Was beinhaltet ein scheinbar so simpler Begriff wie Wohnen? Doris Dörrie versucht in ihrem neuen Buch, dieser Frage auf die Spur zu kommen. Rückblickend betrachtet sie verschiedene Orte, Häuser, Wohnungen und Räume ihres Lebens und beleuchtet dabei das Wechselspiel zwischen Umgebung, Denken und Fühlen.
Herausgekommen ist ein sehr persönlicher Essay, der individuelle sinnliche Erfahrungen und allgemeine soziale und politische Überlegungen zu einer Erzählung verknüpft.
Man spürt beim Lesen die Filmemacherin: Doris Dörrie denkt in wechselnden Bildern, Szenen und Perspektiven. Für sie zählt die Atmosphäre eines Ortes oder Raumes, nicht seine bauhistorische Einordnung. Chronologisch, häufig durchsetzt mit Vor- und Rückblenden, beschreibt sie ihre Lebensstationen, die Orte, an denen sie gelebt und gearbeitet hat oder an die sie gereist ist. Ihr Text ist ein stetiger Fluss assoziativen Erinnerns, lebendig geschrieben, nur in Absätze gegliedert und ohne Kapitel oder Überschriften.
Sie beginnt ihren Essay mit dem Puppenhaus ihrer Kindheit, das in Miniaturform ein traditionelles Lebens- und Wohnmodell darstellte aus Wohnzimmer, Küche, Bad, Schlaf- und Kinderzimmer. Darin gab es wenig Raum für Unvorhergesehenes, was Doris Dörrie schon als Kind gelangweilt hat. Sie konnte nur die kleine Vaterfigur auf dem Sofa Zeitung lesen lassen, die Mutter in der Küche an den Herd stellen und die Kinder in die Badewanne oder ins Bett legen. Erst außerhalb des Hauses fand das Kind den Raum, wo es die kleinen biegsamen Püppchen echte Abenteuer erleben lassen konnte.
Im Gegensatz zu ihren drei Schwestern ist Doris Dörrie zeitlebens rastlos, zieht häufig um, reist viel, will sich nicht festlegen (lassen). Kurz nach dem Abitur geht sie nach New York, erlebt ein erstes Intermezzo von Unbehaustheit, weil sie sich nur billige Zimmer in finsteren Gegenden leisten kann, wo ihr nur ein Drugstore so etwas wie Geborgenheit vermittelt. Zurück in Deutschland beginnt sie ein Studium an der Münchner Filmhochschule.
Nun wird die Ablehnung traditioneller bürgerlicher Wohnformen und Geschlechterrollen zum Programm. Wie Doris Dörrie hat sich eine ganze Generation aufmüpfiger bundesrepublikanischer Mittelstandskinder an ihrer Herkunft abgearbeitet, deshalb ganz unbürgerlich in ihren Wohngemeinschaftszimmern die Matratzen zum Schlafen auf den Boden gelegt und am gemeinsamen Küchentisch über den Putzplan gestritten.
Doch als die Autorin schwanger wird, stößt das Konzept Wohngemeinschaft an seine Grenzen. Sie zieht sie mit Mann und Kind aufs Land.
Die westdeutsche Nachkriegssituation hat Doris Dörrie ganz offensichtlich geprägt. Dazu gehören die Kriegserfahrungen der Eltern, die ausgebombt wurden und sich nicht mehr an Haus und Besitz binden wollten. Sie richteten sich hell, modern und praktisch ein, um die nationalsozialistische Vergangenheit hinter sich zu lassen, so wie es die Mehrheit der Gesellschaft versucht hat. Der Großvater dagegen sammelte auf seinem Schreibtisch die Scherben von Gegenständen, die er aus den Trümmern seines Elternhauses bergen konnte, und reparierte sie geduldig. Doris Dörrie vergleicht das mit der japanischen Technik des Kintsugi (goldenes Zusammensetzen), mit der man Kaputtes kittet und mit Gold die Risse sichtbar macht. Die Dinge gewinnen dadurch an Wert.
Immer wieder erinnert sich Doris Dörrie an die Geborgenheit ihres Elternhauses mit den festen gemeinsamen Mahlzeiten und einem eigenen Zimmer. Ihre Mutter spielt darin die zentrale Rolle. Sie hatte nie ein eigenes Zimmer, war aber ständig in der ganzen Wohnung unterwegs und präsent als diejenige, die die sechsköpfige Familie ver- und umsorgte. Für die Tochter ist sie kein Vorbild, schon der Teenager sucht nach dem idealen Raum zum Schreiben, ganz im Sinne der berühmten Aussage Virginia Woolfs von 1929, dass eine Frau, um schreiben zu können, ein Zimmer für sich allein und 500 Pfund im Jahr braucht. Aber vielleicht hätte die Mutter auch gerne geschrieben, fragt sich die Tochter angesichts der Reisetagebücher der Mutter, die sie nach deren Tod findet.
Die Suche nach dem idealen Raum zum Schreiben durchzieht das ganze Buch. Sie rankt sich um Requisiten wie eine grüne Schreibmaschine, Modell Monica, oder einen lila gestrichenen Schreibtisch, und mündet schließlich in der überraschenden Erfahrung, dass dieser - letztlich innere - Raum überall entstehen kann: beim Kochen am Küchentisch, auf dem Sandkistenrand, wo das Kind spielt, oder am besten im Bett. Ein Schreiben mitten im Alltag ist ihr möglich - allerdings nur mit der Hand!
Ähnlich festgelegte und bedrückende Wohnmuster wie im Puppenhaus ihrer Kindheit entdeckte Doris Dörrie bei einem längeren Aufenthalt in Los Angeles. An den Wochenenden besichtigte sie zum Kauf angebotene teure Häuser, die in jedem Detail den Reichtum ihrer Bewohner zelebrierten. Doris Dörrie meinte, in dieser durchdesignten Leere aus Swimming-Pools, großzügigen Sitzlandschaften, kissenübersäten Riesenbetten, Tennisschlägern und Surfbrettern irgendein Unglück wahrzunehmen. Meist bestätigte die elegante, perfekt geschminkte Maklerin diesen Verdacht, berichtete auf Nachfrage erschrocken von Krankheit, Autounfällen und plötzlichem Kindstod, aber versicherte eilfertig, die Räume seien davon professionell spirituell gesäubert worden.
Beginnt der Essay mit dem Unwillen der Autorin gegen die Festlegungen von Geschlechterrollen in einem Puppenhaus und einer westdeutschen Familie, endet er mit ihren Erfahrungen in den traditionellen Häusern Japans: kaum sitzt Doris Dörrie am Boden auf einer Tatamimatte, kommt sie zur Ruhe. Sie hat entdeckt, wie in einem traditionell gestalteten japanischen Haus die Fensteröffnungen so gewählt sind, dass der Ausblick ein besonderes Bild ergibt – wie bei einer bewusst gewählten Kameraeinstellung.
Auf ihren ausgedehnten Asienreisen hat Doris Dörrie einen spirituellen Umgang mit Räumen und Wohnungen vertieft kennen und akzeptieren gelernt. In China schützen Spiegel an den Hauseingängen vor Geistern, ebenso knöchelhohe Eingangsschwellen, denn Geister haben keine Knie. Dörrie glaubt nicht an Geister, aber sie fragt, ob nicht jedes Haus eine Art Grab ist für unsere Erinnerungen. Denn auch wenn sie feststellt, dass sich politische Verhältnisse und Geschlechterrollen in Wohnformen manifestieren, dass sich angesichts knapper Ressourcen unsere westlichen Wohnformen mit ihren großzügigen Boden- und Platzverbrauch ändern müssen: das ist nicht ihr Thema. Vielmehr beschäftigt sie sich mit dem Erinnern selbst, das immer an konkrete Orte und Räume gebunden ist, sodass diese vergangenen Räume in uns weiterexistieren - und umgekehrt. So geht es in ihrem Essay über Wohnen nicht allein um ihre persönliche Geschichte, sondern vielmehr um die Magie der Dinge und Orte als Überbleibsel und Ablagerungen der Zeit.
Doris Dörrie, Wohnen
Hanser Verlag München, April 2025
Hardcover, eBook
128 Seiten
ISBN 978-3-446-27963-6
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