CDs KlassikKompass
Vanessa Wagner. Foto: Laura Bonnefous

Die Victoire-de-la-Musique-Preisträgerin Vanessa Wagner ist eine prägende Figur der französischen Musikszene, künstlerische Leiterin der Festivals in Chambord und Giverny und ebenso bekannt für ihre Interpretationen von Tschaikowsky, Mozart, Debussy oder Dusapin wie für ihre genreübergreifenden Projekte mit elektronischen Musikproduzenten wie Murcof oder Rone.

Mit ihrem innovativen und mutigen Ansatz hat sich Wagner als maßgebliche Stimme der zeitgenössischen Klassik etabliert. Sie überschreitet musikalische Grenzen und eröffnet neue, inspirierende Wege.

 

„Nach mehr als drei Jahrzehnten, die ich dem klassischen Repertoire gewidmet habe, hat die Entdeckung der Musik von Philip Glass auf tiefgreifende Weise mein Selbstverständnis als Musikerin verändert“, bekennt Vanessa Wagner.

 

Seit einigen Jahren also widmet sich Vanessa Wagner intensiv dem musikalischen Minimalismus und hat bereits vier Alben veröffentlicht, die den bedeutendsten VertreterInnen dieser Strömung gewidmet sind – darunter John Adams, Meredith Monk, Brian Eno, Ryūichi Sakamoto sowie Künstlern einer neuen Generation wie Caroline Shaw, Bryce Dessner und Nico Muhly.

 

Nach unzähligen Konzertstunden verspürte Wagner einen starken künstlerischen Impuls: die vollständige Aufnahme eines der bedeutendsten Werke der zeitgenössischen Klaviermusik – der zwanzig Etüden von Philip Glass. Mit diesem Projekt stellt sie die Etüden nicht nur als zentrales Werk des modernen Repertoires heraus, sondern verortet sie zugleich in der großen Tradition zyklischer Etüden – von Ligeti, Debussy und Dusapin zurück bis zu Chopin und Liszt.

 

V WAGNER Glass COVERDoch die Verbindung zwischen Wagner und Glass beruht nicht allein auf stilistischen oder technischen Parallelen. Vielmehr liegt ihr Ursprung in einer gemeinsamen künstlerischen Haltung und Denkweise. In seinen Memoiren „Words Without Music“ erinnert sich Philip Glass an das kompromisslose Unterrichtsideal von Nadia Boulanger, bei der er in Paris studierte – einer Stadt, die damals selbst einen kulturellen Umbruch erlebte, vergleichbar mit dem leisen, aber radikalen Wandel, den der musikalische Minimalismus auslöste.

 

Boulanger, stark beeinflusst von Debussy und Ravel, vermittelte eine Disziplin, die sich gleichermaßen der Innovation wie der Tradition verpflichtet fühlte – ein Geist, der auch Glass Musik prägt. Die Etüden entstanden in den frühen 1990er-Jahren ursprünglich als Skizzen für die brasilianische Tanzkompanie Grupo Corpo.

 

Angesichts der wachsenden Nachfrage nach Soloklavieraufführungen entwickelte Glass diese Entwürfe zu zwei vollständigen Sammlungen weiter. Der erste Band entsprang vor allem seinem eigenen Bedürfnis, wie er es nannte, „technische Defizite“ zu überwinden. Doch selbst in scheinbar einfachen Stücken wie der Étude No. 5 entfaltet sich bereits das typische Glass’sche Klangbild – eine eindringliche, hypnotische Schlichtheit, die zum Innehalten und zur emotionalen Versenkung einlädt. „Da liegt eine solche Intensität und Traumhaftigkeit darin“, sagt Wagner. „Man muss den Mut haben, sich ganz der Wiederholung hinzugeben und den Gedanken freien Lauf zu lassen.“

 

Etudes No. 9 und No. 4 – bereits erschienen auf ihren gefeierten Alben Inland und Mirrored – gehören mittlerweile zu den Kernstücken ihres Live-Repertoires. Sie verlangen große Virtuosität und Tempo und entfalten gerade dadurch eine tranceartige Wirkung auf Publikum und Interpretin gleichermaßen.

 

Zu den technisch anspruchsvollsten Stücken zählen Etudes No. 3 und No. 6, die fließend zwischen zarten Pianissimi und kraftvollen, resonanten Akkorden wechseln – unmittelbar gefolgt von komplexen, rhythmisch dichten Passagen. All das muss in einem engen Zeitrahmen kohärent und erzählerisch umgesetzt werden. „Das erfordert permanente emotionale Offenheit und gleichzeitig absolute technische Kontrolle“, erklärt Wagner.

Im zweiten Band verdichtet Glass seine musikalische Sprache, vertieft die rhythmische Komplexität und wagt neue harmonische Experimente. Diese Etüden scheinen für einen imaginären Virtuosen geschrieben – jemanden, der ihr gesamtes Ausdrucksspektrum vollständig ausschöpfen kann. Tatsächlich hat Glass diese späteren Stücke selbst nur selten öffentlich aufgeführt. Und doch zählen gerade sie zu seinen eindrucksvollsten Werken: von der weiten, meditativen Reise in No. 11 und No. 12 über die verspielten No. 13 und No. 14, die poetische Tiefe von No. 16, die lyrische Intimität von No. 17 und No. 18 – bis hin zur entrückten Klanglandschaft von Etude No. 20. In dieser letzten Etüde – inspiriert von Philip Glass’ Komposition Gone für Godfrey Reggios experimentellen Film The Visitors – überrascht der Komponist mit impressionistischen Anklängen und einem dunklen Unterstrom, der unter der ruhigen Oberfläche lauert.

 

Etude No. 17 beschreibt Vanessa Wagner als „strahlend lyrisch, zwischen wechselnden Atmosphären oszillierend – leuchtend, aufgewühlt, transparent und ungestüm zugleich.“ Der Legende nach entdeckte Glass eine persönliche Skizze mit dem Titel Magic Psalm zwischen den Gedichten von Allen Ginsberg – der Gallions-figur der Beat-Generation, die ein ganzes Zeitalter der Sinnsuche prägte. Aus dieser Skizze ging schließlich die Etude No. 17 hervor – ein Stück von schwebender, fesselnder Ausdruckskraft.

 

„Ich habe die musikalische Sprache ins Zentrum des Stücks gestellt (…) Ich begann, Prozess statt Erzählung zu verwenden, wobei der Prozess auf Wiederholung und Veränderung beruhte (…) Es ging darum, der Musik selbst Aufmerksamkeit zu schenken – nicht der Geschichte, die sie vielleicht erzählt. Das verlangt eine bestimmte Art des Zuhörens. Der häufigste Irrtum war zu glauben, die Musik wiederhole sich einfach nur ständig.“ Philip Glass, Words Without Music

 

Jede Etüde ist ein in sich geschlossener musikalischer Kosmos. Doch erst in ihrer Gesamtheit erschließt sich eine tiefere Dimension: Motive und Stimmungen verweben sich zu einem weiten emotionalen Panorama, das die Wirkung jedes einzelnen Stücks intensiviert. „Meine Beziehung zu diesen Etüden entwickelt sich ständig weiter – geprägt von meinem Leben, meiner Stimmung, meiner Erfahrung auf der Bühne“, sagt Wagner abschließend. „Diese Stücke begleiten mich wie vertraute Wesen – sie wachsen, reifen und gewinnen mit der Zeit immer mehr an Tiefe.“

Für Vanessa Wagner, die viele dieser Werke bereits einzeln eingespielt hat, bedeutet die vollständige Aufnahme eine erneute Erschließung der musikalischen Sprache von Philip Glass – in all ihrer Radikalität, Vielfalt und emotionalen Tiefe.


Vanessa Wagner. Philip Glass: The Complete Piano Etudes

Label: InFiné

Formate: Digital, CD, Vinyl

VÖ: 10.10.2025

Weitere Informationen (Label)

 

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- Vanessa Wagner - Etude No. 17 - Philip Glass: The Complete Piano Etudes] (6:20 Min.)

Vanessa Wagner - Etude No. 16 - Philip Glass (5:16 Min.)

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