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jazzahead  Landespartner: Die dänische Jazz-Szene I

Das, was wir heutzutage „Jazz“ nennen, umfasst mit allen seinen Verästelungen ein riesiges Gebiet.
Ein Bild der Jazzszene(n) eines ganzen Landes mit deren Charakteristika zu zeichnen, scheint ein schier unmögliches, aber doch sinnvolles Unterfangen. Die Verästelung mit ebenso attraktiver wie verwirrender Unübersichtlichkeit ist ein allgemeines Phänomen, das mit Urbanisierung und dem Erblühen von Freizeitindustrie einhergeht. Es ist in kleineren europäischen Ländern ebenso ausgeprägt wie in größeren.

Man kann dies mit dem Anblick heutiger Abteilung für Schönheitspflege in Warenhäusern vergleichen (meistens im Parterre), die in Üppigkeit und Vielfalt ausufern. ‚Vielfältig’ ist das meistgebrauchte Prädikat in Presseverlautbarungen zum Länderschwerpunkt Dänemark der diesjährigen „jazzahead!“ in Bremen. Treffend und doch nichtssagend.


Dem steht gegenüber, dass jedes Land nicht nur seine eigene Urbanisierungsgeschichte hat und, verbunden damit, eine spezifisch eigene Geschichte in Punkto Jazz, sondern auch kulturelle Eigenheiten, die sich mehr oder weniger klar und stark in der Musik spiegeln oder niederschlagen können. Als kennzeichnend für Jazz in/aus Dänemark lassen sich drei Merkmale festhalten: enge Bindungen an die New Yorker Jazzszene, ausgeprägte Liedqualitäten und Verspieltheit mit Popsensibilität. Es sind Merkmale, die sich auf verschiedenste Weisen manifestieren können.

Welcher Fährte man auch in die dänische Szene folgt, es zeichnet sich eine enge und selbstbewusste Verzahnung mit der amerikanischen Szene und ein Hindurchwirken des reichen eigenen Liedgutes, ein hoher Singbarkeitsgehalt (ohne allzu direkte Kopplung an lokale oder regionale Folkmusik) ab.


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Direkter Draht
Anfang der sechziger Jahre kann man eine klare Nordwärts-Bewegung des Jazz-Geschehens in Europa von Paris nach Kopenhagen sehen. Der Kopenhagener Club Montmartre spielt dabei eine zentrale Rolle. Wegen der vielen prominenten US-amerikanischen Expats, die sich in den 50er-, 60er- und 70er-Jahren in Kopenhagen und Umgebung niederließen und ihre musikalischen Aktivitäten dort fortsetzten, galt Kopenhagen – neben Paris – vor allem in den 60er Jahren als die europäische Jazzmetropole. Der Kopenhagener Jazzclub Montmartre stand im Zentrum aufregender und aufsehenerregender Entwicklungen, die sich vor nunmehr 50 Jahren im Jazz abspielten. Es war eine Periode des Aufbruchs und Tumults mit vielfältigen, hektischen Interaktionen.

Gegründet 1959, fungierte der Kopenhagener Club in den frühen Sechzigern als permanente Lehrschule für die damalige junge Generation dänischer Jazzmusiker. Diese konnten standing mit den nordamerikanischen Migranten spielen, die sich einer nach dem anderen für kürzere oder längere Zeit in Kopenhagen niederließen. Unter ihnen waren große Namen wie Stan Getz (1956-1961), Sahib Shihab (1959-1973), Dexter Gordon (1962-1975) und Ben Webster (ab 1969) ebenso wie der Bassist Oscar Pettiford (ab 1958), Violinist Stuff Smith (ab 1966) und der Pianist Kenny Drew (ab 1964). Diese zogen ihrerseits wieder tourende Kollegen aus den Staaten an. Zu den jungen dänischen Musikern dieser Periode gehörten der Schlagzeuger Alex Riel, die Bassisten Niels-Henning Ørsted Pedersen (NHØP), Bo Stief und Jesper Lundgaard, der Saxophonist Bent Jaedig und der Trompeter Palle Mikkelborg. NHØP debütierte 1961 als Fünfzehnjähriger im Montmartre. Da er noch minderjährig war, hatte seine Mutter nach Prüfung vor Ort ihren Segen zu geben. So musterte sie – mit rudimentären Englischkenntnissen – Anfang 1962 auch Bud Powell und meinte unter Berufung auf den Blick in seine Augen, mit dem Herrn zu spielen wäre okay. Das Ganze war eine glückliche Fügung. Die Möglichkeit Drogenproblemen zu entrinnen, außergewöhnliches musikalisches Talent und eine bemerkenswert proaktive Rolle dänischer Frauen kamen dabei produktiv zusammen. Daraus entstand eine solide Grundlage, die bis heute trägt und auf der die dänische Jazzszene bis heute blüht und gedeiht.

Radikale Erneuerer tauchten relativ früh auf der Kopenhagener Szene auf. Der Pianist Cecil Taylor gab dort bereits im November 1962 für einen ganzen Monat ein Gastspiel zusammen mit Jimmy Lyons und Sunny Murray und gab wenig später ein Konzert mit Albert Ayler. Auch Paul Bley tauchte früh auf der Bühne des Montmartre auf, woraus sich eine langfristige Beziehung mit NHØP und dänischen Labels entwickelte. Die Erneuerungswelle schwoll weiter an, wobei Montmartre zu einem zentralen Treffpunkt für Musiker wie Don Cherry, Aldo Romano, Gato Barbieri, George Russell oder Steve Lacy wurde. Diese Linie setzte sich bis weit in die Siebziger Jahre fort.

Eine weitere „migrationelle“ Infusion jener Tage war die Ankunft von Musikern, die dem Apartheitskonflikt in Südafrika entflohen wie die Pianisten Abdullah Ibrahim (Dollar Brand) und Chris McGregor, der Bassist Johnny Dyani und die Schlagzeuger Louis Mohollo and Makaya Ntshko. Makaya Ntshko avancierte zum Haus-Drummer im Montmartre und Johnny Dyani liess sich in Dänemark nieder, wurde Mitglied in Pierre Dørges legendärem Jungle Orchestra. Abdullah Ibrahims einflussreiches Album African Piano, gerade bei ECM neu auf Vinyl herausgekommen, wurde 1969 im Montmartre aufgenommen. Die Siebziger Jahre brachten einen neuen Schub nordamerikanischer Übersiedler nach Kopenhagen, darunter Horace Parlan (ab 1973), Ed Thigpen (ab 1974), Thad Jones (ab 1977), Duke Jordan (ab 1978) und Ernie Wilkins (ab 1979), die eine wichtige Rolle in der dänischen Jazzszene spielen sollten.

Durch hervorragende eigene Musiker wie Svend Asmussen, Bent Jædig, Alex Riel, John Tchicai, Jesper Thilo, die Dokhy Brüder, Palle Mikkelborg, Marilyn Mazur und allen voran Bassist Niels-Henning Ørsted Pedersen (NHØP) hatte der Jazz aus Dänemark relativ früh direkten Anschluss an die Spitze der New Yorker Jazzszene und verkehrte auf Augenhöhe mit amerikanischen Jazzmusikern. NHØP gehört lange Zeit dem Oscar Peterson Trio an (Peterson und Pedersen!), John Tchicai nahm mit John Coltrane auf, Palle Mikkelborg wie Marilyn Mazur spielten mit Miles Davis und Jesper Thilo mit Hank Jones. Diese selbstbewusste Verzahnung hat sich in evoluierter Form bis heute fortgesetzt.


Was einem Dänisch vorkommt
Es ist natürlich unmöglich hier ein vollständiges oder gar erschöpfendes Bild des heutigen Jazz in Dänemark zu zeichnen. Die Fährte durch das Terrain und die Perspektive bleibt notwendig begrenzt und subjektiv gefärbt. Es gibt immer wieder neue Seitenwege und Querverbindungen zu entdecken.

Die eigene Fährte nahm ihren Anfang bei Alben des SteepleChase-Labels, etwa Johnny Dyanis Angolian Cry (1986). Die Alben kamen zwar aus Dänemark (wo der Südafrikaner Dyani sich niedergelassen hatte), kamen einem aber – trotz dänischer Beteiligung in Person von John Tchicai – nicht sonderlich dänisch vor. Bassist Niels-Henning Ørsted Pedersen (1946-2005), eine der großen internationalen Figuren brachte schon eher etwas Dänisches. Vor allem die Musik, die er nach seiner Oscar-Peterson-Zeit zuhause in Kopenhagen mit skandinavischen Musikern spielte, schloss neben den bekannten amerikanischen Standards demonstrativ auch heimisches Liedgut ein. Eine der letzten live-Aufnahmen mit NHØP, The Unforgettable NHØP Trio Live (ACT 2007) mit dem schwedischen Gitarristen Ulf Wakenius und Jonas Johansen, dem vielleicht meistbeschäftigten dänischen Schlagzeuger, zeugt davon. In diese Zeit fällt auch die erste Begegnung mit der dänischen Gruppe des italienischen Pianomeisters Stefano Bollani, sein Trio mit dem Bassisten Jesper Bodilsen und dem Schlagzeuger Morten Lund, einem zentralen Rhythmustandem des dänischen Jazz. Ihr zweites Album, Songs From Scandinavia (Sundance (2005)) umfasst hundert Jahre skandinavischen Liedguts. Sie schlossen damit sehr bewusst an die Linie des schwedischen Pianisten Jan Johansson (1931-1969) an.

Ins Bild kamen auch das wunderbare Leadbelly-Album des Saxophonisten Frederik Lundin (Sundance, 2005) und die ersten Alben der Vokalistin Caroline Henderson (Stunt 2006, 2008). Bei Henderson spielte der junge dänische Bassist Anders Christensen (AC), bekannt von der Electric Bebop Band des New Yorker Schlagzeugers Paul Motian. Wiederum also eine starke Verbindung zum Big Apple.

Motian war zu der Zeit auf der Suche nach geeigneten Musikern für eine Band mit Doppelt- und Dreifachbesetzungen. AC schlug ihm einen jungen dänischen Kollegen vor, den Gitarristen Jakob Bro. Auf einmal stand dieser neben den New Yorker Gitarristen Ben Monder und Steve Cardenas in der Paul Motian Band, zu hören auf Garden of Eden (ECM, 2006). AC machte sich 2009 mit Dear Someone (Sundance), seinem Trio-Album mit Paul Motian und dem Pianisten Aaron Parks definitiv einen Namen. Ein erneuertes dänisches Bassmarkenzeichen! AC und Bro sind in demselben Jahr auch auf Dark Eyes, dem ersten Album des Tomasz Stanko Quintets (ECM, 2009) zu hören und Aaron Parks taucht danach regelmäßig im dänischen Jazzkontext auf.

In diese Zeit fällt auch das Erscheinen des Albums Temporarily Out of Order des Little Red Suitcase Duos von Johanna Borchert und Elena Setien. Bei diesem Duo verbinden sich kammertheatralische und poetisch-filmische Elemente mit der Musik und es ist ein Beispiel innerhalb der Jazzszene für den Überlauf in experimentelle Popmusik.


Bassonanzen
Von Anfang an und immer wieder: Bassisten, Bassisten. Jazz aus Dänemark ist zweifellos stark durch Bassisten geprägt. Es begann bei Niels-Henning Ørsted Pedersen (NHØP), Bo Stief und Jesper Lundgaard, setzte sich fort mit AC sowie Nils Bosse Davidsen, Jasper Høiby und Jonas Westergaard. Die beiden letzten haben sich in der zweiten Hälfte des letzten Jahrzehnts im europäischen Kontext profiliert. Jasper Høiby vor allem in der Londoner Formation Phronesis, die auch in der Danish Night bei der diesjährigen „jazzahead!“ vertreten ist, und in der Gruppe des in Kopenhagen ansässigen sensationellen norwegischen Saxophonisten Marius Neset. Zum anderen Jonas Westergaard, der in der Berliner Szene zum vielgefragten Bassisten avancierte (Trio Spoom, dem Trio mit Christopher Dell/Christian Lillinger, Formation Field).

Diese Linie bringt bis heute profilierte und versierte Tieftöner hervor. Als spezielle Konstellation sei hier stellvertretend die produktive Zusammenarbeit zwischen dem Bassisten Nils “Bosse” Davidsen und Trompeter Kasper Tranberg hervorgehoben (Duo-Album Zone Bleu (ILK)). Von Davidsen, ein (zu beachtender) Bassist der Meisterklasse, ist bei ILK gerade ein Soloalbum erschienen. Ein Trio-Album mit dem New Yorker Schlagzeuger Tyshawn Sorey folgt.


Schlaglichter
Die Fährte des Schlagzeugers Paul Motian führte nicht nur tiefer ins dänische Jazz-Feld, sondern auch zu einer Reihe weiterer Schlagzeuger wie Han Bennink, Jon Christensen, Andrew Cyrille, Gerald Cleaver, Ra-kalam Bob Moses oder Tyshawn Sorey, die sich intensiver mit dänischen Musikern und Gruppen verbanden.

Der bereits erwähnte Gitarrist Jakob Bro nahm mit Motian und New Yorker Musikern aus dessen Umkreis mehrere Alben auf und Jakob Dinesen, einer der zentralen Saxophonisten der jüngeren Generation, arbeitete mit einer Gruppe, die nach einer bekannten Motian-Komposition, Once Around The Park, benannt war.

Beim Konzert zum fünfundsechzigsten Geburtstag des bekannten niederländischen Schlagzeugers Han Bennik im Amsterdamer Bimhuis tauchte aus dem Nichts ein unbekannter junger Gast mit charakteristischem Hütchen auf und ließ den Flügel rauchen: der junge Däne Simon Toldam. Es war ein Fingerzeig auf das, was ein Jahr später, 2008, Realität wurde: Benninks erstes “eigenes” Trio mit Toldam und dessen Altersgenossen, dem belgischen Saxophonisten Joachim Badenhorst.


Unabhängigkeit
Dieses Trio führte auf geradem Weg zum ILK-Kollektiv (Independent Label Kopenhagen). Es wurde 2003 von dem dänisch-argentinischen Gitarristen und bildenden Künstler Mark Solborg u.a. gegründet, um für neue musikalische Ausdrucksformen eine unabhängige künstlerisch orientierte Plattform zu schaffen. Die Alben des Bennink-Trios erschienen auf ILK, eine Praxis, die in zehn Jahren zu einem eindrucksvollen Katalog geführt hat. Im Kreise von ILK-Musikern taucht eine ganze Reihe prominenter Schlagzeuger auf. Dazu gehören: Andrew Cyrille, Gerald Cleaver, Tom Rainey, Günter Baby Sommer, Thomas Strønen, Airto Moreira, Jeff Ballard und Adam Rudolph. Oft ist die Zusammenarbeit langfristig wie bei Andrew Cyrille im Trio des Pianisten Søren Kjærgaard zusammen mit dem New Yorker Bassisten Ben Street. Oder auch bei Gerald Cleaver und Craig Taborn im Trio der Saxophonistin Lotte Anker, einer Musikerin, die fest in der internationalen Improvisationswelt verankert ist. Neben diesen Schlagzeugern tauchen im ILK-Kontext auch immer wieder New Yorker Bläser wie Tim Berne und Michael Blake auf.

Das ILK-Label ist frei von staatlicher Förderung. Nur für bestimmte Konzertaktivitäten, etwa im Rahmen der beiden großen stadt- und szeneweiten Aktivitäten, Vinterjazz im Februar und das große Kopenhagen Jazzfestival im Juli, stehen dem Kollektiv bescheidene Mittel des nationalen Kunstrates zur Vergütung teilnehmender einheimischer und ausländischer Musiker zur Verfügung.


Mehr Schlagzeugs
Damit nicht genug des Schlagzeugs. Ed Thigpen (1930-2010), einer der großen Schlagzeuger des amerikanischen Jazz der 50er/60er-Jahre (Oscar Peterson, Ella Fitzgerald), ließ sich in den 70er-Jahren in Kopenhagen nieder und spielte eine zentrale Rolle als Musiker und Lehrer in der dänischen Szene. Jon Christensen, der große norwegische Schlagzeuger, bildet seit Jahren nicht nur zusammen mit Bassist Arild Andersen und dem dänischen Pianisten Carsten Dahl ein profiliertes Trio, sondern auch mit dem Gitarristen Jakob Bro und dem amerikanischen Ausnahmebassisten Thomas Morgan. Zusätzlich tauchen Ra-kalam Bob Moses, Billy Hart, Kenny Wollesen, Tyshawn Sorey und Joey Baron in dänischen Verbindungen auf.

Dabei herrscht keineswegs Mangel an guten dänischen Schlagzeugern, im Gegenteil.
Drei davon gehören dem ILK-Kollektiv an: Peter Bruun, Stefan Pasborg und Kresten Osgood. Pasborg, ein Schüler der dänischen Schlagzeuglegende Alex Riel ist ein energetischer Schlagzeuger, der balanciert aufs Äußerste gehen kann und souverän eine Bandbreite von Funk bis zu freier Improvisation bedient. Zusammen mit Gitarrist Niclas Knudsen und Tastenmann Jeppe Tuxen bildet er das bekannte Groove-Jam-Trio Ibrahim Electric, das während der Danish Night auf Jazzahead zu sehen ist Ein Beispiel der jüngsten Generation ist Snore Kirk, der mit seiner Gruppe während der Danish Night auf der „jazzahead!“ zu sehen ist.

Tausendsassa und Energiebündel Osgood ist überall zu finden, sei es im Duo mit Paul Bley, im Trio mit Sam Rivers, im Großensemble mit Yusef Lateef und am kontinuierlichsten mit dem New Yorker Saxophonisten Michael Blake. Osgood ist der Allrounder, der überall, wo er auftaucht, für Dampf sorgt. Seine Kooperationsliste auf ILKmusic ist schwindelerregend. Peter Bruun ist vom Erscheinungsbild so ungefähr das genaue Gegenteil. Asketisch und eher spröde, aber ebenso gegenwärtig. Er erregte u.a. durch sein faszinierendes eigenwilliges Spiel in Django Bates Beloved Trio und sein Spiel im Trio mit dem Schweizer Posaunisten Samuel Blaser und der französischen Gitarrengröße Marc Ducret besondere Aufmerksamkeit. Ducret ist in gewisser Weise Auswechselpartner für Hasse Poulsen, ein namhafter dänischer Gitarrist, der vor allem in der französischen Szene arbeitet und der französisch-deutschen Formation "Das Kapital" angehört.


Externe Impulsgeber, Ensemblebau(er)
Einwirkung auf den Jazz in Dänemark ist bei weitem keine exklusiv amerikanische Angelegenheit. Auch Musiker wie der britische Pianist Django Bates, der französische Gitarrist Marc Ducret oder der norwegische Trompeter Per Jørgensen haben eine produktive Rolle gespielt.

Ducret, lange Zeit in Kopenhagen ansässig und als Dozent der Kunsthochschule Esbjerg (Jütland) verbunden, hat eine besondere Beziehung zu Musikern der dänischen Szene. Über ihn landet man dann wieder bei dem Trompeter Kaspar Tranberg und beim Østergaard Art Trio. Es ist das Trio der jungen dänischen Perkussionistin Michala Østergaard mit Tranberg, dem norwegischen Trompeter Per Jørgensen und Ducret. Tranberg und Bruun gehören beide auch dem Tower-Ensemble von Ducret an (o.a. mit Tim Berne, Dominique Pifarely, Tom Rainey).

Ein anderer Fall bemerkenswerten intensiven Wirkens in der und die Szene hinein ist der britische Pianist Django Bates, der von 2005 bis 2011 als Professor am Kopenhagener Konservatorium für Rhythmische Musik ausfüllte. Wer Bates jemals mit Studenten arbeiten und spielen sehen hat, weiß, welch tiefgreifende und weitreichende Auswirkungen das haben kann. Die Arbeit mit den Saxophonisten Marius Neset, dem Tubaisten Daniel Herskedal, dem Schlagzeuger Anton Eger von Phronesis, den Vokalisten Josephine Cronholm, Josephine Lindstrand und Elena Setien u.a. in StoRMchaser sind nur einige der bleibenden Markierungen. Einer dieser Schüler, der Saxophonist Aske Drasbæk, ist während der Danish Night auf Jazzahead zu sehen.

Eine weitere wichtige Rolle spielt das mehrmonatige Residency-Programm des dänischen Kunstrates, im Rahmen dessen eine Reihe von amerikanischen Musikern intensiv in die dänische Szene eintauchen und dort wirken: Andrew d’Angelo (2010), Bill McHenry (2011), Ra-kalam Bob Moses (2012), Tyshawn Sorey (2013) und Aaron Parks (2014). Und dann gibt es im August – direkt im Anschluss an das Kopenhagen-Festival - die Summer Session in Vallekilde, eine Autostunde von Kopenhagen entfernt.
Als künstlerische Leiter fungierten in den letzten Jahren der Gitarrist Jakob Bro, der Pianist Nikolaj Hess und dessen Bruder, der Schlagzeuger Mikkel Hess. Die Summer Session ähnelt der Organisation der Siena Summerschool mit einem Wechsel von Ensemble- und Instrumentenaktivitäten und Rotation der Dozenten. Im vergangenen Jahr gehörten Dave Douglas, Joe Lovano, Kurt Rosenwinkel, Tyshawn Sorey, Aaron Parks, Omer Avital, Becca Stevens und Tony Allen zum Dozentenkorps (das nicht durchgängig so amerikanisch ist). Das erwähnte Østergaard Art Quartet ist z.B. direkt aus einer Summer Session hervorgegangen.


(Ver)bindungen
Musiker aus Dänemark haben sich immer wieder selbstbewusst und erfolgreich mit der New Yorker Szene verbunden. Sie haben dabei gleichzeitig ihre eigene Stimme, ihre eigene Signatur ausgebildet. Dies geschah allerdings meistens weniger spektakulär, weniger mythenumwoben oder in nordische Nebel gehüllt. Als aktuelle Beispiele für starke (Ver-)bindungen mögen hier Gitarrist Jakob Bro und die Pianisten Carsten Dahl, Nikolaj Hess, Søren Kjærgaard und Jakob Anderskov stehen.

Carsten Dahl (1967) ist seit Jahren eine der herausragenden Figuren der dänischen Szene. Ebenso wie Bro und Hess überspannt Dahl viele musikalische Bereiche. Von gewagt minimalistischem Solowerk seines letztjährigen Albums Dreamchild bis hin zur Improvisation mit Ensembles aus dem Bereich der Klassik (Ensemble MidtVest) und zur Filmmusik. Dahl arbeitet zur Zeit in einem neuen Trio mit dem Rhythmustandem Reuben Rogers und Gregory Hutchinson (u.a. Joshua Redman). Während der Jazzahead ist er zusammen mit Veteran Palle Mikkelborg, Trompete, mit der WDR Bigband zu sehen.

Nikolaj Hess teilt seine Zeit zwischen New York und Kopenhagen. Seine letzte Einspielung ist ein Trio-Album mit Schlagzeuger Kenny Wollesen und Bassist/Gitarrist Tony Scherr. Nikolaj Hess trägt nicht zu Unrecht den Spitznamen The Champ. Seine Ausdauer, Flexibilität, Phantasie, Ruhe und sein Vermögen zur Verbindung sind schlicht beispiellos.
Jakob Anderskov verband sich für Granular Alchemy mit den Brokklyn-Grössen Chris Speed (Sax., Klarinette), Michael Formanek (Bass) und Gerald Cleaver (Drums) und Søren Kjærgaard schließlich hat gerade Syvmileskridt, sein drittes Album mit dem New Yorker Topbassisten Ben Street und Schlagzeuglegende Andrew Cyrille veröffentlicht.

Jakob Bro arbeitet vor allem im Motian-Umfeld des 2011 verschiedenen New Yorker Schlagzeugers Paul Motian. Seine letzte Veröffentlichung ist "December Song" mit Lee Konitz, Bill Frisell, Craig Taborn und Thomas Morgan, Teil 3 einer Trilogie, die dem der inzwischen 87 Jahre alten Altsaxofon-Legende Lee Konitz eine neue Blütephase beschert. Just in diesem Monat geht Bro mit Konitz, Thomas Morgan, Pianist Jason Moran und Schlagzeuglegende Andrew Cyrille erneut in New York ins Studio. Im Herbst dieses Jahres schließlich erscheint das erste Album seines Trios mit Thomas Morgan und dem Schlagzeugveteran Jon Christensen auf ECM. Bro ist zu einer szeneübergreifen- den Figur herangewachsen, die ein Spektrum von dem dänischen Bluessänger Povl Dissing bis hin zur experimentellen Musik des Klangflächenentwerfers Niels Lynne Løkkegaard überspannt. 2013 gewann er für das Remix/Rebuilt-Doppelalbum, das er zusammen mit Thomas Knak alias DJ Opiate unter Mitwirkung von u.a. Paul Bley, Kenny Wheeler, Bill Frisell, Jeff Ballard und David Virelles machte, abermals einen dänischen Grammy.


Wind
Bei den Bläsern gehörten die Saxofonisten Bent Jædig (1935-2004) und John Tchicai (1936-2012), die Trompeter Allan Botschinsky (1940), Palle Mikkelborg (1941) und der Klarinettist Jesper Thilo (1941) zu den Leitfiguren der Nachkriegsjahrzehnte, alle stark mit der New Yorker Szene verzahnt. Botschinsky dagegen hatte ebenso wie Pianist Thomas Clausen (1949) enge Verbindungen mit der NDR Bigband und mit Peter Herbolzheimer. Von Generation zu Generation rückten reichlich markante Bläser nach. Zu viele, um ihnen hier gerecht zu werden. Einer der charaktervollsten und ausgefallensten Bläser ist zweifellos der Altsaxophonist Jesper Zeuthen, Jahrgang 1949, wie sein letztes Album Jesper Zeuthen Plus mit verrücktester Besetzung von fünf Bläsern belegt. Ebenso wie die vielleicht noch verrücktere Jazz Catastrophe der jungen Saxofonistin Maria Faust ist es auf dem Label des Barefoot-Kollektivs erschienen, ein Kollektiv, das in den letzten Jahren ein markantes künstlerisches Profil mit Verbindungen zur Berliner Szene ausgebildet hat.


Szeneteilungen
Inzwischen rührt sich längst auch die allerjüngste Generation. Etwa in Gestalt der multidisziplinären und reinweiblichen Krachmachtruppe Selvhenter mit zwei Schlagzeugen, Saxophon, Posaune und Violine. Selvhenter, auf dem noch frischen Egetværelse Label zu finden, erobert derzeit einen Platz in der ersten internationalen Liga der freien Improvisation. Aus der jüngsten Generation lieferte auch das Trio Busk mit dem Pianisten Anders Filipsen im letzten Jahr mit "Nur Eins" ein ungewöhnliches Album ab. Eine neue Art des Überspannens disparater Bereiche findet sich auf dem Album Heights von August Rosenbaum, einem Pianisten/Komponisten der jüngsten Generation mit exquisiten Beiträgen des amerikanischen Bassisten Thomas Morgan, den Gitarristen Joel Gjærsbøl und Jakob Bro sowie den Saxophonisten Lars Greve (u.a. Girls in Airports) und Otis Sandsjö. Traumverlorene Musik aus dem Ätherrauschen, eine ruhige Form der Elektronik mit besonderen Raum-Zeit-Sprüngen.


Vokalismo
Dänemark ist mit Vokalem reichlich gesegnet! Das passt ins hierzulande gängige Bild mit einigen wenigen, vor allem weiblichen Dauerbrennern (Nørby, Hyldgaard) sowie Efterklang, Agnes Obel und den Vokalisten im Trentemøller-Kontext als jüngsten, breiter bekannten Sprossen. In deren Halbschatten blüht und gedeiht ein breiteres Spektrum an hervorragenden, noch zu entdeckenden, näher kennenzulernenden Stimmen. Als Besonderheit darunter das achtköpfige weibliche Vokalkollektiv IKI, das sich improvisierend durch die musikalischen Genres hindurchsingt – vergleichbar noch am ehesten den Trondheim Voices.

Neben dem bereits erwähnten hohen Cantabilitäs-Gehalt, schält sich – stil- und genreübergreifend – noch ein anderer Zug des aus Dänemark kommenden Jazz heraus, den man als konstruktivistische Aufhebung von Dichte bezeichnen könnte. Dies kann als seine bestimmte Art der Leichtigkeit, als sehr eigene Art der Gebundenheit und Verbundenheit empfunden werden. Darin verbinden sich auf sehr spezifische Weise Exaktheit und Verspieltheit, Grazie miteinander - balancierend über den Abgründen der nackten Realität und den Dämonen der Alltäglichkeit.


Tafelmusiken
Zu guter Letzt ein Blick auf das, was einem in besonderem Maβe dänisch vorkommen könnte oder zumindest so etwas wie einen speziellen Kopenhagener Stempel trägt. Wie etwa die Frage: wie kann man dem Männlichen künstlerisch näherkommen, seine Prototypen musikalisch erlebbar machen? Darauf hebt das fake-alchemistisch angehauchte Album "Isle Of Men" des Trios Ibrahim Electric (Target Records) ab mit seinen zehn “mindblowing musical experiments based on the analysis of the male mind”. Oder: wie kann man so improvisieren, dass sich alles Intentionale, Zielgerichtete in Wohlgefallen auflöst? Und das Ganze nichtintentional! Das ist die Herausforderung, der sich ein Quintett um Schlagzeuger Peter Bruun auf dem gerade erschienen Album "Unintended Consequences" (ILK) stellt. Das Album ist – als erstes einer neuen ILK-Serie – ausschließlich in einer auf 100 Exemplare limitierten und nummerierten Vinylausgabe (1) mit handgeschriebenen Linernotes erschienen.

Zum Ausklang noch zwei Beispiele von Musik in gleichberechtigten Verbindungen mit Theater und Poesie. Verbindungen, die den Stempel wundersamen Verwandelns mit Entrückung, Unterminierung, Verträumung, aber auch solider Handfestigkeit tragen und wo fleißig und herrlich gesungen wird. Nicht gegen den Alltag, sondern zu dessen poetischer Verfremdung und Erhellung.

Das erste Beispiel ist die fünfköpfige Gruppe Sekten um Simon Toldam. In deren szenischer Inszenierung erscheinen aus dem Dunkeln auftauchend, mit Grubenlampen am Kopf, schwarzweiss-unisex gekleidete Geschöpfe mit Hornbrillen. Sie begeben sich zu Tische, tafeln und tauschen unterdessen am Tisch, über den Tisch, unterm Tisch, entlang dem Tisch, auf dem Tisch in wundersam alogischen Schritten Klänge miteinander aus, untergraben nach Ionescu-Art gängige Aufführungsrituale, wobei beiläufig die eine nach der anderen Improvisation Revue passiert. Musik als Theater und Wachtraum.

Das zweite Beispiel ist die Gruppe Eggs Laid By Tigers: drei Männer an der Gitarre und einer auf einer Philipsorgel aus den 60er Jahren singen in close harmony herzergreifende Songs als ob Levon Helm zur Erde zurückgekehrt wäre. Songs aufs Wesentliche beschränkt, straight, aber mit tiefem musikalischen Gefühl, Erinnerungs- und Sentimentqualität. Und mit mysteriösen Lyrics wie Under the mile off moon we trembled listening/To the sea sound flowing like blood from the loud wound… Die Musiker entpuppen sich als der Bassist Jonas Westergaard, Wahlberliner, Schlagzeuger Peter Bruun, Rockgitarrist Martin Ullits Dahl und Tastenmann Simon Toldam. Und die Texte, die sie singen: es sind Poeme von Dylan Marlais Thomas, dem Dichter mit dem nicht klein zu kriegenden Deliriker-Image. Eine ebenso verblüffende Metamorphose wie gelungener Rollenwechsel. Unaufgemotzt, weitab der Erwartungsmuster. Einfach so, Musik am poetischen Küchentisch.

(1) Wer in der dänischen Szene auf sich hält, bringt sein Album auf Vinyl in besonderer Aufmachung heraus – keine Beiläufigkeit, sondern Hauptsache, essentiell und Überzeugungssache.

Teil 2 folgt morgen, zum ersten Messetag der "jazzahead!".

Abbildungsnachweis:
Header: Farbvariation eines Details des Buch-Covers „Jazz i Danmark 1950-2010", Olav Harsløf, Politikens Forlag, 2011
Galerie:
01. Jazzhus Montmartre in Kopenhagen. Foto: © Jazzhus Montmartre
02. Niels-Henning Ørsted Pedersen (NHØP). Quelle: Björn Milcke, Wickipedia Germany
03. Nils Bosse Davidsen. © FoBo HenningBolte
04. Jakob Bro. © FoBo HenningBolte
05. Simon Toldam. © FoBo HenningBolte
06. Peter Bruun. © FoBo HenningBolte
07. Django Bates. © FoBo HenningBolte
08. Carsten Dahl. Foto: carstendahl.dk/press
09. Selvhenter (Roskilde Festival 2011). Foto: Mie Brinkmann
10. ikivocal. Foto: ikivocal.com/Media.

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