So war´s eben: hinter diesem lapidaren Titel verbirgt sich eine ganze Welt. Schauplatz ist Berlin.
Hier beginnt Gabriele Tergit (1894-1982) ihren Roman mit einem Damenplausch beim Nachmittagstee in einer herrschaftlichen Wohnung im Tiergartenviertel im Jahre 1914. Er endet 1957 in der Küche einer bescheidenen Pension in New York.
Dazwischen erzählt die Schriftstellerin im Stakkato von abrupt wechselnden Szenen das Drama von zwei Weltkriegen, sozialem Auf- und Abstieg, Verfolgung, Mord, Exil. Die Protagonisten entstammen überwiegend dem jüdischen Bürgertum, darunter Angestellte und Justizbeamte, ein Bankier, ein Fabrikant, eine Pensionswirtin, sogar eine ganze Zeitungsredaktion tritt auf, auch Künstler, Intellektuelle, Kommunisten. Dazu kommen Vertreter der deutschen Oberschicht, des preußisch-militärischen Adels. Insgesamt zeichnet Gabriele Tergit ein Tableau von 74 Personen. Glücklicherweise liegt dem Buch eine Personen-Liste bei, sodass man ihre Schicksale gut verfolgen kann.
Diesen dritten und letzten Roman, den Tergit nach dem Krieg schrieb, stellte sie 1963 fertig, fand dafür aber keinen Verlag mehr. Sie errichte „eine Mauer gegen das deutsche Volk“ lautete der Vorwurf aus dem Hause Kiepenheuer & Witsch. Rowohlt-Lektor Fritz J. Raddatz begründete seine Ablehnung 1965 mit der angeblich mangelnden literarischen Modernität ihres Schreibstils. Nachzulesen ist das in dem kundigen Nachwort von Nicole Henneberg, die das Werk der Journalistin und Schriftstellerin Gabriele Tergit aktuell im Frankfurter Schöffling-Verlag herausgibt.
Die breite Ablehnung der Verlagsszene in den 1960er Jahren lässt sich eigentlich nur durch eine massive innere Abwehr der im Roman wiedergegebenen Tatsachen erklären. Tergit schreibt modern, ihre schnellen Montagen und ihr Ton sind distanziert und knapp. Es gibt keine übergeordnete Erzählstimme, keine Kommentare, stattdessen detaillierte Beschreibungen von Interieurs und Personen, unzählige Dialoge, Gespräche und politische Diskussionen, immer pointiert, nie ausschweifend. Das erinnert an einen hart geschnittenen Dokumentarfilm, dessen Kamera die Zuschauer dicht an die intimen Erlebnisse der Protagonisten heranführt. Die sind häufig amüsant, solange es sich um Alltagsszenen und Familienfeste handelt, aber es beginnt zu schmerzen, sobald der latente Antisemitismus kleiner Gesten und dünkelhafter Bemerkungen in brutale Verfolgung mündet. Die Melancholie der letzten Kapitel zu spüren, in der die Überlebenden im Exil aufeinandertreffen und sich gemeinsam an ihre untergegangene Welt erinnern, ist ein Akt der Trauer, zu dem die Leser*innen bereit sein müssen.
Die Handlungsstränge des Romans konzentrieren sich auf die Verflechtungen von etwa fünf Familien. Es beginnt mit Familie Stern. Mutter Franziska sucht Anschluss an gesellschaftlich gehobene Kreise. Sie gibt einen vornehmen Damentee in ihrer neuen üppig eingerichteten Wohnung, ihre „Füße auf einer gestickten Fußbank, Fußbank auf einem Tigerfell, Tigerfell auf einem Perser“. Auf der Etage gegenüber wohnt die Familie von Oberst von Rumke. Dessen Frau Hildegard und Franziska „waren seltsam intim, konnten offener miteinander sprechen als gewohnt, da sie keine gemeinsamen Bekannten hatten“. Denn die Sterns sind Juden, und mit denen pflegt man im preußisch-adligen Milieu der Kaiserzeit offiziell keinen gesellschaftlichen Umgang. Die Nachbarskinder spielen miteinander, aber Hildegard fragt sich, ob sie damit vielleicht die militärische Karriere ihres Mannes behindert.
Später, in der neuen Republik, heiraten die zarte Freia, die jüngste Tochter des Oberst, und der schöne kecke Rudolf Stern, der zweite Sohn der mittlerweile verwitweten und verarmten Franziska. Bis 1933 und dem Beginn von NS-Regime und Judenverfolgung sind sie glücklich. Zwar kann Freias Bruder Friedrich Wilhelm von Rumke, Reichswehroffizier und Nationalsozialist, seinen Schwager zunächst vor dem Konzentrationslager retten, doch Rudolf stirbt an den Folgen der erlittenen Misshandlungen.
Friedrich Wilhelm ist eine der abgründigsten Romanfiguren. Nach dem Ersten Weltkrieg wütet er auf dem Baltikum als Freikorpssoldat, dann verfasst er pathetische, völkisch-nationale Artikel, heiratet eine aufstiegswillige Nationalsozialistin, verliebt sich in eine junge Jüdin, die er ins Exil ziehen lässt, meldet sich 1939 an die Front und kehrt schließlich nach langer russischer Gefangenschaft desillusioniert und müde ins Privatleben zurück.
Sein Bruder Jürgen von Rumke dagegen wird schon früh Kommunist, geht nach 1933 ins russische Exil und stirbt während der stalinistischen Säuberungen in einem sibirischen Straflager.
Gabriele Tergit hat den zeithistorischen Rahmen und die sozialen Milieus ihres Romans nicht nur präzise recherchiert, sie hat darin auch gelebt. 1894 in Berlin geboren, wuchs sie zunächst im proletarisch-kleinbürgerlichen Stadtteil Friedrichshain auf, bevor sie mit ihrer Familie in eine Villa im Tiergartenviertel zog. Ihr Vater Siegfried Hirschmann war Gründer der Deutschen Kabelwerke. Von 1925 bis 1933 arbeitete Gabriele Tergit als Gerichtsreporterin und Feuilletonistin beim Berliner Tageblatt, eine linksliberale Tageszeitung, die als Berliner Rundschau auch Eingang in ihren Roman gefunden hat, ebenso wie ihr damaliger Chefredakteur Theodor Wolff das Vorbild für die Romanfigur Stefan Heye ist, ein brillanter Intellektueller. 1933 ging Tergit sofort ins Exil, erst nach Palästina, dann nach London, wo 1938 auch ihre Familie aus Berlin eintraf. Bis zu ihrem Lebensende 1982 blieb sie in London und arbeitete dort ab 1957 als Sekretärin des PEN-Zentrums deutschsprachiger Autoren.
Im Roman lässt Tergit die Journalistin Grete Mayer einen ähnlichen Weg gehen. Über Prag und Paris landet die ehemalige Redakteurin der Berliner Rundschau ebenfalls in London. Ihr Mann, der Filmregisseur Otto, bekommt keine Aufträge mehr, die zwei Söhne müssen ständig Schule und Sprache wechseln, entfremden sich den Eltern. Die Familie drängt sich in einem Zimmer zur Untermiete, muss ständig umziehen, begleitet von Geldsorgen, Angst um die zurückgebliebenen Angehörigen und Freunde, Arbeitssuche, Fliegeralarm, Kälte und Versorgungsmangel.
Gretes Mutter Roserl bleibt in Berlin bei einer freundlichen Pensionswirtin. Kurz vor ihrer Deportation nimmt Roserl Veronal, verendet qualvoll, weil kein Arzt einer Jüdin den Tod erleichtern will. Franziska stirbt im KZ Theresienstadt. Ihr Kölner Dom in Alabaster, der neben vielem Nippes einst ihre teure Wohnung im Berliner Westen schmückte, reist mit ihrer Tochter Edith nach New York. Dort bemalt Ediths Mann Martin in Heimarbeit Porzellantassen mit Blumenmustern. Sie leben in einem Zimmer einer Wohnung voller jüdischer Exilanten, die eine Küche und ihre Erinnerungen teilen.
Im harten Wechsel von kurzen Szenen und langen Gesprächen gelingt es Tergit (mit richtigem Namen: Elise Hirschmann) auf subtile Weise, die Atmosphäre von Verfolgung und Exil zu vermitteln, veranschaulicht, wie sich die Ausplünderung der Juden und ihre Entwürdigung konkret abgespielt hat. Wie sie den Sinn und die Requisiten ihres bisherigen Lebens verlieren, die Wohnung, die Möbel, die Kleider, hilflos nach Erklärungen für die Gewalt suchen. Dabei wirken sie sehr deutsch: ihre patriotische Einstellung, ihre Konventionen, ihre Bibliotheken, ihr Meissner Porzellan. Nichts davon schützt sie. In dieser Bedrückung gibt es dennoch immer wieder kurze Glücksmomente und absurde Komik. In den 1960er Jahren wollte man in Deutschland die jüngste Geschichte aus dieser Perspektive offensichtlich nicht lesen. Es jetzt zu tun, lohnt sich, denn es ist immer gut, die Geschichte zu kennen. Manches wirkt heute noch erschreckend aktuell.
Gabriele Tergit: „So war´s eben“
Roman. Hg. und Nachwort: Nicole Henneberg.
Umschlagbild von Lesser Ury
Schöffling & Co. Verlag Frankfurt a.M. 2021
617 Seiten
ISBN: 978-3-89561-474-3
Abb.: Buchumschlag Schöffling Verlag
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