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In ihrem neuen Buch „Digitale Diagnosen. Psychische Gesundheit als Social-Media-Trend,“ widmet sich die Wiener Soziologin Laura Wiesböck einem Diskurs, der von den USA ausgehend seinen globalen Siegeszug antrat und auch hierzulande zunehmend die Debatte bestimmt.

Dabei analysiert die Autorin, wie sowohl die Logik von Internetplattformen als auch die gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen das, was als krank oder gesund gilt, definieren und beeinflussen. Das tut Wiesböck auf Grundlage zahlreicher Studien und auf angenehm differenzierte Weise.

 

Eine Wirtschaft, die ein ewiges Wachstum verspricht und vom Einzelnen vor allem Leistungsfähigkeit, Kreativität, Konkurrenzstreben und Selbstverantwortung verlangt, verlagert die Definition von psychischer Gesundheit fast automatisch in den Bereich der Funktionalität. Nur wer sich als arbeitsfähig und belastbar zeigt, ist gesund, wer nicht, sollte schnellstmöglich dafür sorgen, wieder voll funktionstüchtig zu werden. Am besten, er oder sie beugt vor und sorgt permanent für die eigene Mental Health. Achtsamkeitsseminare, Yoga-, Wellness-, Fitness- und Fastenkurse sind Bestandteil persönlicher Selfcare-Konzepte. Da bietet das Internet jede Menge Angebote für Selbstoptimierung und persönliches Wachstum. Laura Wiesböck plädiert nicht gegen persönliche Gesundheitsfürsorge und Selbstverantwortung, sie weist nur nach, wie sich daraus ein lukratives Geschäftsmodell entwickelt hat.

 

Digitale Diagnosen COVERDie Gesundheitspolitik westlicher Staaten konzentriert sich zunehmend darauf, das individuelle Verhalten zu beeinflussen. Zigarettenfirmen und die Lebensmittelindustrie in ihren unternehmerischen Freiheiten zu beschneiden, scheint für die Politik schwieriger zu sein als den Einzelnen aufzufordern, das Rauchen aufzugeben, keine zuckerhaltige Nahrung mehr zu konsumieren und Sport zu treiben. Studien aus Großbritannien belegen z.B., dass Kürzungen im Bereich der Wohnbeilhilfe zum Anstieg depressiver Symptome in Niedrigeinkommenshaushalten geführt haben. Denn gerade Arbeitsbedingungen und Wohnsituation beeinflussen die körperliche Gesundheit und psychische Verfasstheit und sind nicht vom individuellen Verhalten zu steuern. Hier wäre stattdessen politisches Handeln gefragt.

 

Anders als in den Sozialstaaten Europas haben in den USA viele Menschen keinen Zugang zu professionellen Gesundheitsdiensten oder können sie sich nicht leisten. Da sind Internetforen häufig die einzige Möglichkeit, Hilfe und Information zu erhalten. Viele dieser Foren beanspruchen, der Enttabuisierung und Entstigmatisierung psychischer Krankheiten zu dienen. Das stimmt vordergründig. Doch die Logik der Internetforen konterkariert häufig ihre ursprünglich emanzipatorischen Ansätze.

 

Auf Instagram und Tiktok tummeln sich jede Menge Ratgeber, Influencer und andere Content Creators, die eine möglichst große Community generieren wollen. Ihre Fachkompetenz beim Thema psychische Krankheiten reduziert sich meist auf die eigenen persönlichen Erfahrungen. Sie geben praktische Ratschläge, bieten in Chatrooms Trost und Hilfe an, werben für Veranstaltungen und Produkte. Je größer die Reichweite der Influencer und Content Creators, umso interessanter sind sie für ihre Werbekunden. Ist das Ziel einer professionellen Therapie im analogen Raum, psychisch Kranken zu einem weitgehend unabhängigen, selbständigen Leben zu verhelfen, kann das Ziel dieser digitalen Foren eigentlich nur sein, eine große Community an sich zu binden. Ob Betroffene dort wirklich die Information und Hilfe finden, die sie brauchen, möchte man nach der Lektüre des Buches nicht in jedem Fall völlig ausschließen, doch mindestens in Frage stellen.

 

Der Diskurs dieser digitalen Geschäftsmodelle wirkt auf die gesellschaftliche Debatte zurück. Psychiatrische Fachbegriffe wie Trauma, triggern, Depression, ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) oder OCD (Obsessive-Compulsive Disorder gleichbedeutend mit Zwangsstörung) sind mittlerweile Teil der Alltagssprache geworden. Doch die Popularisierung von Fachbegriffen heißt nicht, dass entsprechend profundes Wissen über diese Krankheiten verbreitet ist. So werden Verhaltensauffälligkeiten unabhängig von ihrem jeweiligen sozialen und individuellen Kontext nur auf Grundlage einer oberflächlichen, standardisierten Symptomatik hin im Internet abgefragt, um sie den dort beschriebenen „Krankheitsbildern“ zuzuordnen. Unruhige Schulkinder erhalten dann vorschnell das Etikett ADHS, schüchterne Menschen gelten als soziophob, trauernde, traurige Menschen als depressiv.

 

Das treibt zuweilen merkwürdige Blüten wie der popkulturelle Ästhetik-Kult um das sogenannte „Sad Girl“ zeigt. Jede Suchmaschine präsentiert unter diesem Stichwort sogleich eine Galerie schöner junger weißer Frauen, die formvollendet geschminkt vor der Kamera weinen. Diese Bilder werden dem Leiden der meisten depressiven Menschen in keiner Weise gerecht. Die (Selbst-)Diagnose als depressiv dient hier als Eintrittskarte zu einer Community, mutiert zu einer Identität, die Zugehörigkeit ermöglicht. Die Userinnen kommen, um zu bleiben. Kann man in so einer Konstellation „gesund“ werden? Eher nicht, es gibt genügend Studien, die nachweisen, wie die exzessive Nutzung sozialer Medien häufig die Einsamkeit, Unruhe, Schlaflosigkeit und Reizbarkeit produziert, die dann wiederum als Symptome einer Diagnose fungieren können. Es entsteht ein selbstreferentielles, sich selbst verstärkendes System.

 

In der Konsequenz kann die Tendenz, Lebens- und Alltagsprobleme in Internetforen zu verlegen und abzuhandeln, zur Abschottung gegenüber der Wirklichkeit führen. Die Probleme werden nicht dort gelöst, wo sie entstehen, sondern stattdessen digital innerhalb eines Geschäftsmodells verwaltet, für das die User ihre Daten und ihr Geld zur Verfügung stellen.

 

Laura Wiesböck beschreibt, wie der Raum für das Spektrum unterschiedlicher menschlicher Verhaltensweisen immer enger wird. Wer den Raum neoliberaler Produktivität und Arbeitsmoral verlässt, betritt unsicheren Boden: Warum braucht es überhaupt das Etikett „krank“ oder das Konzept „Self-Care“, um sich eine Pause zu erlauben, ein Leistungstief auszuhalten, traurig oder unruhig zu sein, mal nachts wach zu liegen? Wieso sollten Sorgen, schlechte Träume oder Schlaflosigkeit nur Störungen sein, die der Einzelne abzustellen hat, um wieder optimal zu funktionieren? Vielleicht erschließt sich ihr Sinn auch außerhalb einer rein wirtschaftlichen Logik?

 

Wie gesagt: die Soziologin entlässt niemanden aus seiner individuellen Verantwortung, sie kritisiert nur die Eindeutigkeit, die der digitale Diskurs der gesellschaftlichen Debatte aufgezwungen hat. Die Ambivalenzen in zwischenmenschlichen Beziehungen und die Mehrdeutigkeit von Konflikten werden im digitalen Raum nicht dargestellt und können in der Folge nicht mehr ausgehalten und ausgetragen werden, weder analog noch digital. Die Communities ziehen sich in Safe Spaces zurück, um sich von Menschen und Erfahrungen fernzuhalten, die sie im Extremfall schon als „toxisch“ denunzieren, wenn sie ihnen nur unangenehme Gefühle bereiten. Safe Spaces und Empowerment sind notwendig, doch wenn sie wie beschrieben zu digitalen kapitalistischen Geschäftsmodellen degenerieren, erfüllen sie nicht mehr ihren ursprünglich emanzipatorischen Zweck. Menschliche Zuwendung, gesellschaftlicher Zusammenhalt und Solidarität werden so unterminiert und damit eine wirkungsvolle demokratische Debatte verhindert. Laura Wiesböcks Buch ist ein profunder Beitrag, der diesen Zusammenhang einleuchtend erklärt.


Laura Wiesböck: Digitale Diagnosen. Psychische Gesundheit als Social-Media-Trend

Paul Zsolnay Verlag Wien / Hanser Literaturverlage 2025

Hardcover, 176 Seiten

ISBN 978-3-552-07542-9

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Leseprobe (ePub)

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