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Kann eine Fünfzehnjährige stolz auf ihren Vater sein, der erfolgloser Verkäufer von Markisen ist? Um es vorwegzunehmen: Ja, sie kann.

Dass dies möglich ist und darüber hinaus immer und überall neuer Raum für eine neue, wenn auch andersartige Beziehung entstehen kann, davon erzählt Jan Weiler in seinem Roman „Der Markisenmann“.

 

Als Jan Weilers Tochter zwölf Jahre alt war, bat sie ihn, einen Roman für sie zu schreiben. Mittlerweile ist sie 33, das Buch ist endlich fertig und sie ist einverstanden mit dem Werk ihres Vaters, verrät Weiler im „Buchjournal“-Interview.

Was lernen wir daraus? Möglich sind gute Beziehungen immer. Selbst Beziehungslosigkeit kann sich wandeln, kann sich verwandeln in eine liebevolle Verbindung. Das gilt selbst dann noch, wenn die Kinder längst erwachsen und die Eltern längst entzaubert sind. Davon erzählt „Der Markisenmann“. Es ist ein Buch über das Erwachsenwerden und das Altern, über die Geheimnisse in Familien, über Schuld und Verantwortung und über vieles andere mehr.

 

Weiler Der Markisenmann COVERWas wissen wir schon über unsere Eltern? Meistens nicht viel, schlimmstenfalls sogar gar nichts. Die 15jährige Ich-Erzählerin Kim jedenfalls hat ihren Vater Ronald Papen noch nie gesehen. Als Kim zweieinhalb Jahre war, ging ihre Mutter Susi mit Kim vom Vater fort. Zu jung, um sich zu erinnern. Was also soll Kim also noch von ihm wissen? Schlimmer noch: Was also soll sie von ihm überhaupt wissen wollen? Abgeschoben von der Mutter für die Zeit der Sommerferien zum unbekannten Vater, erweist sich dieser als Niete, als absolut erfolgloser Vertreter von Markisen. Erst als sich die Tochter entschließt, ihm beim Verkauf seiner hässlichen Markisen im knallharten Haustürgeschäft zu helfen, ändert sich das Leben von Vater und Tochter für immer.

 

Doch der Weg dahin ist lang. Er beginnt mit einem Gefühl der Enttäuschung, wie Kim uns im Prolog berichtet: „Wenn ich an diesen Moment an diesem Sommertag […] zurückdenke, […] fällt mir kein Bild ein, sondern ein Gefühl: Enttäuschung. Ich war wirklich enttäuscht, als ich zum ersten Mal meinen Vater sah.“

 

Sie hatte sich ihren Vater anders vorgestellt, auf jeden Fall groß und stark. Doch als sie ihn endlich kennenlernt, weil er sie in Duisburg vom Bahnhof abholt, steht vor ihr ein kleiner, zarter, zerstreuter Mann, der ein Schrottauto fährt und in einer Lagerhalle wohnt. Er ist der „Markisenmann“ – 3.406 Markisen hat er in seiner Halle liegen. Es handelt sich dabei um einen Deal aus der Wendezeit, ein echtes Schnäppchen, einst einem DDR-Unternehmer abgekauft. Markisen, die niemand mehr haben will.

 

Dreizehn Jahre hatten Vater und Tochter keinen Kontakt. „Mama hat das immer damit begründet, dass mein Vater kein Interesse an mir habe.“ Das ist bitter, das ist hart, das betrifft viele Alleinerziehende und deren Kinder. So kann es (er)gehen, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Als einziger Beleg dafür, dass es ihren Vater überhaupt gibt, er existiert (hat), dient Kim ein Foto, auf dem das Gesicht des Vaters jedoch kaum erkennbar ist. Irgendwann verschwindet dieses Foto aus dem Album und damit auch endgültig Kims Erinnerung.

 

Manchmal erwähnt Stiefvater Heiko noch den Vater, er nennt ihn den „feinen Herrn Papen. Ich wusste noch nicht, was Sarkasmus war“, erzählt uns Kim und entwickelt vor unseren Augen die Vorstellung eines feinen Herrn, vielbeschäftigt, mit Sonnenbrille und dreiteiligem Anzug. Manchmal tagträumt sie, sie überrascht ihren Vater im Büro, der wedelt den Zigarrenrauch beiseite, um sie besser sehen zu können, und sie ruft: „Warum kommst du mich nie besuchen! Mehr Klage als Frage. Aber ich erhielt keine Antwort.“ So anrührend, wie der Prolog uns einführt in die folgende Geschichte einer wachsenden Beziehung, so anrührend gelingt es Jan Wagner, seinen Roman fortzuschreiben und zu beenden. Die kindliche Stimme des erwachsenen Erzählers trägt uns Leser*Innen durch das Buch.

 

Leicht hat Kim es wahrlich nicht: Stiefvater Heiko Mikulla und Susi und ihre Mutter haben einen gemeinsamen Sohn. Geoffrey ist sechs Jahre jünger als Kim und wird Jeff oder Jeffy genannt „wie ein Cockerspaniel. […] eine „menschgewordene Heulboje, die bei der kleinsten seelischen Erschütterung in Betrieb geht“. Niemand interessiert sich für Kim, alle interessieren sich nur für Jeff. So jedenfalls fühlt es sich für Kim an. „Die Wahrheit ist, dass ich eine emotional vernachlässigte, aber materiell verwöhnte Tochter war.“ Heiko kauft und verkauft Firmen, die Familie Mikulla ist wohlhabend, wenn nicht gar neureich. Wenn Kim die heimische Atmosphäre satt hat, dann zieht sie sich in ihre (großes) Zimmer zurück oder besucht ihre Freundin Delia, ebenfalls aus äußerlich reichen Verhältnissen. Delia bringt ihr das Rauchen und das Klauen bei. Die beiden ziehen raubend durch die Kölner Innenstadt, Kim verdient bei ihren Mitschülerinnen Tausende mit geklauten Kosmetikartikeln. „Was ich lieber gestohlen hätte, was sich aber nicht stehlen ließ, waren gute Momente mit Mama.“ Schlechte gab es genug.

 

Delia hat Kim einfach sitzengelassen, will nichts mehr mit ihr zu tun haben. Selbst mehrfach in der Schule sitzengeblieben – sie ist jetzt in der achten Klasse und hätte eigentlich in die elfte gehört – erscheint ihr Kim plötzlich als zu jung für einen gehörigen Umgang. Und Max, der schönste Junge der Schule, will Kim nur vögeln und weiter nichts. Und so geschieht es auch. Verlassen zu werden, scheint für Kim ein Lebensprinzip zu sein. Und dann nahen die Sommerferien. Zuvor aber gibt es ein Ereignis, das äußerst dramatisch ist, mit einer kleinen Spritze Humor versehen beinahe lakonisch, aber überzeugend erzählt wird. Von diesem Ereignis soll hier allerdings nicht berichtet werden aus Gründen, die logisch sind: die Spannung soll für Leser*innen erhalten bleiben. Dass Geheimnis wird an dieser Stelle also nicht gelüftet! Fertig aus. Doch aus ist die Geschichte noch lange nicht. Sie beginnt erst jetzt so richtig, und wir dürfen uns getrost und angstfrei hineinfallen lassen, um bereichert und beglückt wieder aufzutauchen.

 

Fast beiläufig lernen wir für den Verlauf des Romans wichtige Menschen kennen. Menschen, die uns begleiten, weil sie Vater und Tochter begleiten. Menschen wie Achim, Lütz, Klaus und Oktopus, die dummerhaftig genug sind, um jede Gelegenheit zu nutzen, ihr weniges Geld zu verwetten. Die schlau genug sind für clevere Geschäftsideen wie die Eröffnung einer Sommerbar. Menschen wie Alik, der nicht so recht weiß, wie er wirklich heißt; Alik oder Malik. „Meine Mutter ist Russlanddeutsche, mein Vater ist Tunesier.“ Doch auch in diesem Fall ist nicht die Herkunft entscheidend, sondern das, was der Mensch aus sich macht. Am Anfang schreibt der Vater nach jedem Hausbesuch immer wieder in sein Kassenbuch den Buchstaben „N“. „N bedeutete so viel wie „Nein“. Oder „Nicht“. „Null“, „Nada“, „Niente. Seitenweise Neins.“ Doch auch das bleibt nicht so. Die Welt verändert sich, im Kleinen wie im Großen. Wir verändern uns. Im Kleinen wie im Großen. Am Ende sind wir alle gleich. Aber erst dann, wenn wir schon tot sind.

 

Der Literaturkritiker Denis Scheck sagt über den Autor dieses Buches: „Jan Weiler ist einer der interessantesten Autoren der deutschen Gegenwartsliteratur, weil er nicht nur über seine eigene Sicht auf die Welt verfügt, sondern auch über eine eigene Sprache, diese Sicht auszudrücken.“ Geprägt ist der Roman von einer stillen Melancholie. „Das ist einfach mein Thema“, sagt der 1977 in Düsseldorf geborene Autor im bereits zuvor erwähnten „Buchjournal“-Interview: „Meine Geschichten sind immer traurig und melancholisch, manchmal auch ein bisschen sentimental.“ Dem Zufall überlässt Jan Weiler dabei wenig: „Ich kann immer erst schreiben, wenn ich alles schon in meinem Kopf habe und die Geschichte fertig ist. […] Ich kann nicht ein Buch zwei- oder dreimal anfangen. Da würde ich die Lust verlieren.“ Man kann das Buch allerdings gut und gerne mehrfach lesen. Nichts spricht dagegen. Nichts wie „N“.


Jan Weiler: Der Markisenmann

Roman

Heyne Verlag 2021

Hardcover, Pappband, 336 Seiten

ISBN: 978-3-453-27377-1

eBook epub: ISBN: 978-3-641-28590-6

CD: Hörbuch-Verlag: Ean 9783844545463

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