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Balu lebt! - Der Indische Lippenbär

Seit Walt Disney 1967 „Das Dschungelbuch“ nach Rudyard Kipling verfilmte, hat Mowglis treuer Freund Balu millionenfach Kinderherzen erobert. Die Vorlage dafür lieferte der Lippenbär, das bislang letzte unerforschte Großraubtier der Erde.
Zwei Hamburger Tierfilmer haben diese Lücke geschlossen. Im Auftrag des NDR drehten sie den ersten Dokumentarfilm über den extrem scheuen Bewohner des indischen Subkontinents.

„Bären in Indien? Die gibt es doch da gar nicht“. Immer wieder blickten Oliver Goetzl (43) und Ivo Nörenberg (41) in erstaunte Gesichter, wenn sie von Ihrem Filmprojekt erzählten. „Viele meinten, das hätte sich Rudyard Kipling bloß ausgedacht, dabei gibt es den indischen Lippenbären sogar relativ häufig “, sagt Goetzl. „Die Schätzungen belaufen sich auf bis zu 20.000 Tiere“.
Obwohl Lippenbären nur maximal 150 Kilogramm schwer werden und sich hauptsächlich von Früchten und Termiten ernähren, hält der Diplombiologe sie für die gefährlichsten Säugetiere Indiens. „Ich habe Fotos von Menschen gesehen, die Bären im Zuckerrohrfeld überraschten. Denen fehlte nach einem Prankenhieb das halbe Gesicht“.
Der Grund, warum die indischen Lippenbären bislang kaum erforscht wurden, liegt jedoch nicht an ihrer Gefährlichkeit, sondern an ihrer extremen Scheu vor der Zivilisation: „Sie leben so heimlich, dass man sie normalerweise nie sieht. Dazu sind sie noch hauptsächlich nachtaktiv“.

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In der südindischen Provinz Karnataka hat sich die Situation in den vergangenen Jahren jedoch verändert. In Daroji, ganz in der Nähe des Weltkulturerbes „Tempelstadt Hampi“ wurde 1994 ein Schutzgebiet für Bären eingerichtet. Dort leben mittlerweile 150 Bären auf 50 Quadratkilometer – so abgeschirmt und geschützt, dass sie ihr Versteck auch bei Tageslicht verlassen. Vor drei Jahren flogen die Hamburger Tierfilmer das erste Mal nach Daroji. Vier weitere Reisen und monatelange Dreh-Arbeiten folgten. Anfang 2011 machten sich Oliver Goetzl und Ivo Nörenberg das sechste Mal auf den Weg: „Im Februar werden die Jungen geworfen, das ist die spannendste Zeit zum Filmen“.

Dabei beobachteten die beiden nicht nur hinter Bambusverstecken oder Tarnnetzen, sondern wagten sich auch in die Höhle des Bären. „Auf den Brustwarzen“ sei er in das enge Loch gekrochen, um seine ferngesteuerten Kameras zu postieren, erzählt der zweifache Familienvater. Durchaus riskant, vor allem nachts hätte er „ein mulmiges Gefühl gehabt“, aber das Ergebnis sei einfach großartig.
Für leidenschaftliche Tierfilmer wie Oliver Goetzl sind solche Abenteuer nichts Besonderes. Zum Film kam der Zoologe noch während des Studiums über seinen Jugendfreund, den Kameramann Ivo Nörenberg. „Wir haben uns in den 80ern über den Vogelschutz kennengelernt“, erzählt Goetzl. „Ivo wollte schon immer Tierfilmer werden. „Als er seine erste Chance bekam, rief er mich an und fragte, ob ich mitkomme“. Das war 1999 und das Ergebnis hieß „Wildes Masuren“. Kurz darauf folgte „Die Kinderstube in Europas Tundra“ - seitdem haben die beiden rund ein dutzend Naturfilme für den NDR gedreht.

Bis zu 14 Tagen am Stück in einem Versteck, „in dem einer liegen und der andere sitzen kann“, gehört dabei zum Alltag. Die Toilette wird in verschließbare Kanister verrichtet. „Schon sehr positiv, wenn man sich lange kennt“, sagt Oliver Goetzl trocken. Intimsphäre könne in diesen Situationen niemand wahren.

Und dann natürlich die außerordentlichen Gefahren. Zum Beispiel am afrikanischen Grumeti-Fluss, einer Station in „Serengeti“, Reinhard Radkes faszinierender Dokumentation über die jährliche Wanderung der Gnus, Zebras und Gazellen vom Norden Tansanias bis zum Süden Kenias und zurück. Die Hamburger waren bei dem Film, der bundesweit in den Kinos lief, für die Special Effects zuständig. Nörenberg fing mit seiner 200.000 Euro teuren Superzeitlupen-Kamera Bilder ein, von denen Bernhard Grzimek bei seinem legendären Naturfilm „Serengeti darf nicht sterben“ 1959 nur träumen konnte. Dinge, die viel zu schnell für das Auge sind, werden durch bis zu 2.000 Aufnahmen pro Sekunde in aller Deutlichkeit sichtbar. So zum Beispiel, wie ein Wels mitten im Krokodilgetümmel in zwei Mäulern landet, um sich dann doch noch zu retten. Goetzl platzierte seine ferngesteuerte Kamera unmittelbar am Ufer, um die Reaktion der zurückschreckenden Gnus beim Zuschnappen der Krokodile aus Sicht der Reptilien einzufangen. Er ist sich wohl bewusst, dass er dabei leicht selbst hätte Opfer werden können. Nicht nur von Krokodilen. Auch von Elefanten, die zur Wasserstelle drängen oder von Nilpferden, die zum Grasen ihre Tümpel verlassen und auf dem Rückweg alles niedertrampeln, was sich ihnen in den Weg stellt. Dennoch sind die Tierfilmer grundsätzlich ohne Waffen und Wildhüter unterwegs. „Jede Nase stört“, so Goetzl. Und wenn ein Krokodil zuschnappt, sei sowieso alles zu spät. Dann könne man höchstens dem Menschen einen Gnadenschuss geben.

Den „absoluten Horror“ erlebte das Team aber nicht mit Tieren, sondern bei einem Unfall mit dem Heißluftballon im Uralgebirge, als es 2007 für die NDR-Serie „Wildes Russland“ unterwegs war: Der Ballon knallte gegen einen Berg, Goetzl wurde bewusstlos und als er wieder aufwachte, war er mit dem russischen Ballonfahrer allein an Bord. „Ich konnte Ivo 150 Meter unter mir entdecken und musste den Ballonfahrer, der kein Wort Englisch sprach, zur Bruchlandung zwingen“. Wie durch ein Wunder ging alles gut: Nörenberg überlebte den Sturz mit einer zerschmetterten Schulter und starker Unterkühlung, wurde von neugierigen Baschkiren in ein Krankenhaus gefahren und musste dort zum zweiten Mal gerettet werden: „Ein völlig besoffener Arzt wollte ihn operieren und riss erst einmal den kaputten Arm hoch“.

Ein dreiviertel Jahr später saßen beide wieder in einem Ballon – diesmal über Finnland. „Er landete in einem Baum und der fing Feuer“. Oliver Goetzl lacht. „Nein, für uns sind nicht die Tiere das gefährliche, sondern die Transportmittel“. Selbst mit Bären würden unglaublich wenige Unfälle passieren: „In Finnland konnten meine beiden Töchter die Bären aus einem Holzversteck in zwei Metern Entfernung beobachten. Kein Problem, die Tiere kannten uns.

Gefährlich wird es immer nur dann, wenn man die Tiere überrascht“.
Damit das nicht ausgerechnet beim letzten Dreh in Indien passierte, waren ausnahmsweise lokale Helfer vor Ort. „Die sichern beim Aufbau der versteckten Kameras die Höhle und machen notfalls Lärm, um die Tiere zu vertreiben“.
Anfang 2012 wurde die Langzeitstudie über zwei Bärenkinder von der Geburt bis zum Erwachsenwerden im Hamburger Passage-Kino vorgestellt. Nun kommt der Film, der zweifellos Geschichte schreiben wird, ins Fernsehen: Zum ersten Mal wird man sehen können, wie eine Bärenmutter ihre Jungen monatelang auf dem Rücken trägt, um sie vor Feinden zu schützen. Und wie sie ihren Nachwuchs mit einem Nahrungsbrei füttert, den die Neugeborenen direkt aus dem Maul trinken. Sensationelle Bilder, die nicht nur den Filmemacher, sondern auch den Zoologen Goetzl begeistern: „Das alles war noch nirgendwo beschrieben. Endlich haben wir gesicherte Erkenntnisse über Verhalten und Lebensweise der indischen Lippenbären“.


„HELD AUS DEM DSCHUNGELBUCH – DER LIPPENBÄR“ läuft Freitag, den 17. Februar 2012, um 19,30 Uhr auf ARTE (Wiederholungen: 24. Feb., 18,25 Uhr und 27. Feb 14,15 Uhr).

Die Langfassung “Jungle Book Bear“ und das anschließende Making Of “Entering the Bear's Den“ - beides mit David Attenborough als Sprecher -
wird Mittwoch, den 28. März 2012, 20 Uhr auf BBC TWO und zeitgleich auf BBC HD in der Naturfilmreihe „Natural World“ gesendet.

Die deutsche Hauptausstrahlung erfolgt in der Reihe „EWrlebnis Erde“ Anfang Juli 2012.

Fotos:
Header: Tierfilmer Oliver Goetzl
Galerie: Lippenbären

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