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Die Anfänge der analytischen Philosophie im Wien der Zwanziger Jahre schildert der britische Autor David Edmonds unter dem irreführenden Titel „Die Ermordung des Professor Schlick“.

Leider wurde Moritz Schlick tatsächlich ermordet – leider, denn er scheint ein sympathischer Mensch gewesen zu sein –, aber irreführend ist der Titel trotzdem, denn Edmonds hat nicht die Geschichte eines Mordes erzählt, sondern den Versuch unternommen, dem Leser das Schicksal des „Wiener Kreises“ vor Augen zu führen, dem eine Reihe von später einflussreichen Philosophen und Wissenschaftstheoretikern angehörte. Erst nach gut zweihundert Seiten, im fünfzehnten Kapitel, wird die Geschichte der Bluttat erzählt und der Mörder vorgestellt, und der Rest des Buches gilt dann dem ferneren Schicksal der Mitglieder des Wiener Kreises, von denen viele nach England oder auch in die USA auswanderten.

 

War Schlick ein großer Philosoph? Tatsächlich war er kaum mehr als der größte Verehrer Wittgensteins, dem Edmonds „die ehrerbietige Haltung des Pilgers“ attestiert. Wittgenstein, kommentiert Edmonds, „sagte diese unterwürfige Haltung offenbar zu“ – kein angenehmer Zug, finde ich, und auf jeden Fall eines Philosophen unwürdig. Und zwar auf beiden Seiten. Jedenfalls gründete Schlick den Wiener Kreis und saß ihm vor, und bekannte Logiker und Erkenntnistheoretiker wie Rudolf Carnap oder der große Mathematiker Kurt Gödel gehörten ihm an. Sie waren sich keineswegs in allem einig – außer vielleicht in der Verachtung der Metaphysik und damit der Philosophie überhaupt. Oder in der übertriebenen Wertschätzung der Klarheit. Und die meisten Mitglieder verehrten Ludwig Wittgenstein, dessen Werk für sie den Neubeginn der Philosophie markiert.

 

Über die Mitglieder des Wiener Kreises schreibt Edmonds, dass sie „meist die richtigen Fragen“ stellten; aber diese Fragen waren eben ganz andere als jene der Philosophie von den Vorsokratikern bis hin zu den akademischen Philosophen des frühen 20. Jahrhunderts, die von Schlick, Carnap und ihren Kollegen entschieden abgelehnt, ja verachtet wurden. Dabei kannten sie diese gar nicht und wollten sie auch nicht kennen. Eine Ausnahme stellen allein die Angriffe Carnaps auf Heidegger dar. Aber sonst? Was dabei herauskommt, wenn man die Geschichte der Philosophie nicht kennt, lässt sich am Beispiel der Ablehnung der Metaphysik durch die Mitglieder des Wiener Kreises zeigen, in der sie sich einig fanden. Ein Herr namens Otto Neurath schrie immer „Metaphysik!“, wenn ihm etwas nicht in den Kram passte. Für ihn wie für die anderen war Metaphysik Teufelszeug… Oder sie war, wie für den Mathematiker Hans Hahn, „weltabgewandte Philosophie“ – und eben das könnte falscher nicht sein.

 

Die Ermordung des Professor Schlick COVERWussten sie also – weiß Edmonds? – eigentlich so ganz genau, was Metaphysik ist? Die großen Alten wollten sie ja nicht lesen, und wahrscheinlich haben sie das auch wirklich nicht getan. Außer dem Metaphysiker Heidegger – der ja lustigerweise ebenfalls die Metaphysik überwinden wollte – war noch Kant ein rotes Tuch für diese Leute, besonders seine angebliche Theorie des Dings an sich. So schreibt Edmonds: „Zu behaupten, dass Dinge außerhalb unserer Sinneseindrücke existierten (das ‚Ding an sich‘), war, zumindest für Mach, eine Art verlockender Unsinn.“ Wenn man diesen Satz ernst nimmt, dann hätte Mach (was er ganz gewiss nicht tat…) die radikal-idealistische Position eines George Berkeley vertreten, nach dem das Sein eines Gegenstands sich darin erschöpft, wahrgenommen zu werden. Wenn da niemand ist, der ihn wahrnimmt, dann existiert er also nicht. Die Kurzform dafür lautet „esse = percipi“, und natürlich war das weder Kants Position noch die eines Ernst Mach.

 

Es erstaunt nicht wenig, mit welchem Selbstbewusstsein diese Leute ihre Wissenslücken – um nicht Ignoranz zu sagen – präsentierten; aber vielleicht war es gerade dieses Selbstbewusstsein, dass sie für eine lange Zeit zu echten Siegern machte. Besonders Wittgenstein war von einem Gefühl der eigenen Bedeutung erfüllt, das wohl jeden fassungslos macht, der nicht blind vor Bewunderung seine Schriften in die Hand nimmt. Nicht einmal seinem Freund und Förderer Bertrand Russell, den großen britischen Logiker, traute er zu, seinen Ausführungen im „Tractatus logico-philosophicus“ folgen zu können; und er sagte ihm das auch kurz vor der Verteidigung seiner Schrift ins Gesicht.

 

Zu seinem Charisma scheint nicht wenig beigetragen zu haben, dass er sehr gern auf Begründungen verzichtete, um mit dem Gestus eines Propheten seine Wahrheiten zu verkünden. „Wie Russell berichtete“, so lesen wir bei Edmonds, „hatte Wittgenstein ihm einmal erklärt, dass Argumente die Schönheit seiner Sätze verdürben“. Er behauptete also nur, und bis heute erstarren seine Leser in Anbetung, so wie es die Mitglieder des Wiener Kreises taten.

 

Ich empfinde die Schriften der analytischen Philosophie als technokratisch, kalt und, was das schlimmste ist, entsetzlich langweilig; in meinem Buch „Glanz und Elend der Philosophie“ habe ich meinem Widerwillen Ausdruck zu geben versucht und wenigstens einige ihrer vielen Fehler aufgezeigt. Vor allem die Reduktion der Philosophie auf Logik und Sprachanalyse muss jeden abschrecken, der die großen Werke der Vergangenheit mit ihrem so viel weiteren Horizont schätzt. Als Titelillustration wählte ich deshalb Giorgio di Chiricos ironisches Meisterwerk „Der große Metaphysiker“. Es zeigt ein Wesen, das von einem öffentlichen Platz aus in eine allein ihm zugängliche Ferne schaut.

 

Edmonds, ein für die BBC arbeitender Journalist, ist seit seiner Jugend ein Anhänger der analytischen Philosophie, deren Fragestellungen er auch in diesem Buch erläutert, ohne dafür großartig in die Tiefe zu gehen oder sie gar in Frage zu stellen. Immerhin, weniger unkritisch als ihre Schriften schildert er das Leben und Verhalten seiner Protagonisten. Allerdings ist hier das Buch des derselben Philosophie anhängenden Mathematikers Karl Sigmund zum selben Thema – „Sie nannten sich Der Wiener Kreis“ – viel überzeugender, vor allem farbiger und temperamentvoller. Anders als bei Edmonds‘ früherem Buch über eine Konfrontation zwischen Karl Popper mit seiner „größenwahnsinnigen Veranlagung“ und dem ebenfalls nicht unter übertriebener Bescheidenheit leidenden Wittgenstein ist das Lokalkolorit ein ganz schwacher Punkt; in London und Cambridge kennt sich der Autor aus, diese Orte weiß er zu schildern, aber Wien bleibt blass, und Sigmund, der dort Professor ist, ist ihm als Autor weit überlegen. Dabei enthält Edmonds‘ Buch schon einiges Material zur Kultur- und Sittengeschichte Wiens, aber einem historisch wenigstens durchschnittlich gebildeten deutschsprachigen Leser kann es nicht viel Neues bieten. Es handelt sich ja um ein im Original englisches Buch, und bei seiner ersten Leserschaft mag es sich anders verhalten.

 

Karl Sigmund F

Karl Sigmund, Rennes 1975, Quelle: Mathematisches Forschungsinstitut Oberwolfach. Autor: Konrad Jacobs, Erlangen, Copyright MFO

 

Edmonds kommt also auf Karl Kraus zu sprechen, den Herausgeber und einzigen Autor der „Fackel“; er erwähnt (hakt ab…) Gustav Klimt, Gustav Mahler und andere Größen aus Musik und bildender Kunst und vergisst auch Otto Weininger nicht; er spricht ausführlich über den in Wien grassierenden Antisemitismus; und er behandelt die Biografien seiner Protagonisten hübsch nacheinander. Warum aber spricht der Untertitel von „dunklen Jahren“? Wenn damals tatsächlich die Sonne der Philosophie aufging – und das glaubt er ja ganz unbedingt –, dann müssten es noch sehr helle, ja goldene Zeiten gewesen sein. Ganz offensichtlich sind also die politischen Umstände gemeint – viele der angesprochenen Personen standen politisch eher links oder waren zumindest liberal, und manch einer war Jude. Ins Exil gingen etliche (ihnen blieb nichts anderes übrig), und Edmonds versäumt es nicht, dem Leser die Lebensläufe der Protagonisten hübsch der Reihe nach zu erzählen.

 

Mich hat das Buch enttäuscht – nicht, weil ich anders als der Autor über seine Helden denke, sondern weil es uninspiriert erzählt, philosophisch nicht in die Tiefe geht und so den Leser an keiner Stelle gefangen nimmt.


David Edmonds: Die Ermordung des Professor Schlick. Der Wiener Kreis und die dunklen Jahre der Philosophie.

Aus dem Englischen übersetzt von Annabel Zettel.

C.H. Beck 2021

352 Seiten

ISBN 978-3406774096

 

David J. Edmonds / John A. Eidinow: Wie Ludwig Wittgenstein Karl Popper mit dem Feuerhaken drohte. Eine Ermittlung.

Aus dem Englischen übertragen von Suzanne Gangloff, Angela Schumitz, Fee Engemann und Holger Fliessbach

Deutsche Verlagsanstalt

283 Seiten

ISBN 978-3421053565

 

Karl Sigmund: Sie nannten sich Der Wiener Kreis. Exaktes Denken am Rand des Untergangs.

Springer Spektrum 2015

384 Seiten

ISBN 978-3658180218

 

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