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Die lyrische Welt der Silke Scheuermann: Ausgezeichnete Skizzen von Mensch und Natur

Silke Scheuermann schreibt Romane, Erzählungen und Gedichte. Das Bewundernswerte ist, sie genießt sowohl als Prosaautorin als auch als Lyrikerin einen ausgezeichneten Ruf. In unserer Lyrik-Rubrik steht natürlich die Dichterin Silke Scheuermann im Mittelpunkt. Es sei jedoch jedem Leser ans Herz gelegt, sich auch mit ihrem Prosawerk zu beschäftigen.
Der Roman „Wovon wir lebten“ ist hierfür ein perfekter Einstieg. Zurück zur Lyrik von Silke Scheuermann: Für ihr lyrisches Gesamtwerk wurde die Autorin 2014 mit dem Hölty-Preis für Lyrik ausgezeichnet. Besonders hervorgehoben wurde bei dieser Würdigung der Lyrikband „skizze vom gras“ (2014 Verlag Schöffling & Co.). 2016 wurde die Dichterin mit dem Berthold-Brecht-Preis und dem Robert Gernhardt Preis ausgezeichnet. 2017 erhielt sie den Christoph-Lichtenberg-Preis. Weitere Preise werden folgen. Davon dürfen wir ausgehen.

silke scheuermannSilke Scheuermann, geboren 1973 in Karlsruhe, lebt in Frankfurt am Main. Schon als Kind schrieb sie Gedichte. Und las Gedichte, am liebsten von Sylvia Plath und Elizabeth Bishop. Nach dem Studium der Theater- und Literaturwissenschaften debütierte sie mit 28 Jahren mit dem Lyrikband „Der Tag an dem die Möwen zweistimmig sangen“ (2001). Die Süddeutsche Zeitung bezeichnete ihren ersten Lyrikband als „wohl erfolgreichstes Debüt einer neuen lyrischen Stimme in den letzten Jahren“. Ihr erster Roman „Die Stunde zwischen Hund und Wolf“ erschien 2007. Für ihre Gedichte, Erzählungen und Romane erhielt sie im Laufe der Jahre zahlreiche Stipendien und Preise, unter anderem das Stipendium der Villa Massimo in Rom (2009). 2013 vereinte der Verlag Schöffling & Co. die ersten beiden Gedichtbücher der Autorin – „Der Tag an dem die Möwen zweistimmig sangen“ (2001) und „Der zärtlichste Punkt im All“ (2004) - sowie die bisher nur als Sonderdruck erschienenen Sonette „Vogelflüge“. Veröffentlicht wurde das Buch unter dem Titel „Der Tag an dem die Möwen zweistimmig sangen“.

ueber nachtAuch in ihrem Lyrikband „Über Nacht ist es Winter“ (2007 Verlag Schöffling & C.) wird deutlich, was die Lyrikerin Silke Scheuermann auszeichnet und wovon sie in ihren Gedichten spricht: Es ist der Mensch, den sie bespielt und beschreibt. Der erdichtete Mensch taucht im lyrischen Werk dieser Autorin in vielfältigen Variationen auf: als fabelhaftes Tier, als antike Figur, als moderner Mensch, als angsteinflößende Märchengestalt, als Hexe oder Nixe, Blume oder Baum. Natürlich ist auch ein erdichteter Mensch nicht ohne seine Herkunft, seine Umwelt, sein Werden und Wirken denkbar. Nicht ohne die Natur, nicht ohne die Zeit, nicht ohne den Tod. All das spielt hinein in die lyrische Verwandlung des vergänglichen Menschen durch diese Dichterin.

In dem Gedicht „Der Traum der Madame Tussaud“ aus „Über Nacht ist es Winter“ sind für die Dichterin „Vergangenheit Gegenwart Zukunft/alle nur möglichen Welten“. Über Ikarus heißt es hier: „Aber die Welt zog ihn an/Wunder setzen sich durch/Jahrmärkte in den Städten/Rummelplätze in Dörfern/Eintrittskarten in Hellgelb/und Grün mit gezacktem Rand/Zuckerwatte Leiermusik/Publikum und noch mehr Publikum/wer wäre da nicht stolz auf sich“ […]. Am Ende wählt Ikarus „die Sonne als Wahlheimat/die Möglichkeit wächsern zu sein und doch/immer im Licht zu schlafen“. Das Wunderbare an gelungener Dichtung ist, sie zeichnet Möglichkeiten auf und sie kann verwandeln. Das gilt sowohl für das Schöne und Gute als auch für das Hässliche und Böse. Ein gutes Gedicht kann auch den Leser verwandeln, kann ihn in eine andere Haut schlüpfen lassen. Eine Haut, die sich anders anfühlt, die anders fühlen lässt, als dies im Alltäglichen möglich ist.

Im Gedicht „Lied von der Veränderung“ heißt es: „Auf einmal schien alles Spuren zu hinterlassen“... Ja, alles hinterlässt Spuren. Und da der Mensch von Natur aus neugierig ist, befindet er sich ständig auf Spurensuche. Das gilt auch für die Suche nach der eigenen Identität. Weil das so ist, ist ein Satz wie der soeben zitierte für uns Leser wichtig und hilfreich. Er dient unserer (gesteigerten) Wahrnehmung, fordert Aufmerksamkeit ein. Denn Spuren hinterlassen wir immer und überall. Selbst an einem „Sommertag an dem das /Gras fett und grün war und wir nichts unternahmen/als im Gras zu liegen und lesen“ […]. Wir müssen diese Spuren nur aufsammeln.

skizze vom grasVon Engeln, „Engel wie du und ich“ und Obdachlosen, „die in riesige/schmutzige Flügel gewickelt schlafen“ ist in den Gedichten dieses Lyrikbandes die Rede, vom gleißenden Glück, das „krächzt hüpft“ und Vogelbeine hat, von Licht und Stille, vom „alltäglichen Selbstversuch dieser Landschaft/bei Sonnenuntergang:/gefleckter Himmel/vor seiner neuen Aufgabe/nicht mehr vorhanden zu sein“. Ach, das sind ja alles nur Beispiele. Viele könnte man nennen, vieles aus all ihren Gedichtbänden zitieren. Ach, man möchte diese Dichterin dankbar umarmen. Auch, weil sie so schön über das Sammeln schreibt, über all das Sammeln, das anfing „als die Erde/noch schmolz“. Diese Dichterin hilft uns, wieder und weiter zu sammeln, unermüdlich bis zum letzten Tag.
In ihrem preisgekrönten Lyrikband „skizze vom gras“ erweitert sie die von Nicolas Born Anfang der siebziger Jahre erfundene Genrebezeichnung vom „utopischen Gedicht“. Sie fängt das Flüchtige ein, löst die Gegenwart auf und entwirft die Zukunft: „Hör mir zu: Dies ist die Zeit,/von der ich dir erzähle,/die träge aus der Zukunft fließende Zeit.“ Sie erzählt von einer neuen, zweiten Schöpfung, in denen es Tiere wie den Säbelzahntiger und den Höhlenlöwen gibt, entwirft Utopien wie diese: „Es war das Jahr, in dem sie das Ministerium für Pflanzen auflösten. […] Es ist die Zeit nach den vertikalen Gärten./Hoffnung erstreckt sich ins Horizontale.“ Keine schöne Zukunftsvision. Doch immerhin: Es gibt Hoffnung. Auch wenn es in ihrem Gedicht „Akazie“ heißt: „Die Natur ist nicht dunkel/die Welt ist dunkel.“ Und in dem Gedicht „Efeu“ stellt sie fest: „Doch erst, wenn ihr aufhört, das Ende/zu denken, seid ihr geheilt.“ Aufmerksamkeit für unsere Umwelt, für unsere Natur, fordert die Dichterin – und das auf so schöne, wortfeine Weise, dass wir ihr gerne folgen.

gerade noch dunkel genugGedichte müssen für die Lyrikerin Scheuermann „Gerade noch dunkel genug“ sein. Wie ihre Gedichte entstehen, wie überhaupt gute Gedichte entstehen, wie sie zu guten Gedichten gemacht werden, das beschreibt Silke Scheuermann in ihren „Frankfurter Poetikvorlesungen 2018“, die ebenfalls bei Schöffling & Co. erschienen sind. Die drei Vorlesungen, die in diesem Buch vereint sind, tragen die Überschriften „Nacht“, „Tag“, „Zwielicht“. Wir erfahren, was die Nacht mit Lyrik zu tun hat und der Tag mit Prosa. Fragen der Literatur werden beantwortet und solche nach dem Leben gestellt. Vor allem aber nehmen wir am Alltag der Autorin teil – sei es, dass wir im Zwielicht gemeinsam mit ihr und ihrem Hund spazieren gehen auf der Suche nach Texten, die in Prosa oder Lyrik münden könnten.

„Poesie, die gelingt, erzählt dem Leser von etwas, das dieser kennt, selbst aber nicht beschreiben kann, weil er nicht die richtigen Worte dafür findet“, heißt es in der Vorlesung „Nacht“. Und weiter: „Ein Roman ist ein soziales Kunstwerk. In einem Gedicht steht das lyrische Ich ganz allein da“. Das also ist nach Silke Scheuermann der Unterschied zwischen einem Roman und einem Gedicht, das Gemeinsame und das Einsame. „Ich kann das Gedicht zu einem Raum werden lassen, den so noch nie jemand betreten hat.“ Oft sei sie in extremer Stimmung beim Entstehen eines Gedichtes. Dunkelheit böte den geeignetsten Raum für Lyrik. Vielleicht ist die Dunkelheit auch für den Leser der geeignetste Raum, Gedichte wie diese zu lesen.

Silke Scheuermann


Silke Scheuermann: Über Nacht ist es Winter. Gedichte
Schöffling & Co. 2007
ISBN 978-3-89561-372-2
88 Seiten, gebunden, Schutzumschlag.

skizze vom gras. Gedichte
Schöffling & Co. 2014
ISBN 978-3-89561-376-0
104 Seiten. Leinen. Lesebändchen.

Gerade noch dunkel genug. Frankfurter Poetikvorlesungen
Schöffling & Co. 2018
ISBN 978-3-89561-379-1
136 Seiten. Englische Broschur.


Abbildungsnachweis:
Header: © Claus Friede
Buchumschläge
Portrait Silke Scheuermann. Foto © Alexander Paul Englert. c/o Schöffling & Co., Kaiserstraße 79, 60329 Frankfurt am Main

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