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„Die wunderbare Kälte“ von Elisabeth Rettelbach ist das Erstlingswerk dieser Autorin. Das ist dem Buch glücklicherweise nicht anzumerken.

Dafür ist es zu gut gemacht, zu gut geschrieben, zu gut vermarktet.

 

Die Protagonistin des Romans heißt Kai. Kai ist Maskenbildnerin und liebt auch privat die Maskierung. Perücken in allen Farben, Brillen jeglicher Form, schrille Farben und andere Utensilien genügen der Einzelgängerin für ihr merkwürdiges Hobby: sie stalkt fremde Menschen. Am liebsten tut sie das im Winter, wenn alle anderen „Normalsterblichen“ auch vermummt sind. Dann fällt Kais Maskerade gar nicht auf und sie bleibt unentdeckt. Entdeckt wurde der Debütroman vom Kirschbuch-Verlag mit Hilfe der Künstlichen Intelligenz LiSA, einer Text-Analyse-Software. Das Verlagsteam stufte das herausgefilterte Werk als literarisch hochwertig ein und kürte es zum „Bestseller von morgen“. Das macht neugierig auf das Buch. Doch ob das funktioniert? Fakt ist, was als Spielerei beginnt, entwickelt sich auch für den Leser mehr und mehr zum Albtraum. Genauso, wie es die Verlagswerbung verspricht.

 

Kai betrachtet das Leben der anderen gern aus der Nähe, bleibt aber selbst dabei auf Distanz. Solange, bis ihr zwei Menschen über den Weg laufen, die sie stärker faszinieren als alle anderen bisher und in deren Leben sie sich einmischt: Tama und Milo. Bald zeigt sich, selbst jemand wie Kai, die möglicherweise eine Psychopathin ist, kommt nicht an der Liebe vorbei. Der Umgang mit der Liebe, der schon für „normale“ Menschen schwierig genug ist, erscheint Kai allerdings als schier unlösbares Problem. Zumal sie Vorstellungen hat wie diese: „Aus dem goldenen Spiegel, der einen großen Teil der Wand neben meinem Bett einnahm, sah mir meine Reflexion still über die Schulter.“ Was macht jemand wie sie mit jemandem wie Milo? Milo, der Kai immer wieder versichert, wie sehr er sie liebt. Milo, der Kai „Major Tom“ nennt so wie im Song „Space Oddity“ von David Bowie. Er nennt sie so, weil sie so fern und unnahbar ist. Wie soll Kai umgehen mit Milo, mit all ihren tiefliegenden Ängsten, mit all ihren psychotischen Störungen? Zumal die Lage nicht nur für sie immer komplizierter wird und Kai sich immer mehr in erfundenen, erlogenen und echten Geschichten verstrickt. Überall lauert Mephisto im Hintergrund, während der Engel im Vordergrund frohlockt. Wer von beiden wird siegen?

Durchaus spannend hat Elisabeth Rettelbach die Geschichte dieser psychisch kranken Protagonistin aufgebaut, auch sprachlich und formal kann sich der Roman sehen lassen. Die Protagonistin ist allerdings wenig liebenswert, eher unsympathisch und funktioniert – wenn überhaupt - als Antiheldin. Für uns Leser gibt es viel zu sehen in dieser verrückten Welt einer psychisch Kranken. Das Lesefieber steigt entsprechend und wird beständig in die Höhe getrieben. Es ist spürbar: Die Autorin Elisabeth Rettelbach hat für ihr Schreiben große Vorbilder wie Edgar Allan Poe, Dorothy Sayers und andere. Als Leserin liebt die Autorin vor allem Krimis und Grusel. Doch auch Biografien und historische Reiseberichte gehören zu den von ihr bevorzugten Büchern.

 

Zu den absoluten Lieblingsbüchern von Elisabeth Rettelbach zählt der Roman „Rebecca“ von Daphne du Maurier. So ist es kein Wunder, dass die Autorin ein Zitat aus diesem Klassiker ihrem eigenen Buch auf Englisch vorangestellt hat. Übersetzt heißt es so: „Ich folgte einem Phantom in meinem Kopf, dessen Schattenform endlich Gestalt angenommen hatte. Ihre Gesichtszüge waren verschwommen, ihre Färbung undeutlich, die Einstellung ihrer Augen und die Textur ihrer Haare waren immer noch ungewiss und mussten noch enthüllt werden.“ Das alles trifft auch auf Kai zu. Kai, die sich nicht gerne kontaktieren lässt, lieber selbst Kontakt aufnimmt und die Fäden am liebsten in der eigenen Hand behält. So hat sie das auch mit Milo vor und eine Weile klappt das auch recht gut. Sie tut Milo gegenüber so, als habe sie kein Handy und auch kein Festnetztelefon. Einer der vielen Tricks aus Kais Zauberkiste. Doch wie so vieles, funktioniert auch dieser Trick nicht lange, schon gar nicht ewig. Das ganze Unheil nahm jedoch schon viel früher seinen Lauf. Eigentlich von Anfang an…

 

Elisabeth Rettelbach Die wunderbare Kälte COVEREs gibt ein „Vorher“ statt eines Prologs. Wenige Seiten später beginnt mit „Und dann“ der eigentliche Roman. Das Vorher beginnt so: „Ich war auf Verfolgungsjagd. Die Frau mit der leuchtend roten Mütze ging dreißig Schritte vor mir. Sie wusste nichts von mir.“ Es folgt die Frage: „Bin ich eine Serienmörderin? Wer weiß. Ich glaube nicht“. Wir wissen also, der Roman ist in der Ich-Form geschrieben. Das „Ich“ bezeichnet sich als Orakel und hat eine Mission. Es nutzt eine Spy-App, um Gespräche abzuhören und spricht zu uns von seinem Opfer: „Wenn sie wüsste, was sie mir online alles erzählt hatte.“ Die beiden kennen sich, doch dieses Kennen wurde im Internet auf Lügen aufgebaut; in der Realität ist das Kennen ganz und gar einseitig. Da gibt es Kai, die Stalkerin, und „die Frau, die nicht wusste, dass es mich gab.“ Zwei Wochen sind es her, dass Kai der Frau einen Zettel mit ihrer E-Mail-Adresse und einer charmanten Nachricht zugesteckt hatte. Und jetzt waren sie beide hier. Alles verlief nach Plan. Genauso, wie Kai es gewollt hatte.

Der Kirschbuch-Verlag schreibt auf seiner Webseite über „Die wunderbare Kälte“: „Dieser Roman möchte bewusst ein Statement setzen und in den Diskurs gehen: Wie viel Zuneigung muss eine Romanfigur bei den Leser*innen wecken? Darf auch auf diesem Feld experimentiert werden und von der Norm abgewichen werden? Kann literarischer Anspruch als eine Kunstgattung anerkannt werden und sich damit über Figuren-Identifikationen und moralisch einwandfreien Inhalt stellen?“ Das ist hochgegriffen und anfechtbar. Wie bitte schön soll ein literarischer Anspruch als Kunstgattung anerkannt werden? Eine Kunstgattung namens „Literarischer Anspruch“ – diese Vorstellung befremdet und schadet eher dem hohen Anspruch, der diesem Buch verlagsseitig zugebilligt wird. Nützlich für die literarische Anerkennung des Buches ist sie nicht.

 

Dabei gibt es durchaus schöne Stellen, die vom guten Sprachgefühl der Autorin zeugen. Sätze wie „Man sah in die Flocken hinaus und wirbelte mit ihnen. Die Welt verlor all ihre Geräusche und Gerüche: Endlich beginnt mein Winter.“ Damit endet übrigens das „Vorher“ und es beginnt das „Und dann“. Gleich auf der ersten Seite heißt es dort: „… und die Straßenlaternen laufen mit ihrem Licht neben mir her, und überall kreisen Menschen wie Planeten, so nah und fern und ewig, und doch sind sie nur ein Wimpernschlag im Universum.“ Mag sein, dass solche Sätze nahe am Kitsch angesiedelt sind. Aber ist Kunst nicht immer auch eine Gratwanderung? Hier ist sie gelungen. Das erste Buch von Elisabeth Rettelbach ist sicher nicht das letzte Buch der Autorin, das seinen Weg zur Leserschaft gehen wird und gut ankommt.


Elisabeth Rettelbach: Die wunderbare Kälte

Roman. Kirschbuch Verlag 2020

ISBN 978-3948736125
Taschenbuch, 405 Seiten

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