Literatur

Anne Weber, geboren 1964 in Offenbach, lebt seit 1983 in Paris. Sie übersetzt aus dem Deutschen ins Französische und umgekehrt. Auch ihre eigenen Bücher schreibt sie in beiden Sprachen.

Für ihren jüngsten Roman „Annette, ein Heldinnenepos“ wurde die Autorin mit dem Deutschen Buchpreis 2020 ausgezeichnet. Mit diesem herausragenden Buch setzt sie einer stillen Heldin ein literarisches Denkmal noch zu Lebzeiten. Das ist ungewöhnlich. So ungewöhnlich wie das Buch selbst.

 

In ungereimten Versen erzählt die Autorin das Leben der 1923 in der Bretagne geborenen, heute 95jährigen im südfranzösischen Dorf Dieulefit lebenden Anne Beaumanoir, Annette genannt. Als junges Mädchen wurde sie Mitglied der kommunistischen Résistance und rettete – entgegen der Regeln der Widerstandsbewegung, nicht eigenmächtig zu handeln - zwei jüdischen Jugendlichen das Leben. Jahre später wurde sie wegen ihres Engagements in der algerischen Unabhängigkeitsbewegung zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt.

 

Weber Annette ein Heldinnenepos COVERDas Wort Roman taucht nirgendwo auf, nicht auf dem Cover, nicht im Innenteil des Buches. Es handelt sich bei diesem Buch um ein Epos, eine Erzählung also, in denen von Heldentaten berichtet wird. Ist es aber ein Versepos? In einem Gespräch über Lyrik in der „Frankfurter Rundschau“ vom 30.10.2020 verneint der Dichter Durs Grünbein diese Annahme. „Ihr (Anne Webers) jüngstes Buch ist ein Epos, und wird zum Glück jetzt gelesen, aber es ist keine Verskonstruktion, nur weil die Zeilen linksbündig gesetzt sind. Es sind Prosasätze über eine kühne Frau, die von Anfang an im Widerstand war, ein paar jüdische Menschen gerettet hat und sich dann in den Algerienaufstand verstrickte – ein großartiges Buch.“ Ja, es ist ein großartiges Buch. „Die Kraft von Anne Webers Erzählung kann sich mit der Kraft ihrer Heldin messen: Es ist atemberaubend, wie frisch hier die alte Form des Epos klingt und mit welcher Leichtigkeit Weber die Lebensgeschichte der französischen Widerstandskämpferin Anne Beaumanoir zu einem Roman über Mut, Widerstandskraft und den Kampf um Freiheit verdichtet“, heißt es in der Jurybegründung zum Deutschen Buchpreis 2020. Nun also doch: Es ist (auch) ein Roman.

 

Anne Weber erzählt vom Leben einer Frau, die voller Mut und Widerstandskraft unermüdlich um Freiheit, für die Freiheit kämpft. Die Geschichte selbst ist faszinierend. Gleiches gilt für die Form: rhythmische Verse, Verzicht auf Reimzwang und festes Metrum. Überzeugend ist auch der Erzählton, mit dem Anne Weber ihre Heldin auftreten lässt. Sie tut dies stets ohne Ironie, mitunter aber durchaus auch mit Humor trotz der meist tragischen Geschehnisse. Form, Inhalt und die große Sprachkunst der Autorin machen dieses Buch zu einem Kleinod. Es ist eine unpathetische, aber nicht unpoetische Sprache. Immer wieder auch wird die Perspektive geändert, werden Fragen gestellt, wird Historisches und Persönliches miteinander verbunden. Immer wieder auch wird der Leser gedanklich einbezogen ins Geschehen. Dies erzeugt ein Wir-Gefühl zwischen Protagonistin, Autorin und Leser. Beeindruckend, wie es Anne Weber gelingt, diese Verbindung problemlos herzustellen, zu halten, zu erneuern – und sei es durch das einfache Wort „wir“: „Das Schicksal muss es sich gefallen lassen, zumal es eh schon zugeschlagen hat, dass wir es zwei Minuten aufschieben und noch einmal eine Klammer aufmachen […]“ Da ist er, der Humor, da ist das Komische im Tragischen. Auch das Wort „ihr“ (gemeint ist hier Annette) wird eingebracht: „[…] bitte ihr nicht weitersagen […]. Auch Spannung gibt es und die wird klug gehalten. Einmal ermahnt sich Anne Weber selbst, stoppt die Erzählung: „Doch nicht so schnell, sonst kippt der Spannungsbogen.“ Viele weitere kluge Sätze gibt es. Sätze wie „[…] aber was heißt schon fremd, das ist es eben, kein Mensch ist einem andren fremd, aber nur wenige benehmen sich auch so.“ Und so schöne Sätze wie: „Es wird ganz still auf dieser Brücke, die Sonne dreht sich langsam um sie herum.“

 

Sozialismus, Demokratie, Diktatur werden auf nur zwei Buchseiten rasant durchdekliniert. Auch dieses durchaus riskante Unterfangen gelingt Anne Weber faktisch und literarisch, ohne belehrend zu wirken. Über Sozialismus heißt es: „[…] ein Sozialismus (also), den sie sich lange schon erträumt hat und der am Ende vielleicht mehr zum Träumen als zum Machen taugt.“ Über Demokratie: „Kann einer mal erklären, wie das von einem Tag zum andren funktionieren soll in einem Land, in dem die allergrößte Mehrheit nicht lesen und nicht schreiben kann […]“. Und über Diktatur: „[…] dass es nach Revolutionen erst einmal ein Jahr lang oder zehn eine Diktatur braucht, und zwar, weil lange Unterjochte das Freisein und Denken erst einmal lernen müssen.“

 

Bei allem idealistischen Denken und Handeln geht es Heldin Annette immer ums Prinzip: „[…] und das Prinzip gibt ihr Recht und sagt, dass ein Volk sich kein zweites unterwerfen darf.“ Idealismus ist es vor allem anderen, der die Heldin an- und umtreibt. „Ob richtig oder falsch kann sie und kann kein andrer je entscheiden […]“ Die Heldin hilft, irrt („Die Wahrheit ist, dass sie für einen souveränen Staat […] alles eingebüßt hat“), macht Fehler. Bei all dem und trotz all dem lebt sie die Idee der Unabhängigkeit, lebt ihre Ideale. Die Opfer sind groß, den eigenen Kindern ist sie fremd geworden. Ein Schmerz, der nicht vergehen will. „Ihr ganzes Leben ist ein Versteck, ein Kleiderschrank voller Geheimnisse […].“ Das hat seinen Preis, kostet viel, die eine oder andere Liebe, mitunter auch das Leben anderer Menschen. Angst, Flucht, Kampf, Schmerz, Verrat, Verlust und Mord – all das gilt es zu überleben. „[…] und wir, wir stehen in der fernen Zeit und stehen und finden keinen Satz und keinen Vers und keine Zeile, die etwas andres möchte als zu stehen und mit ihm zu weinen.“

Wir Leser lernen viel aus diesem Buch, manchmal auch zu viel. So wird die Zeit der Résistance im Algerienkrieg im Verhältnis zu anderen Zeiten etwas zu ausführlich behandelt. Das lähmt den Leser, sein Wissensdurst ist gestillt, die gelesenen Namen geraten schon in Vergessenheit. Dabei ist dies ein Buch, ein Roman, ein Epos gegen das Vergessen. Ein Buch, das die Vergangenheit bewältigt, ein Buch, das in die Zukunft weist. Einmal denkt Anne darüber nach, was ein Land und seine Einwohner dem Neuhinzugekommenen vertraut macht: Es sind Sitten, Bräuche, Religion. Anne B. weiß nicht, aber ahnt, „Wie wichtig Letztere mal wird und eigentlich auch jetzt schon ist (also eine Art von Religion, die Mystik kurzerhand mit Politik verwechselt und Einheit schafft und Klappe zu) […]“

 

Was nun genau ist es, was Anne Weber von Anbeginn an Anne Beaumanoir interessiert, fasziniert hat? Es sei die Beharrlichkeit, mit der diese sich eingesetzt habe für ihre Ideale, für Gerechtigkeit, gegen Unterdrückung, so die Autorin im ARD-Interview. Es war – so kann man sagen – Liebe auf den ersten Blick zwischen den beiden Namensgleichen, die sich bei einer Lesung kennengelernt, anschließend gemeinsam gegessen und ihr erstes Gespräch geführt haben. Letzteres legte den Grundstein für alle weiteren Gespräche und bildete die Grundlage für dieses Epos. Mit „Annette, ein Heldinnenepos“ hat Anne Weber einer Frau ein Denkmal gesetzt, die trotz Folter, trotz Fehlentscheidungen und anderer Fehler widerständig geblieben ist – auch gegen sich selbst.


Anne Weber: „Annette, ein Heldinnenepos“

Roman
Matthes und Seitz 2020
Gebunden, 208 Seiten und als eBook
ISBN 9783957578457

- Weitere Informationen, Lesungen und Hörprobe
- Leseprobe

 

YouTube-Videos
- Anne Weber stellt ihr aktuelles Buch „Annette, ein Heldinnenepos“ vor (4:06).
- Deutscher Buchpreis 2020 | Shortlist-Portrait Anne Weber (2:06) 

 

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