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Dinorah Varsi – Legacy: Piano mit sieben Flügeln

„Dinorah Varsi – Legacy“ heißt eine neue Medien-Box, in der Ton- und Videoaufnahmen und ein Buch über die Pianistin aus Uruguay versammelt sind. Sie belegen eindrucksvoll, was Dinorah Varsi (1939-2013) an den 88 Tasten ihres Instruments anders machte als die Mehrheit der Pianisten. Eine Lektion über die Feinheiten des guten Tons, des richtigen Anschlags und die hohe Kunst der Interpretation.

Diese Ausgabe ist keine Sammlung von Audio- und Video-Aufnahmen sowie Texten – das ist ein Denkmal für eine liebevoll verehrte Künstlerin, das den Weg ins Vergessen versperren soll. 4,1 Kilogramm schwer, eine weiße Box im LP-Format, darin 35 Audio-CDs, unterteilt in „Live“ (13 CDs), „Studio“ (21 CDs), eine CD unter dem Titel „Talk“ mit Interviews und fünf DVDs, darunter ein zweiteiliges Filmporträt, und ein großformatiges Buch von 112 Seiten mit Fotos, den Tracklisten, den Aufnahmedaten, einer ausführlichen Einführung in Dinorah Varsis Art, Klavier zu spielen. Zwei Texte von Dinorah Varsi selbst, drei Interviews und ein ausführlicher Blick auf ihr wirken in ihrer Heimat Uruguay, dazu etliche Faksimiles aus Noten mit ihren Eintragungen – hier wurde alles getan, damit man dieser Künstlerin so nahe wie möglich kommen kann.
Jede CD der sorgfältig und zurückhaltender Eleganz gestalteten Edition zeigt ein anderes Porträtfoto der Pianistin, eine andere Facette ihres Wesens.

Dinorah Varsi – LegacyDie Aufnahmen dokumentieren ihr Klavierspiel von Anbeginn, von dem im Alter von sechs Jahren aufgenommenen Chopin-Walzer an, die zweite CD stammt von 1967 – das Jahr, in dem sie als Gewinnerin des Clara-Haskil-Wettbewerbs in Vevey den Durchbruch schaffte. Die Aufnahen reichen bis ins Jahr 2002, die Video-Aufnahmen bis 2004. Enthalten sind Werke von 28 Komponisten. Ein Schwerpunkt des hier zugänglich gemachten Repertoires liegt bei Chopin, auch Bach, Beethoven Schumann, Brahms, Debussy und Rachmaninow tauchen häufiger auf. 40 Stunden Musik und 10 Stunden Film – darunter vieles aus Rundfunkarchiven und einiges, bei dem Suche und Freigabe zwei Jahre dauerten. Da war jemand dankenswert hartnäckig und hat Material genug zusammengetragen, mit dem man sich Wochen und Monate von der Kunst Dinorah Varsis faszinieren lassen kann.

„Finger wie ein Oktopus“
Was macht das eigenwillige Spiel von Dinorah Varsi aus, die schon als Kind „träumte von einem Piano mit sieben Flügeln“? Es gibt mehrere Punkte, einer davon ist der unglaubliche Variationenreichtum ihres Anschlags, besonders bei den ruhigen, leisen, intimen Passagen. Da sucht sie nach feinsten Klangnuancen und Schattierungen. In ihren Noten steht dann schon mal in bilderreicher Sprache „Handgelenk wie Butter“, oder „Finger wie ein Oktopus“.

Sie sucht und findet zu einem ungewöhnlich klangfarbenreichen Spiel. Um dem genau nachzuspüren, hatte sie sich Anfang der 80er-Jahre sogar eine vier Jahre lange Auszeit vom Konzertpodium genommen und war danach quasi mit einem zweiten Debüt neu angetreten. Varsi arbeitet mit ganz eigenen, penibel erarbeiteten Phrasierungen, lässt die Zuhörer neue Spannungsbögen erfühlen – und hält auch das in ihren Noten fest: „Frage an den vierten Takt“ kann dann da als Spielhinweis stehen. Keine Note ist ihr zu gering, um auf ihre Bedeutung im Kontext des Ganzen abgeklopft zu werden.

Dafür war ihr die Betonung technischer Fähigkeiten nicht wichtig; das musste da sein und der Musik dienen, sollte aber bitte nicht als eigenständiger Wert ausgestellt werden. Genau so, wie ihr daran liegt, die süßlichen Klischees eines angeblich romantischen Klangs erneut auszuwalzen.

Besonders deutlich ist zu hören, welchen Stellenwert sie den oft vernachlässigten Mittelstimmen zumisst. Sie hebt sie oft hervor und beendet ihr eindimensionales Schattendasein zwischen den Leitplanken der Ober- und Unterstimme. Wofür ihr wunderbares Bach-Spiel sicher eine Grundlage gelegt hat. Aber auch in manchen Chopin-Etüden oder Nocturnes entstehen dadurch faszinierend fremde Klangbilder, in denen keine Begleitfigur zu unbedeutend ist, wie gegen den Strich gebürstet. Sie können die Zuhörer gefangen nehmen und Kritiker verstören. Es ist nicht jedermanns Sache, wenn etwa bei Chopin, all die Alpträume unter den lieblichen Melodien hervorgekitzelt werden. Die komplexen Klangbilder, die sie erzeugt, erfordern ein komplexes Zuhören, eines, das sich Neuem öffnen mag.

Fragte man sie nach dem Gestus, aus dem heraus sie spielte, verwies sie gern auf Chopins Wort, der seinen Schülerinnen und Schülern mitgab: „Hört euch so oft es geht große Sänger an.“ Sie, die ihre Musik nur mit ihrem Körper erzeugen, kennen das Geheimnis des Atmens. Varsis Ideal? Das Singen der Maria Callas, Musik, wie sie atmet, die absolute, grenzenlose Hingabe an die Musik.

„Du hast Angst im Ellenbogen“
Für ihre Art zu spielen kassierte sie nicht immer mal wieder nur unverständige Kritiken, sie legte sich notfalls auch bis in winzige Details mit Aufnahmeleitern und Tonmeistern an. „Ich war immer ich selbst, das war nicht einfach, aber nur so konnte ich Klavier spielen.“
Versteht sich, dass Varsi als Klavierpädagogin geschätzt und verehrt wurde. Nicht nur – davon zeugen auch die Interviews – ist sie in der Lage, ihre Vorstellungen über Musik aufs Präziseste zu verbalisieren und mitzuteilen. Sie versteht es auch, mit ihren Schülern deren ureigensten Antrieb, ihr inneres Kraftzentrum zu suchen. Sätze wie „Such die Katze“ oder „Du hast Angst im Ellenbogen“ haben sich ihren Eleven eingeprägt.

Wer ist die Pianistin, deren Ansichten über die Kunst des Klavierspielens hier zugänglich gemacht wird? Geboren wurde Dinorah Varsi in Montevideo, der Hauptstadt von Uruguay. Beginnt mit fünf Jahren, Klavier zu lernen, macht mit sechs ihre erste Schallplattenaufnahme. Gibt mit sieben ihr erstes Solo-Konzert. Spielt mit zehn Jahren Bachs f-Moll-Konzert in Brasilien. Nimmt mit 16 Rachmaninows 2. Klavierkonzert auf. Trifft Erich Kleiber, der ihre Karriere in den USA später befördert. Gewinnt Wettbewerbe. Studiert in den USA und Frankreich. Besuch 1964 Meisterkurse bei Geza Anda. Zieht 1966 in die Schweiz., wo sie 1982 eingebürgert wird. Ab 1990 lehrt sie an der Musikhochschule Karlsruhe. 2009 zieht sie sich aus dem Konzertleben zurück, 2013 ist sie in Berlin gestorben.

Ja, es lag etwas Heimatloses in ihrem Leben, und die Schweiz hat keine südamerikanische Lebensart. Aber vielleicht hat das ja die Intensität noch einmal befördert, mit der sich Dinorah Varsi ein Zuhause in der Musik bereitet hat.

Es ist eine außergewöhnlich liebevolle Hommage, die in dieser Box zusammengetragen ist. Die spannenden Aufnahmen sorgen mehr als einmal dafür, dass das Hören die Richtung ändern kann. Sie habe das Projekt erarbeitet, „weil ich der Ansicht war, dass das ein ganz wichtiges Dokument der Interpretationskunst ist für die Musikwelt, das man das festhalten muss“, sagt Herausgeberin Monica Steegmann.
Dinorah Varsi – Legacy
35 CDs, 5 DVDs, Begleitbuch.
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Einführungspreis bis 31. Dezember 2015: 99,- €, danach 119,- €.
YouTube-Videos mit Dinorah Varsi


Abbildungsnachweis:
Header: CD-Box und Dinorah Varsi live Foto: PR. Collage: Claus Friede
CD-Cover

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