt,” sagt der 36jährige Regisseur und Autor, sein Publikum in Frankreich ist begeistert von ihm.
Michaliks Kino-Debüt „Vorhang auf für Cyrano” schildert die turbulente Entstehungsgeschichte der romantischen Tragikomödie „Cyrano de Bergerac” über den heroischen Poeten mit der riesigen Nase. Fiktion und Reflexion der Wirklichkeit verschmelzen ähnlich wie in John Maddens „Shakespeare in Love”, werden zu einer hinreißenden Hommage an die Welt der Bühne.
- Geschrieben von Anna Grillet -

Woher die innere Kraft nehmen zum Widerstand? Wie sich wehren als Schwarzer gegen die täglichen Demütigungen des Rassismus? Der afroamerikanische Autor James Baldwin war Ikone der Bürgerrechtsbewegung und Gay Community. In einer Welt von Gewalt proklamierte er Liebe als Akt der Rebellion.
Sein 1974 erschienener Roman „If Beale Street Could Talk” galt lange als unverfilmbar. Nun hat „Moonlight”-Regisseur Barry Jenkins jene Chronik juristischer Willkür für die Leinwand adaptiert. Entstanden ist eine schwermütige suggestive Lovestory von unglaublich betörender, schmerzhafter Schönheit. Wahrlich ein Meisterwerk.
- Geschrieben von Anna Grillet -

„Der Goldene Handschuh”, jenes Hybrid aus Charakterstudie und Horrorfilm, polarisiert Kritiker wie Zuschauer: Regisseur Fatih Akin inszeniert wagemutig Heinz Strunks gleichnamigen Bestsellerroman als Plädoyer für den Voyeurismus, gibt Ekel und Würde eine neue tiefere Bedeutung.
Das klaustrophobische Kammerspiel über den Serienmörder Fritz Honka (grandios Jonas Dassler) entwickelt sich in seiner Radikalität zum ästhetisch atemberaubenden ungeschönten Gesellschaftspanorama der 70er Jahre, deutlich spürbar der Einfluss von Charles Bukowski und Rainer Werner Fassbinder.
- Geschrieben von Anna Grillet -

Er war Schriftsteller, Kampfflieger für die Luftwaffe der France libre, Generalkonsul in Los Angeles, Filmregisseur und Ehemann von Jean Seberg: Romain Gary (1914–1980). Mit „Frühes Versprechen” verwandelt Eric Barbier den gleichnamigen autobiographischen Roman des genialen Autors und zweifachen Prix-Goncourt-Trägers in eine schillernde bildgewaltige manchmal fast groteske Tragikkomödie.
Das opulente Leinwand-Epos ist zugleich zornige Anklage wie auch verzweifelte Liebeserklärung an jene wilde, verrückte Mutter, Nina Owczinski, die von ihrem achtjährigen Sohn unerbittlich zukünftige Heldentaten einfordert, Künstlerruhm und politische Erfolge. Die Welt soll ihrem Jungen zu Füßen liegen, Nina schreit, schmeichelt, beschwört, treibt ihn an, erstickt jede Freiheit im Keim. Eine Traumrolle und Herausforderung für Charlotte Gainsbourg.
- Geschrieben von Anna Grillet -

Das schillernde Spiel mit Rollenklischees und Diskriminierungsmechanismen, mit Komik und Tragik ist riskant, Bruchlandungen oft vorprogrammiert, aber US-Regisseur Peter Farrelly gelingt der Balanceakt: Sein Roadmovie „Green Book” über die Rassentrennung im Süden Amerikas Anfang der Sechziger Jahre entwickelt sich zum verblüffenden Konstrukt zwischen Identitätskrise und Selbstfindung: lakonisch, klug, anrührend, süffisant ironisch, bodenständig witzig, scharfsinnig, dreist, dann wieder melancholisch oder gar sentimental, den permanent wechselnden Ton bestimmen die beiden Protagonisten.
Der Film, für fünf Oscars nominiert, basiert auf wahren Begebenheiten und ist vor allem ein Revival des genialen schwarzen Jazz-Pianisten Don Shirley (1927- 2013), seine Kompositionen spiegeln als Subtext die Konflikte jener Zeit.
- Geschrieben von Anna Grillet -

Auf absurde menschliche Abgründe versteht sich Yorgos Lanthimos wie kaum ein anderer. Dieses Mal entsagt der griechische Regisseur seinem surrealistisch distanzierten kühlen Stil, entführt uns stattdessen in einen betörenden wie klaustrophobischen barocken Kosmos der Dekadenz.
„The Favorite – Intrigen und Irrsinn” ist eine bitterböse brillante Satire über drei Frauen im Kampf um Macht und Gunst am britischen Hof Anfang des 18. Jahrhunderts. Wundervoll maliziös inszeniert, opulent, raffiniert der Spott wie der Dekor. Das Schloss wird zur Bühne, ein hochemotionales Schlachtfeld, hier sind Männer lediglich Mittel zum Zweck, sie spielen nur noch eine klägliche Nebenrolle. Belohnt wurde die bild- und wortgewaltige Groteske dafür mit zehn Oscar-Nominierungen.
- Geschrieben von Anna Grillet -

Beirut. Das Alter von Zain (Zain al Rafeea) wird auf zwölf Jahre geschätzt, genau weiß es keiner. Der schmächtige magere Junge sieht viel jünger aus, aber der Zorn, sein Zynismus ist der eines Erwachsenen. Das Kind illegaler syrischer Immigranten verbüßt eine fünfjährige Haftstrafe, doch in diesem Prozess steht Zain als Kläger vor Gericht, er verklagt seine Eltern, weil sie ihn auf die Welt gebracht haben.
Drei Jahre hat Nadine Labaki für „Capernaum – Stadt der Hoffnung” recherchiert. Die Dreharbeiten begannen kurz nach der Geburt ihrer Tochter Myroon und dauerten sechs Monate. Die libanesische Regisseurin löst meisterhaft die Grenze zwischen Fiktion und Realität auf, dahinter verbirgt sich eine ästhetisch virtuos inszenierte „Mad Max”- Allegorie voll rauer Poesie und fordernder Systemkritik. Erschütternd, herzzerreißend, fern jeder Sentimentalität.
- Geschrieben von Anna Grillet -

„Shoplifters” ist Hirokazu Kore-edas radikalster Film, die Familie bleibt zentrales Thema seines Werks, in ihr spiegelt sich die Kälte einer gnadenlos Konsum- und Karriereorientieren Gesellschaft. Was verbindet Menschen eigentlich, fragt uns der japanische Regisseur: Geld, Gaunereien oder bedingungslose Zuneigung? Kann eine fremde Frau nicht vielleicht eine viel bessere Mutter sein als die leibliche?
Um den Protagonisten des Prekariats jenen ungeschliffenen Charme geben zu können zwischen Komik, Trauer, Optimismus, Stolz, Verrat und desperater Loyalität, weicht Kore-eda von seiner gewohnten formalen Strenge wie in „Nobody Knows” ab. Mit subtiler Finesse inszeniert er ästhetisch virtuos das berührende Porträt einer Schicksalsgemeinschaft als schillerndes Beziehungsgeflecht voller Abgründe, verborgener Leidenschaften und Tragik.
- Geschrieben von Anna Grillet -

Höchste tänzerische Disziplin explodiert unvermittelt in einem mitreißenden anarchistischen Rausch aus Begierde, Schmerz, Geltungssucht, Gewalt, Trance, schwindelerregenden Bewegungen. Gaspar Noés visueller Kosmos ist überwältigend schön und zutiefst verstörend.
Dieses Mal schwärmen die Kritiker von dem sonst als Enfant terrible gefürchteten Regisseur. Eine Sternstunde des französischen Kinos. Der gebürtige Argentinier reagiert eher befremdet über das Ausmaß solch euphorischen Lobes, nur wenige Zuschauer verließen in Cannes die Premiere, für den erfahrenen Meister der Provokation ein ungewohntes Phänomen, hat er an Biss verloren? Wahrlich nicht.
- Geschrieben von Anna Grillet -

Der virtuose Provokateur Lars von Trier inszeniert sein suggestives düsteres Serienkiller-Porträt als boshaft-philosophisches Zwiegespräch zwischen Obszönität und Offenbarung. Dem Zuschauer stockt der Atem, „The House That Jack Built” katapultiert uns ins Zentrum raffiniert barbarischer Zerstörungswut, ein abenteuerlich danteskes Road-Movie.
Protagonist Jack (Matt Dillon) schwadroniert stolz auf dem Weg ins Jenseits über sein mörderisches Gesamtkunstwerk, rechtfertigt es mit zynischer Finesse. Dies ist nicht das blutig-kokette Grauen eines Horror-Films sondern die erbarmungslose wenn auch spielerische Konfrontation mit einer moralischen Apokalypse. Der Nationalsozialismus bleibt omnipräsent. Sieben Jahre war der dänische Kult-Regisseur in Cannes Persona non grata nach jener missglückten frivolen Sympathiekundgebung für Hitler auf der Pressekonferenz zu „Melancholia”. Von Trier versteht sich auf Rache.
- Geschrieben von Anna Grillet -

Paweł Pawlikowski hat das schwermütige, visuell atemberaubende Noir-Drama „Cold War” seinen Eltern gewidmet, deren stürmische On- und Off-Beziehung ihn zu dem Film inspirierte, und so gab er den Protagonisten ihre Namen, der Rest ist jedoch Fiktion.
Der polnische Regisseur und Oscarpreisträger greift nur einzelne Momente der Love-Story auf, dazwischen lässt er die Leinwand kurz dunkel werden, zwingt den Zuschauer die Lücken mit der eigenen Vorstellungskraft zu füllen. Es funktioniert phantastisch, grade dann, wenn wir uns irren. Die betörende Schwarz-Weiß-Ballade vor dem Hintergrund des Kalten Krieges ist eine Grenzüberschreitung, geographisch, musikalisch, politisch und existenziell. Die Missverständnisse, das Unausgesprochen dieser selbstzerstörerischen Liebe reflektiert die Musik der verschiedenen Stile, Folk, Jazz, Swing, Rock.
- Geschrieben von Anna Grillet -

„Assassination Nation” ist der perfekte Film für eine krasse Lady’s Night. Taugt der politische Anspruch als Message oder verbirgt sich dahinter nur eine feministisch aufgemotzte Pose?
US-Regisseur Sam Levinson blufft nicht, er inszeniert das semi-surreale Gesellschaftsporträt als verstörende Horror-Satire, ästhetisch inspiriert von Jean-Luc Godard und den japanischen Sukeban-Rachedramen der Siebziger Jahre.
- Geschrieben von Anna Grillet -

Regisseur Gustav Möller inszeniert seinen klaustrophobischen Thriller „The Guilty” als rätselhaftes fesselndes Kammerspiel, ein Meisterwerk der Suspense zwischen Schuld und Sühne, unberechenbar bis zum letzten Moment.
Wo sonst der Zuschauer auf der Kinoleinwand mit Bildern überschwemmt, fast erdrückt wird, erwartet ihn hier nur eine triste Notrufzentrale der Kopenhagener Polizei, bläuliche Computerbildschirme, Fernsprechanlagen mit kleinen flimmernden roten Lichtern. Jasper Spannings Kamera konzentriert sich auf das Gesicht des Protagonisten, der eigentliche Schauplatz aber ist unsere Phantasie.