Eine Sammlung lesenswerter Essays von Wolfgang Marx ist jetzt im Arachne-Verlag in Bonn erschienen.
Der Autor Wolfgang Marx besitzt zwei Gesichter – zunächst war er lange Jahre in der Wissenschaft tätig, zuletzt als Professor für kognitive Psychologie in Zürich; aber seitdem – seit seiner Emeritierung – war und ist er schriftstellerisch sehr aktiv und veröffentlichte Gedichte und eine Anzahl kleinerer Romane[1]. So solide er als Wissenschaftler arbeitete, so freudig versucht er sich heute an allerlei literarischen Experimenten. Das gilt besonders für seine Erzählwerke, die schon zuvor hier vorgestellt wurden[2]. Im Stil seiner Romane, die größtenteils aus Dialogen bestehen, sind auch die drei Dialoge geschrieben, die den schmalen Band beschließen, der Essays aus den letzten Jahren zusammenfasst.
Die ersten Essays umkreisen mit Heidegger, Wittgenstein und Sartre einige der populärsten Namen der jüngeren Philosophiegeschichte, also Autoren, die von nicht wenigen ihrer Leser kniefällig verehrt werden, die aber auch auf eine mindestens ebenso entschiedene Ablehnung stoßen. Gottlob Frege, der große Logiker, Verfasser der die meisten Leser eher abschreckenden „Begriffsschrift“ und mit diesem Büchlein Spiritus rector der Analytischen Philosophie, ist Thema des vierten Essays. Die Abneigung des Autors provoziert aber jemand anders. „Herrn Heidegger“ liebt dieser Autor nicht! Wohl auch deshalb wird diese Thematik in den drei abschließenden, für die meisten Leser wohl sehr gewöhnungsbedürftigen Dialogen wieder aufgenommen. Hier fallen uns eher literarische Aspekte ins Auge, zum Beispiel wenn der Autor auf sich selbst zu sprechen kommt. Leitmotivisch wiederholt (so etwas gehört in keinen Essay) wird „der nette, kleine Wolf (also ich)“.
Die respektlose Art, mit der Marx der Pythia von Todtnauberg[3] begegnet, ist sehr erfrischend, und es war eine gute Entscheidung, den ganzen Band nach diesem Essay zu benennen. Dem Autor geht es um die Frage, ob die Sinnfrage – die Frage Heideggers nach dem „Sinn von Sein“, mehr noch aber die nach der „Eigentlichkeit“, also die Frage nach dem Sinn unseres je eigenen Lebens – überhaupt sinnvoll sein kann. Niemand, schreibt Marx und vertritt damit die Gegenposition zu Herrn Heidegger, kann sein Selbst verfehlen, und niemand „muss sein Selbst suchen, er findet es immer schon vor, wenn er handelt, es ist nicht zu verfehlen.“ Wenn er mit der Bemerkung fortfährt, es gebe „kein uneigentliches Leben und erst recht kein unauthentisches Handeln“, dann greift er die Argumentation Heideggers an ihrem entscheidenden, für den großen Erfolg von „Sein und Zeit“ verantwortlichen Punkt frontal an. Es markiert den scharfen Widerspruch zu dem das Seyn belauschenden Herrn Heidegger, wenn Marx schreibt, kein Mensch sei „eine Fälschung, jeder ist ein unverwechselbares Original.“
Besonders wichtig scheint dem Autor die Religion – dem Glauben an einen Gott mag er überhaupt keinen Sinn zuzusprechen, und ziemlich glaubwürdig stellt er sich selbst als „religiös unmusikalisch“ dar. Diesen Ausdruck, mit dem sich der große Soziologe Max Weber einmal selbst charakterisierte, gebraucht er zwar nicht, aber in gleich mehreren Essays geht es um Religion, zu der er offenbar keinerlei Zugang besitzt – und auch niemals besaß, auch nicht in seiner Kindheit. So erzählt er die Geschichte von dem „Hausschwein namens Fritz, mit dem es ein blutiges Ende nahm. Es wurde quiekend und schreiend aus unserem Schuppen herausgezogen; und was dann kam, das wollte ich nicht wissen, sehen schon gar nicht, das Hören blieb mir allerdings nicht erspart, nicht einmal unter der Bettdecke. – Aber Gott? Da war nichts mit Gott.“
Die Essays über den Glauben sind anregend, weil sie sehr persönlich gefärbt sind und die Kindheitserinnerungen des Autors mit den Überlegungen und Einsichten eines Kognitionspsychologen verbinden. Und sie stellen eine wirklich wichtige Frage, nämlich die nach der Ernsthaftigkeit eines Glaubens an Geschehnisse und Dinge, um deren Unmöglichkeit ein Mensch doch eigentlich genau weiß oder doch wissen könnte. Das prägt uns nicht nur in unserer Kindheit, sondern viele auch noch später.
Arbeitsplatz eines Börsenmaklers. Foto: Pixabay
Im Anschluss daran – es ist eben eine bunte Mischung – finden sich drei (wohl unerwartet aktuelle) Kapitel über die Kapitalmärkte und das Verhalten von Börsenmaklern, geschrieben teils vor langer Zeit (in einem Fall zuerst 2008 erschienen – zu meiner Überraschung auch noch in der nicht eben linksradikalen „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“). In diesem Beitrag werden einige der übelsten Methoden von Aktien- und Devisenhändler messerscharf kritisiert, insbesondere die Leerverkäufe[4]. Marx erklärt diese Zusammenhänge sehr gut, aber was wichtiger ist: er stellt die perfide Logik dieser die ganze Welt in Atem haltenden, wenn nicht gar terrorisierenden Aktienmärkte dar.
Wir wollen nicht zu erwähnen vergessen, dass der schmale Band fest gebunden und sauber gesetzt ist: ein schönes und empfehlenswertes Buch.
Wolfgang Marx: Herr Heidegger behorcht das Seyn. Essays
Herausgegeben von Klaus Erich Küster.
Arachne Verlag
Hardcover, 124 Seiten
ISBN 978-3982628325
Weitere Informationen (Verlag)
Weitere Beiträge zu Büchern von Wolfgang Marx:
- Wolfgang Marx: Ein schwer zu glaubendes Gesicht
Geschrieben von Stefan Diebitz –Dienstag, 12. Juli 2022
- Wolfgang Marx: „Die fernste Ebene“ – Ein sehr eigenwilliger Roman aus Zürich
Geschrieben von Stefan Diebitz – Dienstag, 29. Juni 2021
Fußnoten:
[1] Einige der Essays wurden 2013 in der Zeitschrift „Merkur“ veröffentlicht, u.a. auch der Buchtitel gebende Text.
[2] Siehe Information am Ende des Beitrags.
[3] Pythia war die amtierende weissagende Priesterin im Orakel von Delphi. Der und weitere Autoren bezeichneten Heidegger als Pythia von Todtnauberg, da der Philosoph ab 1922 dort im Schwarzwald eine Hütte bewohnte.
[4] Lesenswert zu den Thema: Lothar Kamp, Alexandra Krieger: Die Aktivitäten von Finanzinvestoren in Deutschland. Hintergründe und Orientierungen, Hans-Böckler-Stiftung, Düsseldorf 2005
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