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Links: Will Quadflieg – Beginn des Tagebuchs im März 1945. Rechts: Buchumschlag

Über Krieg und Nationalsozialismus hat Roswitha Quadflieg nie mit ihrem Vater, dem berühmten Schauspieler Will Quadflieg, gesprochen.

 

Jetzt, über 20 Jahre nach seinem Tod, hat sie ein Buch herausgebracht, in dem es um diese Themen geht, Titel: „Ich will lieber schweigen. Das Tagebuch eines Schauspielers und die Fragen seiner Tochter“.

 

Es lag in einer alten Umzugskiste, die mit der Aufschrift „Briefe & Kurioses“ versehen war: ein schwarzledernes, DIN A6-großes Notizbuch mit Goldschnitt, in dem Will Quadflieg von März 1945 bis Oktober 1946 die Gedanken und Ereignisse notierte, die ihn gerade beschäftigten. Seine jüngste Tochter, die Schriftstellerin und Buchgestalterin Roswitha Quadflieg, entdeckte die Kiste 2011 im Nachlass ihrer gerade verstorbenen Mutter Benita Quadflieg-von Vegesack. Doch erst zehn Jahre später, während der Pandemie, sortierte sie ihren Inhalt.

 

Sie las die 467 Briefe, die Will Quadflieg von Januar 1934 bis September 1946 an das schwedische Mädchen Benita Posse-von Vegesack schrieb, die 1940 seine Frau und Deutsche wurde. Leider fand sie nur sechs Antwortbriefe ihrer Mutter. Auf Grundlage dieser Lektüre entwickelte sie ein Gerüst aus persönlichen und historischen Ereignissen, Orten und Themen, recherchierte das Netzwerk, in dem sich ihre Eltern bewegten, und vertiefte sich in die Texte anderer Zeitgenossen und Autoren, die sich mit dem Kriegsende und der unmittelbaren Nachkriegszeit befassten.

 

Ausgestattet mit diesem Wissen hat sie nun eine chronologisch kommentierte Fassung des väterlichen Tagebuchs herausgebracht. Nach jeder der 103 Tagebuch-Eintragungen stellt sie die Äußerungen ihres Vaters in einen übergeordneten Kontext, versucht, das Umfeld zu rekonstruieren, in dem er sich bewegte. Dazu zitiert sie z.B. aus den etwa zeitgleichen Tagebüchern eines britischen und russischen Offiziers. Oder sie versucht, sich in die Wahrnehmung und Motive des damals 30-jährigen Schauspielers und jungen Familienvaters einzufühlen, indem sie sich an ihre eigenen Erfahrungen mit ihm erinnert. Dabei formuliert sie viele Fragen, die unbeantwortet bleiben müssen.  Das hat den Charakter einer Beweisaufnahme. Sie betrachtet ihren Vater kritisch, doch scheut sich, ihn zu verurteilen, wahrt die historische Distanz, weil sie sich nicht sicher ist, wie sie sich selbst im NS-Regime positioniert hätte.

 

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Will Quadfliegs Tagebuch ist vor allem eine Liebeserklärung an seine Frau Benita. Der war es gelungen, hochschwanger und mit den zwei gemeinsamen Kindern trotz ihrer deutschen Staatsbürgerschaft mit einem Rote-Kreuz-Transport vor den anrückenden Russen aus Berlin über Lübeck in ihr Heimatland Schweden zu entkommen. Der Ehemann blieb in Lübeck zurück, schrieb sich in seinem Tagebuch die Sehnsucht nach ihr und den Kindern von der Seele, pathetisch, angereichert mit Zitaten deutscher Klassiker, und er bezieht sich auf die Gedankenwelt des Anthroposophen Rudolf Steiners, um das Kriegsgeschehen um sich herum zu verarbeiten. Der schon damals bekannte Schauspieler reiste durchs Land, um in Kasernen Goethe-Gedichte vor Wehrmachtssoldaten zu rezitieren, später dann in Gefangenenlagern und Hospitälern. In seinem Tagebuch notierte er am 22. März 1945: „Ein gewisse Schwermut will nicht von mir weichen. Sie kommt wohl aus der Trauer über all die Stumpfheit und geistige Armut ringsumher. Zu nichts geschult als zum Krieg und blindem ‚Rangehen‘ – ist all diesen jungen Burschen so wenig zu zeigen von der Fülle des Geistes und der Gewalt der Kunst. Sie dienen dem Krieg und werden durch ihn verbraucht, ohne an die wahren bewegenden Mächte des Geistes und der Seele herangeführt zu werden.“

 

Politische Kategorien kennt Will Quadflieg offensichtlich nicht, es geht ihm um Höheres, um Geist und Kunst, nach Kriegsende dann um den Aufbau des guten Deutschen und das Theater. In seinem Tagebuch berichtet der Schauspieler über seine Arbeitspläne, die schwierige Versorgung, das Chaos auf den Bahnhöfen und in den Wartesälen. Immer wieder schwelgt er in seinen Gefühlen für Benita und die Kinder, versucht so, innerlich eine Verbindung zu seiner Familie aufrecht zu erhalten. Seine Sprache wirkt dabei oft rauschhaft, vage und unverbindlich, aber immerhin ist er von der deutschen Dichtung begeistert, seinen eigenen Gefühlen und nicht von der NS-Ideologie.

 

Dass Will Quadflieg in dieser Zeit parallel zu seiner Sehnsucht nach Benita auch einige Affären hatte, wie seine Tochter nachträglich rekonstruiert, gehörte offensichtlich zu seinem männlichen Selbstverständnis: nur eine Kollegin habe ihm jemals widerstehen können, hat er später mal kichernd seiner Tochter Roswitha gestanden. Die beiden mochten sich, hielten Kontakt auch nach der Scheidung der Eltern 1963. Über ihre Liebe und Bewunderung für den großen Schauspieler-Vater, ihre Verletzung und Enttäuschung über sein häufiges Fernbleiben und seine Hilflosigkeit angesichts des Todes ihres Bruders Manuel, ihre häufigen Mittagessen während der 1990er Jahre: all das beschreibt Roswitha Quadflieg schon in der Einleitung. Angesichts eines Mannes, der für fast alle Lebens- und Gefühlslagen aus dem riesigen Repertoire seiner Literaturkenntnisse und Rollentexte ein passendes Zitat parat hielt, fragt sie: „Wer war er denn nun, dieser Vater?“.

 

Aber sie weiß es eigentlich schon lange: er war ein Schauspieler, ein Mann des tief empfundenen Spiels, für den die Theaterbühne die Welt bedeutete. Vielleicht, um sich vor der realen Welt zu schützen, aber das ist eine müßige, eher oberflächliche Spekulation. Sein der Tochter bis dahin unbekanntes Tagebuch zeigt ihr nicht unbedingt einen neuen Menschen und Vater, sondern einen typischen, seiner Zeit verhafteten Deutschen. Will Quadflieg war kein Nazi, aber er hat seine Kunst in den Dienst des NS-Regimes gestellt. Er stand nicht auf Goebbels Liste der sogenannten „Gottbegnadeten“, die vor dem Kriegseinsatz geschützt waren und große Privilegien genossen. Seine kaputten Knie und eine Theaterpremiere bewahrten ihn vor der Einberufung, doch mit seinen Rezitationen hielt er den Kampf- und Durchhaltewillen der Truppe hoch. In einem späteren Interview hat er sich rückblickend als Mitläufer bezeichnet.

 

Roswitha Quadflieg zitiert in ihrem Buch aus einem Brief des Vaters, den er im Juli 1946 an ihre Mutter schrieb. Dieses Zitat wirkt schwer erträglich, denn es belegt eine vollständige Verdrängung und Amnesie der NS-Verbrechen, die damals bekannt wurden. Will Quadflieg scheint die Berichte über das Grauen in den KZs nicht wirklich geglaubt zu haben. Vielleicht hielt er sie für Sieger-Propaganda, mag man spekulieren. In seinem Brief an Benita sinniert er über den Plan der schwedischen Regierung, ehemalige KZ-Häftlinge zur Erholung nach Schweden einzuladen: „Schweden kauft sich hier eine unselige Fracht ein – mit seinen polnischen KZ-Juden, das kann ich dir sagen. Aber lass uns schweigen davon.“ Vermutlich bezieht sich Will Quadflieg mit seinen für ihn typisch nebulösen Andeutungen auf die Racheakte, die ehemalige KZ-Häftlinge damals an ihren ehemaligen Peinigern verübten. Er klagt an verschiedenen Stellen über polnische Mörder, niemals über deutsche. Doch vor allem: „…lass uns schweigen davon“. Aus diesem Satz entstand der Titel des Buches: „Ich will lieber schweigen“.

 

Der 8. Mai 1945 gilt als das offizielle Kriegsende. Das Datum wird heute häufig als Tag der Befreiung bezeichnet. Dabei gerät aus dem Blick, dass die meisten Deutschen eine Niederlage erlebten, unabhängig davon, ob sie überzeugte Nazis oder nur Mitläufer waren. Die Erleichterung über das Ende von Bombenhagel und Waffengewalt konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie besiegt waren und ihr Land besetzt wurde.

 

Roswitha Quadflieg hat gründlich recherchiert und leuchtet in ihrem Buch ein spannendes Stück Zeitgeschichte aus. Letztlich ist es ein zutiefst subjektives, sehr persönliches Buch, getragen von Liebe und dem unsichtbaren Band zwischen Vater und Tochter, das trotz tiefer Verletzungen gehalten hat.


Will und Roswitha Quadflieg: Ich will lieber schweigen

Das Tagebuch eines Schauspielers aus den Jahren 1945/46 und die Fragen seiner Tochter

Gebunden, 298 Seiten. Mit zahlreichen Abbildungen, Personenregister, Zeittafel und Landkarte

Deutsche Erstausgabe (auch als eBook erhältlich)

ISBN 978-3-98568-171-6

Weitere Informationen (Verlag)

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