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PIERRE RADVANYI (1926-2021), der Sohn von Anna Seghers, ist in der Nacht zum 6. Dezember im 96. Lebensjahr in Paris gestorben.
Die Anna-Seghers-Gesellschaft und die Anna Seghers-Stiftung verlieren einen engagierten Streiter für das Werk seiner Mutter, einen liebenswerten Menschen und sehr guten Freund. Unser Mitgefühl gilt seiner Frau Marie-France (Mizou) sowie seiner großen Familie, die immer eine zentrale Rolle in seinem Leben spielten.

 

AUS PETER WURDE PIERRE

Als Peter Radvanyi wurde er am 29. April 1926 in Berlin geboren. Seine Eltern, Netty Radvanyi (geb. Reiling) und Laszlo Radvanyi, hatten sich in den 1920er-Jahren beim Studium in Heidelberg kennengelernt und waren 1925 nach Berlin gezogen. Dort wurde aus Netty Radvanyi die Schriftstellerin Anna Seghers, die 1928 den renommierten Kleist-Preis erhielt, u.a. für ihre erste große Erzählung "Aufstand der Fischer von St. Barbara". Es war auch das Geburtsjahr von Peters Schwester Ruth. 1933 musste die Familie aus Deutschland fliehen. Anna Seghers war Jüdin, sie und ihr Mann waren zudem Mitglieder in der Kommunistischen Partei Deutschlands. Von 1933 bis 1941 lebten sie im Pariser Exil. Aus Peter wurde Pierre. Seine Schwester und er lernten in der Schule schnell die französische Sprache, fügten sich in die neue Umgebung und fanden französische FreundInnen und Spielgefährten. In dieser Zeit (1938/39) schrieb Anna Seghers ihren berühmtesten Roman "Das siebte Kreuz", der Anfang der 1940er-Jahre ihren Weltruhm begründen sollte. Als kaum 14-jähriger Junge musste Pierre Verantwortung für die Familie übernehmen, vor allem, als sein Vater in das Internierungslager Le Vernet eingeliefert wurde.

 

Unter abenteuerlichen Umständen gelang der Familie die Flucht aus dem besetzten Paris über Marseille nach Mexiko. Anna Seghers hat den Kampf um die nötigen Ausreisepapiere in ihrem Roman "Transit" literarisch verarbeitet. Auch in Mexiko besuchten die Kinder Pierre und Ruth eine französische Schule. Pierre Radvanyi schreibt in seinem Buch "Jenseits des Stroms. Erinnerungen an meine Mutter" (2005), dass er sehr unglücklich darüber war, Frankreich verlassen zu müssen und auch deshalb zunächst nur langsam und zögernd Spanisch lernte. Das mexikanische Exil dauerte sechs Jahre. Anna Seghers erlebte hier mit dem Erfolg des Romans "Das siebte Kreuz" den Höhepunkt ihres schriftstellerischen Schaffens. Doch sie erlitt auch einen schweren Unfall, der sie fast das Leben kostete. Zudem erfuhr sie, dass ihre Mutter nach Polen deportiert und in einem Konzentrationslager der Nationalsozialisten ermordet worden war.

 

ARBEIT als PHYSIKER am CRNS in PARIS

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zog es vor allen anderen den 19-jährigen Pierre zurück nach Frankreich. 1945 begann er das Studium der Physik an der Sorbonne in Paris. Später promovierte er in Kernphysik richtete sein berufliches und privates Leben in Frankreich ein. Viele Jahre lang arbeitete er unter der Leitung von Irène und Frédéric Joliot-Curie am Centre National de la Recherche Scientifique (CRNS) in Orsay bei Paris, wo er bis zu seinem Tod auch lebte.

 

GRÜNDUNG ANNA SEGHERS GESELLSCHAFT

Für das Werk seiner Mutter setzte er sich zeitlebens ein. Oft besuchte er sie, auch zusammen mit seinen drei Söhnen, in Berlin. Seine Schwester Ruth und er waren wesentlich an der Gründung der Anna-Seghers-Gesellschaft im Jahr 1991 beteiligt. Sie widmet sich bis heute dem Studium und der Verbreitung des Werkes, der Pflege ihres Nachlasses sowie der Erinnerung an ihr Leben. Pierre Radvanyi ließ es sich nicht nehmen, an den Jahrestagungen der Gesellschaft teilzunehmen, die in Berlin und Mainz stattfanden. In Mainz gehörte der Besuch des Doms, jenem Bauwerk, das im Roman Das siebte Kreuz eine so zentrale Rolle spielt, immer zum selbst gewählten Pflichtprogramm. Auch die rheinhessische Küche, zum Beispiel Markklößchensuppe, liebte er sehr. Als Zeitzeuge beeindruckte Pierre Radvanyi immer wieder mit Erinnerungen an seine Mutter und bahnte Zuhörer/innen jeglichen Alters neue Wege zu Anna Seghers und ihrem Werk.

 

ANNA SEGHERS-PREIS aus TANTIEMEN

Seine Mutter hatte testamentarisch verfügt, dass mit den Tantiemen ihrer Bücher ein Preis finanziert werden sollte, der jeweils an eine Autorin oder einen Autor aus dem deutschen sowie aus dem lateinamerikanischen Sprachraum geht. Diese Aufgabe übernimmt heute die Anna Seghers-Stiftung. Als Mitglied des Vorstands hat es Pierre Radvanyi stets viel Freude bereitet, die Preisträgerinnen und Preisträger auszuzeichnen, die oft noch am Beginn ihrer schriftstellerischen Karriere standen.

Mit Pierre Radvanyi verlieren Gesellschaft und Stiftung einen langjährigen Weggefährten, der Höhen und Tiefen in der Rezeption von Anna Seghers miterlebt hat. Wie auch seine 2010 gestorbene Schwester Ruth wurde er nie müde, sich für das Werk seiner Mutter einzusetzen. So war er sehr stolz, als 2018 in Frankfurt/M. ein Weg nach seiner Mutter benannt wurde. Auch das kürzliche Erscheinen des Romans Der Kopflohn im Rahmen der Werkausgabe des Aufbau Verlags hat er noch mit Freude wahrgenommen.
Wir werden ihn alle sehr vermissen.

 

Gez.: Hans-Willi Ohl, für den Vorstand der Anna-Seghers-Gesellschaft, und Moritz Malsch, für den Vorstand der Anna Seghers-Stiftung

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