Die Kulturwissenschaftlerin Andrea Gnam unternimmt in ihrem neuen Buch einen komprimierten historischen Streifzug durch die Welt der Kunst und ihrer Zeichen. Schon der Titel sagt knapp und präzise, worum es geht: „Bilder und Wörter. Kleine Kulturgeschichte einer brillanten Allianz“.
Von den ersten geritzten Felszeichnungen der frühen Menschheitsgeschichte bis zu den grell gesprühten Graffitis auf den Zügen und Hauswänden moderner Großstädte untersucht Gnam die Frage, ob und wie sich die Bedeutung dessen, was man sieht, entschlüsseln lässt. Je länger die Entstehung eines Werks zurückliegt, umso mehr entsteht Raum für Missverständnisse. Denn was man sieht, ist nicht immer das, wonach es scheint. Das belegt die Autorin kenntnisreich, analytisch präzise und in einer angenehm klaren Sprache, die den Lesern die komplexe Beziehung zwischen Wort und Bild einleuchtend und kurzweilig nahebringt.
Es ist üblich, Text und Schrift eher der Vermittlung abstrakten Wissens, Bildern dagegen eine eher emotionale Wirkung zuzuschreiben und sie als Träger von Informationen über den konkreten Alltag einer Zeit, ein konkretes Ereignis zu betrachten. Mit diesen Annahmen räumt Andrea Gnam gleich zu Beginn ihres Buches auf: „Bilder sind Quellen für Mentalitäten, aber nicht zwingend für historische Lebensumstände (…) Beim Nachdenken über Bilder werden wir Lernprozesse durchlaufen, in denen wir nicht nur etwas über vergangene Zeiten und Kulturen erfahren, sondern auch über uns Betrachter, die wir Kinder unserer Zeit sind. Die gleichen Bilder und Gegenstände, aber auch Begriffe werden immer wieder anders gesehen“ (S. 13). Jede Sprache ist geprägt von den jeweils historischen, geographischen, kulturellen Lebensumständen sowie aus den daraus resultierenden spezifischen Grammatiken. Die historische Bedeutung von Wörtern muss sorgfältig erschlossen werden, um zu verstehen, was ein Text genau aussagt.
Die theoretischen Überlegungen münden in eine kursorische Untersuchung mittelalterlicher Bildwelten, die in der Regel religiös konnotiert sind. Salopp gesagt: Wer die Bibel oder die lokalen Heiligenlegenden eines spezifischen Ortes nicht kennt, wird auch ein Altarbild oder die Heiligenstatue aus einer bestimmten Kirche nicht wirklich erkennen können. Die weitreichende Konsequenz einer Bildinterpretation und das komplexe Wechselspiel zwischen Text und Bild zeigt die Autorin dann ausführlich am Beispiel des über Jahrhunderte währenden Historikerstreits über den Teppich von Bayeux.
Der um die 70 Meter lange und etwa 50 Zentimeter breite Wandteppich aus dem Hochmittelalter erzählt in 73 gestickten Einzelszenen die Genese der Eroberung Englands durch den Normannenherzog William, die in der Schlacht bei Hastings im Oktober 1066 entschieden wurde. Eine der Eingangsszenen bot im 18. und 19. Jahrhundert Anlass für eine langanhaltende Kontroverse zwischen britischen und französischen Gelehrten. Die strittige Szene zeigt eine Gesprächssituation zwischen dem englischen König Eduard und dem Earl Harold Godwinson. Aus den Gebärden der beiden versuchten nun die Historiker Jahrhunderte später, die Befindlichkeiten und Absichten der Beteiligten zu rekonstruieren, um die Legitimität der anschließenden Eroberung Englands – je nach nationalem Interesse - zu bekräftigen oder in Frage zu stellen.
Andrea Gnam beschreibt, wie schwierig es ist, ohne ausreichende Textquellen die dargestellte Körpersprache verlässlich zu interpretieren. Das bezieht sich auch auf die Darstellung von Gebäuden, Gerätschaften, Kleidung. „Bildkorruption“ ist das Stichwort und die Überschrift für den Abschnitt, in dem sie darlegt, wie sich durch das über Jahrhunderte übliche Verfahren des Kopierens manche Bilddetails nicht unmaßgeblich verändern. Maler und Kopisten erstellten Szenen, indem sie einzelne Elemente aus verschiedenen Vorlagen abzeichneten, z.B. Straßen oder Plätze, die Mimik einer berühmten Person oder mythischen Gestalt, Waffen, Kleidung. Dabei veränderten sie manches Detail, um einer ästhetischen Konvention zu genügen oder eine bestimmte Bildwirkung zu erzielen. Auch ihre Auftraggeber hatten spezielle Wünsche und Erwartungen an das Bild, wie man in alten Auftragsbüchern nachlesen kann. Um über das Alltagsleben vergangener Zeiten Aufschluss zu erhalten, ist man zwar auf Bilder angewiesen. Doch hier ist Vorsicht geboten, genauso wie bei Texten, die immer wieder abgeschrieben wurden und in denen Schreibfehler und bewusstes Hinzufügen oder Weglassen von Wörtern oder Sätzen den Sinn verändert haben.
Seit der Renaissance gilt die Zentralperspektive als ein großer Fortschritt für eine wirklichkeitsgetreue Darstellung des Raumes und der Welt. Das basiert auf der Vorstellung und Metapher, das Bild fungiere als ein Fenster zur Welt. Der italienische Gelehrte Leon Battista Alberti entwickelte im 15. Jahrhundert mithilfe der Annahme von „Sehstrahlen“, die vom Auge ausgehen, das Modell der „Sehpyramide“, um nachzuweisen, dass die Zentralperspektive den Sehvorgang imitiere. Allerdings spotteten schon zeitgenössische Künstler wie Leonardo da Vinci über die Starrheit des Sehmodells von Alberti. Denn niemand sieht seine Umgebung - quasi einäugig - unbeweglich von einem festen Punkt aus, sondern die Augen wandern in schnellen Bewegungen über die Oberfläche der Dinge, um sie in der Vorstellung als solche zu erfassen.
Interessant ist hier der Kontrast zwischen der asiatischen und europäischen Kunst. Ein Landschaftsbild des chinesischen Künstlers Wu Li aus dem 17. Jahrhundert beispielsweise wirkt perspektivisch eher wie die Wiedergabe einer Wanderung durch die Landschaft oder eines Schwebezustands darüber. Für Andrea Gnam entpuppt sich daher die Zentralperspektive, d.h. die Einteilung der Welt in ein geometrisches Raster, als Symptom einer eurozentrischen, patriarchalen Denkweise, die sich der Beherrschung von Natur und fremder Kontinente verschrieben hat.
Erst der Kubismus beendet im 20. Jahrhundert die Vorherrschaft der Zentralperspektive in der Kunst. Mit seiner radikal neuen Formensprache macht er den Weg frei für so unterschiedliche Kunstströmungen wie Dadaismus, Futurismus und Surrealismus. Gnam bewertet ihn daher auch als folgenreichste und wichtigste Kunstrichtung. Zuvor hat sie die Wechselbeziehung von Kunst und Werbung beleuchtet und an die Plakatflut an den Hauswänden der europäischen Großstädte des 19. Jahrhundert erinnert. („Defense d’afficher“: „Plakatieren verboten“ liest man noch heute auf den Bauten des Paris von Georges-Eugène Haussmann.) Ob Kunst oder Werbung, immer ging und geht es dabei um die Beeinflussung der Wahrnehmung und des Denkens durch das geschickte Zusammenwirken von Wort und Bild.
Das Kapitel über die Berichterstattung über den Atombombenabwurf auf Hiroshima und Nagasaki 1945 ist dafür ein aufschlussreiches Beispiel. Durch Militärzensur und das gezielt gesteuerte Zusammenspiel von Wort und Bild ist es den Amerikanern damals gelungen, das ästhetisch ansprechende, klinisch saubere Bild vom Atompilz zur allgemeinen Chiffre dieses folgenreichen, todbringenden Geschehens zu machen und als globale Medienikone zu etablieren. Keine Toten, keine Verletzten sind auf den damals veröffentlichten Fotos zu sehen, das Ausmaß der Zerstörung und die weitreichenden Folgen blieben zunächst unsichtbar. Auch das Wort selbst – Atompilz oder mushroom cloud – verhüllt mehr, als es preisgibt, was da passiert ist. Der damalige amerikanische Präsident Harry S. Truman beschrieb den Bombenabwurf in kosmischen Dimensionen. Amerika sei es gelungen, mit der „Kraft, aus der die Sonne ihre Energie schöpfte“, die Kriegsschuldigen zu bezwingen.
Die Mehrzahl der öffentlichen Kommentare deuteten den militärischen Schlag zu einer wissenschaftlichen Leistung um. Mögliche Zweifel an der Legitimität des militärischen Vorgehens der Amerikaner sollten verhindert werden. Andrea Gnam fasst zusammen: „Verwissenschaftlichung und kosmische Anbindung bilden die verbalen Argumentationsstrategien, unterstützt von der Ästhetisierung der Zerstörungskraft als Himmelserscheinung (…) Das Bild vom Pilz impliziert Natur, zugleich aber auch tödliche Gefahr und die Notwendigkeit von Kenntnissen über ihre Toxizität.“ (S. 140) Die brutalen Folgen für die Zivilbevölkerung wurden erst sehr viel später in Wort und Bild öffentlich.
Das Buch endet mit einem ausführlichen Kapitel über Graffiti. Die Autorin legt die vielfältigen historischen und aktuellen Bezüge frei, in denen dieses soziale Phänomen als Kunst oder als Ärgernis stattfindet. Mythisches Ritual, Rebellion, politischer Kommentar, infantile Schmiererei: Für alles gibt es Beispiele. Je nach politischem Kontext bewegen sich Graffiti-Künstler im Spannungsfeld von Kunstmarkt und Strafverfolgung. Solange es Menschen gibt, haben sie in Wände geritzt oder sie bemalt. Daher ist es kein Wunder, wenn eine Bändigung und Kanonisierung von Graffiti nur schwer gelingen können.
Andrea Gnam bettet ihre vielfältigen theoretischen Überlegungen durchgehend in den wissenschaftlichen Diskurs ein, unterfüttert sie mit Quellentexten und Untersuchungsergebnissen von Fachautoritäten wie z.B. Francis Haskell oder Erwin Panofski u.v.a. Was die Lektüre so kurzweilig macht, sind die anschaulichen Details und Geschichten, die man auf dieser Reise durch die Jahrhunderte erfährt. Ein kompaktes, kluges Buch, das jedem Kunst- und Kulturinteressierten die Augen öffnet.
Andrea Gnam: Bilder und Wörter. Kleine Kulturgeschichte einer brillanten Allianz.
IUDICIUM Verlag München 2025
233 Seiten
ISBN: 978-3-86205-807-5
E-Book (PDF) ISBN: 978-3-86205-983-6
Weitere Informationen (Verlag)
Andrea Gnam, geb. 1959, Studium der Literaturwissenschaft, Kunstgeschichte und Geschichte, Promotion und Habilitation. Langjährige publizistische Tätigkeit für NZZ, SWR, Deutschlandfunk und Lehrtätigkeit an Universitäten in Deutschland und an der Universität Wien, sowie Fernuniversität Hagen. Mitglied in der Deutschen Fotografischen Akademie als Fototheoretikerin. Unterhält einen Blog mit ihren Publikationen zu Fotografie und Architektur. Bei IUDICIUM ist von ihr bisher erschienen: Sei meine Geliebte, Bild! Die literarische Rezeption der Medien seit der Romantik.

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