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Von großer Angst befreit?

„Berlin, hör auf deine Kinder“ – „Kinder würden Klima wählen“: Am Ende einer kleinen Reise von der Elbe durch die wiedererwachte Musiklandschaft an die Spree wird in der Hauptstadt mit solchen Wahlplakaten deutlich, dass die gesellschaftliche Infantilisierung inzwischen recht weit fortgeschritten ist.
„Bullerby Berlin“, so hat eine große Tageszeitung genannt, was die Politik dort in solchen Fällen erstaunlich offensichtlich prägt. Berlin ist der Schlusspunkt einer kleinen Musikreise, die Anfang August in Hitzacker begonnen hat, etwa auf halbem Weg zwischen der Haupt- und der Hansestadt Hamburg. Eine Reise, deren Stationen nicht geplant waren, die nach eineinhalb Jahren Corona auch die Frage aufwirft, ob und was sich ändert für die Musik. Genauer gesagt: für sie und für den Musikbetrieb. Soll der so weitergehen wir vorher? Wirft der Corona-Blick vielleicht die Frage auf, ob es neue Prioritäten und wenn ja welche, wenn nein, warum nicht geben sollte?

 

„Doch auf diesem Weg, der ungewiss noch / unseren wankenden Schritten bleibt/...“ Auch in Berlin gibt es so etwas wie Realität – in der Welt der Musik. Und geht es aus dem alternativen Slumberland in die Welten Händels - aus dessen Kantate „Donna, che in ciel di tanta luce splendi“ (HWV 233) stammt das Zitat - und Bachs, deren Musik bei einem Konzert des diesjährigen Musikfestes Berlin, gespielt von Sir John Elliot Gardiner und dessen English Baroque Solists und des Monteverdi Choir, erklang. Diese Ungewissheit ist Gegenbild zum selbstgewissen (Klima-)Schlaraffenland. „Donna, che. . .“ (Solistin: Ann Hallenberg; facettenreich) war eine von drei Kantaten, die bei Gardiners Konzert auf dem Programm standen, Bach „Christ lag in Todes Banden“ (BWV 4) und Händels „Dixit Dominus“ (HWV 232), beide noch stärker chorisch akzentuiert, die anderen. Wie eigentlich immer bei Gardiner gab es ungeheuer dynamische, klanglich bis ins feinste Detail ausgestaltete Interpretationen. Bestens gelungen die kurzen, aufstrahlenden Soli in dem aufstörenden Chorklang des ersten Satzes von „Dixit dominus“, der klangliche Extremismus von dessen „Juravit Dominus“ oder die pastorale Intimität des „De torrente in via“.

 

Bach und Händel sind im Gesamtprogramm des Musikfestes (noch bis zum 20. September; www.berlinerfestspiele.de) als Barockmusik eher Außenseiter, die dennoch in Verbindungen jenseits der Stilepochen wie etwa dem Blick auf die Potenziale der menschlichen Stimme im Zentrum des Programms angesiedelt sind. Goebbels, Gesualdo, Rihm sind einige derjenigen, in deren musikalischem Umfeld das Kantatenkonzert stattfand, und der im Programm zentrale Strawinsky, der sich in seinem Spätwerk immer wieder mit Alter Musik auseinandergesetzt hat.

 

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Begeisternd, und die Frage, wie viel vom riesigen Applaus in der Berliner Philharmonie diesen inspirierten Interpretationen gilt und wie viel der Freude, dass es überhaupt wieder Konzerte gibt, ist so offen wie letztlich unwesentlich. Die Karten für die Philharmonie sind für diesen Abend in Vollbelegung verkauft worden, ohne Abstand, mit 3 G, maskiert, keine Pause, kein Smalltalk am Rande – theoretisch, praktisch wäre auch ein Verkauf der Plätze im Schachbrettmuster problemlos möglich gewesen, in vielen Reihen sind Lücken. Umso eindrucksvoller der Applaus. Sonst ist das Konzert wie immer – abgesehen davon, dass die Hörer gesichtslos sind. Zeichen dafür, dass der „di giocondo, in cui togliesti noi de gran periglio“, der „Freudentag, an dem du uns von großer Angst befreitest“, von dem der erste Satz von „Donna, che...“ klangredet, von Gardiners Sängerinnen und Musikern mit wunderbar verlebendigten Kontrasten und großer, energiegeladener Elastizität interpretiert, nicht die Gegenwart meint. Ändert das das Hören?

 

Auch anderswo entsteht aus der lockeren Besetzung der Reihen im Rund um die Bühne eine Atmosphäre, die der Konzentration auf das Hören förderlich, dem Etat aber natürlich abträglich ist. Gut 200 Kilometer liegen zwischen Berlin und Hitzacker. Was in der Berliner Philharmonie seit Anbeginn Fakt ist, dass nämlich das Publikum im Rund um die Bühne sitzen kann, ist bei den Sommerlichen Musiktagen dort an der Elbe seit dem Vorjahr neu. Das Festival, sechs Jahre älter als das Musikfest Berlin, gehörte schon im Vorjahr zu den Pionieren einer Fortexistenz des Musiklebens in Corona-Zeiten. Unter anderem mit einer extrem aufgelockerten Saalbestuhlung, die nicht nur gedoppelte Konzerte, sondern auch eine deutliche Erleichterung fürs konzentrierte Hören bedeutete. Die Bühne in der Saalmitte – auch das Verdo (so der Name des Konzertsaales in Hitzacker), architektonisch gewiss in einer anderen Liga spielend als die Berliner Philharmonie und natürlich deutlich kleiner, macht das akustisch möglich. Es klingt eher besser als von der Bühne aus – die in diesem Jahr nur beim Schubert-Projekt „Silent Songs into the Wild“, für das sich das Kuss Quartett von Oliver Wille und die Berliner Compagnie Nico & The Navigators zusammengetan hatten Ort des Geschehens war. Irgendwo zwischen multimedialem Spektakel und Blick auf Schubert von heute aus angesiedelt – ist das überhaupt zu trennen? Das Festival hat sich die Aufgabe gestellt, Schubert in die Gegenwart zu holen. Es gab eine Uraufführung von Iris ter Shiphorst, eine weitere des Elektroakustikers Clemensvon Reusner. Der spürt in „KRENE“ den akustischen Subtexten der Klänge von Schuberts letzter Klaviersonate nach, in deren Mitte geschnitten das neue Werk erklang. Immer wieder gelingt es der ganz anderen Klangsprache von „KRENE“, Stimmungen und Affekte der Klaviersonate ins Licht zu holen.

 

Wenig sagend dagegen das Virtual-Reality-Projekt „Schubert.SPACE“, in dem mehr das Potenzial dieser Technik im Vordergund stand. „Schubert.JETZT!“ war das Festivalthema, immer mal wieder wurde deutlich, dass Schubert.JETZT! vielleicht doch besser einfach „Schubert“ hieße. Etwa beim Auftritt von Sir András Schiff, bei dem von Mischa Maisky und dem Kuss Quartett mit dem Streichquintett C-Dur (D956), beim Streichquartett D-Dur (D 887) und dem in d-Moll „Der Tod und das Mädchen". Von einem „wunderlieblichen Ton" hat es Schubert einst geträumt – er prägt diese Musik, in der Freude und Melancholie, Glück und Verzweiflung zu einem Neuen zu verbinden, zu einer Art Glückschmerz, wie ihn auch die brasilianische Musik als „Saudade" kennt, als Sehnsucht, die zugleich Erfüllung ist. Von einer „so vollkommen andere Welt" hat der Dirigent Nikolaus Harnoncourt mit Blick auf Schuberts Musik gesprochen.

Rund 50 Kilometer elbaufwärts von Hitzacker spielt Schubert eine Rolle. Schubertiaden nennt sich ein Kleinfestival in der Mini-Stadt Schnackenburg (knapp 300 Einwohner), das in diesem Jahr seit 28 Jahren stattfindet. Der Name ist nicht unzutreffend: auch wenn es ein bisschen franzelt, waren die Schubertiaden zu Lebzeiten des Komponisten Hauskonzerte für kulturell interessierte Bürger. Daran orientiert rief der Pianist Arkadi Zenzipér, bis heute Spiritus rector, das Event ins Leben. Die ersten Jahre waren auch von diesem Ansatz geprägt, irgendwann wich das quasi-spontane Musizieren unter Freunden – Zenzipér viele Kontakte in der Musikszene, besonders in der der russischen Emigration, zu er selbst rechnet – und vor Publikum einer Folge von des öfteren unterprobten, repertoire-begrenzten Auftritte mit einem Hang zum musikalischen Pathos. Dieses Jahr war die Leichtigkeit wieder da, zumindest beim Eröffnungskonzert, zu dem unter anderem zwei Mitglieder des Israel Philharmonic Orchestra, Stammgäste in Schnackenburg, angereist waren: Open-Air in einer Spätsommernacht wird auch Tschaikowsky entpathetisiert. Corona-Open-Air: das bedeutet Abstriche am Klang, aber eine Geslöstheit, die Konzentration auf die Musik fördert. Auch hier wieder: lockere Bestuhlung, eine kleinere Gästezahl. Der Musik schadet das nicht, im Gegenteil.

 

Typisch Wendland: Irgendwas mit Kultur machen dort gerne. Im wendischen Haus sind viele Wohnungen, man ist dort basisinitiativ und selbstverliebt (und überschätzt sich gerne Mal). Das hat sich rumgesprochen, und so gibt es nun ein neues Kleinfestival, das sich „Wendländischer Musikherbst“ nennt und für das der in Wiesbaden lebende und in der Lüchow-Dannenberger Musikwelt bisher noch nicht in Erscheinung getretene Ulrich Backofen verantwortlich zeichnet. Der ist Dirigent (er hat sein Handwerk unter anderem bei Kurt Masur gelernt), stammt aus Dresden, wurde 1983 in die Bundesrepublik ausgewiesen und tut sich schwer damit, für das Publikum interessante Informationen über Idee, Programm, die (erhoffte) Rolle des Musikherbstes im mit Musikereignissen nicht gerade unterversorgten Lüchow-Dannenberg und seine Intentionen zu geben. Eine Presse-Information merkt lediglich lapidar an, dass die Elbe die „Dresden und die Metropolregion Hamburg“ verbindet, die für Backofen als DDR-Bürger „durch absolut undurchlässige Grenzen versperrt war“. Ähnlich floskelt sich der Text um Programmkonzept und Beteiligte des von der Stiftung für Klassische Europäische Musik (Gründer: Ulrich und Sibylle Backofen) getragenen Festivals: dass „alle Mitwirkenden von ausgesuchter internationaler Qualität“ seien und „einige der größten Meisterwerke“ der europäischen Musik böten. Aha. Arnold Schönbergs „Verein für musikalische Privataufführungen“ nennt Backofen als Inspirationsquelle für sein von der „Stiftung für Klassische Europäische Musik“ (gegründet von Ulrich und Sibylle Backofen) getragenes Festival – kein kleiner Maßstab.

 

Das Eröffnungskonzert bestritt das Philharmonische Streichquartett Berlin, dessen Mitglieder bei den Berliner Symphonikern spielen und ihr Handwerk verstehen. Das Ensemble bot Interpretationen, die musikalische Eigenständigkeit, Feuer und feinfühlige Präzision verbanden. Lediglich ein durchgängiger Hang zum starken Forte-Grundtonfall störte gelegentlich - dieser Hang zum explosiven Klang verband Mozarts Divertimento Es-Dur und Erwin Schulhoffs „Fünf Stücke für Streichquartett“ plausibel, dem ohnehin exaltierten Streichquartett Nr. 13 G-Dur von Antonin Dvoraks hätte Zurückgenommenheit gut zu Gesicht gestanden. „Heimat“ sei das Thema des Programms, wenn es ein solches gäbe, hatte Cellist Christoph Heesch einleitend gesagt.

Noch kleiner ist eine selbstorganisierte Konzertreihe in Restorf, angetreten unter dem Motto „Die Kirche im Dorf lassen“. Einerseits bezieht sich das auf das Gebäude, andererseits darauf, dass die MusiKKirche zeigen will, dass auch in der Musik anderer nicht nur der üppigen Zuschüsse bedarf, dass auch mit geringen Mitteln Qualität entstehen kann. Und dann gibt es immer mal wieder Glücksfälle: Die Corona-Zwangspause wurde mit einem Konzert von Christina Bock beendete wurde. Die junge Mezzosopranistin singt derzeit in Wien die Ottavia in Monteverdis „Poppea“, war in London und Dresden und einigen anderen nicht unbekannten Orten wie Salzburg oder Bregenz zu hören und gab in Restorf ein Openair-Konzert, bei dem der Basso continuo vom Jazzpianisten Florian Kästner nicht nur gespielt, sondern neu gefasst wird. „Bach Blue Notes“ schweben durchs Dorf.

 

Und mit Bach noch einmal zum Genre der Vokalmusik und damit nach Hitzacker und nach Berlin, wo John Eliot Gardiner in seinem Konzert beim Musikfest dessen frühe Kantate „Christ lag in Todesbanden“ (BWV 4) aufführte. „Den Tod niemand zwingen kunnt“ / bei allen Menschenkindern“ heißt es in dem von Monteverdi-Choir und Baroque Soloist energiefunkelnd und der Hoffnung, die den Text letztlich dominiert, fast schon berauscht Ausdruck gebend. Das entstand als Ausdruck christlicher Heilsgewissheit, als Ausdrucks des Dreiklangs „Glaube – Krise – Hoffnung“. Von dem spricht auch Leo Hasslers 1599 komponierte „Missa Octo Vocum“. Sie erklang in einem Programm unter jenem Titel gesungen vom Voktett Hannover, bei den Sommerlichen Musiktagen in Hitzacker zwischen ihre fünf Sätze geschnitten erlebten vier zeitgenössische Werke ihre Uraufführung, die sich direkt auf die Erfahrung der Pandemie beziehen. Shadi Kassaees „Åwåye Darun" richtet das sensible Ohr auf die „innere Stimme", Alberto Arroyos „Letum non omnia finit (Der Tod endet nicht alles)" ist am Rande des Klingens angesiedelt. Um König Salomos Einsicht in die Eitelkeit alles Tuns und die Verdrängung dieser Erkenntnis kreist Friederike Bernhardts Werk, Max-Lukas Hundelshausens „Zeig mir dein Gesicht" nimmt direkten Bezug auf die Eingrenzungen und Entpersönlichungen des Corona-Shutdowns.

 

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