Literatur Magazin
- Geschrieben von Dirk C. Fleck -
Offener Brief an meine reichen Freunde
Ich bin einer dieser 0,01 Prozent stolzer und uneinsichtiger Kapitalisten. Ich bin einer von Ihnen. Ich habe etwa dreißig Unternehmen in unterschiedlichen Branchen mitbegründet und finanziert. Vom Nachtclub bis zum Onlineversand. Ich bin der Gründer eines Internet-Werbeunternehmens, welches vor einigen Jahren von einem Softwarehersteller für sechs Milliarden US-Dollar übernommen wurde. Ich sage Ihnen das, weil ich in vielerlei Hinsicht nicht anders bin als Sie. Für meinen Erfolg führe ich ein Leben, von dem 99,9 Prozent der Menschen nicht einmal zu träumen wagen.
- Geschrieben von Dirk C. Fleck -
Tetiaroa verschlug Eric Becher jeden Morgen aufs Neue die Sprache. Das zweiundvierzig Kilometer nördlich von Tahiti gelegene Atoll mit seinen dreizehn kleinen Inseln (Motus), die sich wie eine Perlenkette um den Hals der kristallklaren Lagune legten, war eine faszinierende Naturschönheit, dessen fragiles Ökosystem durch den ansteigenden Meeresspiegel in absehbarer Zukunft allerdings stark gefährdet war. Aber noch fanden hier über dreißigtausend einheimische Seevögel Zuflucht, diente das Korallenriff den Meeresschildkröten als Brutstätte, war es die Heimat der größten Landkrabbe der Welt.
- Geschrieben von Dirk C. Fleck -
Sie waren alle abgereist, Steve eingeschlossen. Nur er hockte noch in diesem Kaff und wartete darauf, dass die Garage ihm endlich das versprochene Elektroauto zur Verfügung stellte. Das konnte noch drei bis vier Tage dauern. Beim Frühstück stieß Cording auf die dreiköpfige Delegation der Tukano, die zu seiner Überraschung ebenfalls zurückgeblieben war. Die Tukano lebten im Uaupes-Becken im nordöstlichen Regenwald des Amazonas.
- Geschrieben von Dirk C. Fleck -
Cording war früh wach geworden. Er wartete auf der Terrasse, wo er in einer Stunde mit Steve verabredet war. Außer ihm war niemand da. Zwei Drosseln nutzten das Geschenk der Stille, um sich über eine Entfernung von fünfzig Metern ausgiebig miteinander zu unterhalten, von Baum zu Baum. Keine der beiden fiel der anderen ins Wort, aber die Antworten erfolgten prompt.
- Geschrieben von Dirk C. Fleck -
Steve konnte es nicht erwarten, Maeva wiederzusehen. Kaum hatte der Reva Tae die Endstation in Tautira erreicht, begann er seine Schritte zu beschleunigen. Im Vaiami-Tal fing er an zu laufen, und weil ihm der Weg am Flussufer zu steinig war, lief er dort entlang, wo das Wasser drei Zentimeter hoch war und unter seinen Schritten gehörig spritzte. Dass Rudolf ein anderes Tempo angeschlagen hatte, bemerkte er nicht einmal. Nach fünfhundert Metern hockte er sich atemlos ins Gras, Rudolf setzte sich zwei Minuten später dazu.
- Geschrieben von Dirk C. Fleck -
Die Straße war in einem erbärmlichen Zustand. Die Busse hatten das Tempo entsprechend gedrosselt, sodass man sich in Ruhe der Ödnis Oklahomas widmen konnte, die sich durch die Dürren der letzten Jahre in Richtung Wüste orientierte. Die Wälder auf den abgewirtschafteten Feldern und verdorrten Maisplantagen bestanden aus jenen Bohrtürmen, von denen Ted Holcomb gesprochen hatte. Menschen sah man dort draußen kaum, nur Bauarbeiter mit roten, gelben, blauen oder grünen Schutzhelmen, je nachdem, für welche Firma sie die Erde schändeten. Zu einer Kontaktaufnahme mit seinem Sitznachbarn war es gestern Abend nicht gekommen, der Penner war sofort auf sein Zimmer verschwunden.
- Geschrieben von Dirk C. Fleck -
Den etwas unrund laufenden Mustang hatten sie vor der Stadtgrenze einem Gebrauchtwagenhändler für vierhundert Dollar abgekauft. Der Mann war weder an ihren Ausweisen noch an den Führerscheinen, Sozialversicherungsnachweisen oder Kreditkarten interessiert, er strich das Geld bar ein.
Sechs Stunden waren Cording und Ted Holcomb mittlerweile unterwegs, sechs Stunden, in denen sie es von Detroit nach Fort Wayne in Indiana geschafft hatten. Cording tat das, was er Ted versprochen hatte: Er hörte ihm zu. Da sein Begleiter keinen Führerschein besaß, war er der Verpflichtung enthoben, ihm permanent in sein beklagenswertes Gesicht schauen zu müssen.
- Geschrieben von Dirk C. Fleck -
Andrew Blair musste sich eingestehen, dass er nervöser war, als gedacht. Zwar hatte er die Gepflogenheiten der Zielperson in den letzten Wochen genauestens studiert, aber jetzt, da es zum Showdown kam, schien ihm die Entschlossenheit auf mysteriöse Weise abhandengekommen zu sein. Zum wiederholten Male putzte er den Lauf seiner Beretta, als wollte er sich die Waffe zum Freund machen. Schließlich setzte er ihr den Schalldämpfer auf und verstaute sie in dem Trenchcoat, der griffbereit über der Stuhllehne lag. Aufbrechen aber mochte er noch nicht. Er legte sich aufs Bett und lauschte dem Straßenlärm, der durch das geöffnete Kippfenster ins Zimmer drang.
- Geschrieben von Dirk C. Fleck -
Rudolf flog den Tepual International Airport von Süden an. Zur Rechten konnte Steve die Hafenstadt Puerto Montt erkennen, die in Chile das „Tor zum letzten Drittel” genannt wurde. Das letzte Drittel dieses schmalen Handtuchstaates an der Westküste Südamerikas war dem Rest der Welt als Patagonien bekannt, wobei die Anden das Gebiet in einen chilenischen und einen argentinischen Teil trennten. Der Name Patagonien, das hatte Steve in der Vorbereitung auf sein Treffen mit Malcolm Double U herausgefunden, ging auf den portugiesischen Entdecker Ferdinand Magellan zurück, der den einheimischen Tehuelche-Indianern, denen er 1520 in Feuerland begegnet war, aufgrund ihrer großen Statur den Namen patagones gegeben hatte.
- Geschrieben von Dirk C. Fleck -
Detroit, 5. Juni 2035
Das Interview ist geschrieben und bereits übermittelt. Mike konnte sein Glück kaum fassen. Aus seiner Sicht ist die Freude verständlich. Eine Todesliste mit hundert prominenten Namen aus Wirtschaft und Politik bekommt man nicht alle Tage frei Haus. Auf Befehl des Verlegers wurde der Erscheinungstermin sogar um vierzehn Tage vorverlegt.
- Geschrieben von Dirk C. Fleck -
Rajani Bala wohnte bei Maeva im Gästehaus. Maeva war überrascht, wie problemlos die ältere Freundin auf ihr tätowiertes Gesicht reagierte. Rajani schob die irritierende Fassade wie einen Vorhang beiseite und schaute direkt in ihre Seele. Das war noch niemandem so gut gelungen. Rauura vielleicht, dem solche Zeichnungen nicht die Sicht versperren konnten.
Die Frauen plauderten und lachten bis spät in die Nacht. Am nächsten Morgen, beim Frühstück auf der Terrasse, äußerte Rajani die Bitte, das Elternhaus sehen zu dürfen, in dem die „regierenden Geschwister”, wie sie Maeva und Omai nannte, aufgewachsen waren. „Außerdem, sagte sie, „hätte ich gerne deinen Lieblingsplatz auf der Insel kennengelernt. Jeder Mensch hat doch einen Lieblingsplatz…”
- Geschrieben von Dirk C. Fleck -
Eric Becher las das Schreiben des tahitianischen Präsidenten Omai aufmerksam durch. Er rief bei seinem Freund und Kollegen Max Malin in Berlin an, um ihn zu fragen, ob er ebenfalls Post aus Polynesien erhalten habe. Malin war nicht da, also nahm er den Brief erneut zur Hand:
- Geschrieben von Dirk C. Fleck -
Mike Kühling hatte Cording dazu bewegen können, ihn zu einem Interview mit dem japanischen Dissidenten Akiyama Kobayashi zu begleiten, das dem EMERGENCY-Magazin nach monatelangen Bemühungen endlich gewährt worden war. Aber nur dessen Chefredakteur, darauf hatte der Japaner bestanden. Kobayashi wohnte im Engadin, im Städtchen Maloja, nahe der italienischen Grenze. Ein Interview mit diesem Mann, der als eine der zentralen Gestalten jener Wissenschaftsclique galt, die Japan vor drei Jahren durch einen elektronischen Staatsstreich von der Zivilisation abgekoppelt hatte, wäre, so spekulierte Kühling, die ideale Fingerübung, um Cordings fatale Schreibblockade aufzuheben.
- Geschrieben von Dirk C. Fleck -
Hintergründe, Bezüge und Wissenswertes zur Arbeitsweise und zu den Informationsquellen des Autors lesen Sie bitte am Ende jeder Folge:
Der Schamane Rauura hatte Tahitis Präsidenten Omai in sein Fare auf den Te Pari bestellt, jener unwegsamen Gebirgslandschaft im äußersten Osten Tahiti Itis, die einer zivilisierten Erschließung bis heute getrotzt hatte. Das Haus lag oberhalb einer verfallenen Tempelanlage der Arioi direkt an der Steilküste über dem Trou du Diable, dem „Teufelsloch”, aus dem sich das gurgelnde Geräusch der Brandung permanent bemerkbar machte.