Kolumne

Der „ganze“ Mozart

Wenn ihr’s nicht fühlt, ihr werdet’s nicht erjagen,

Wenn es nicht aus der Seele dringt

Und mit urkräftigem Behagen

Die Herzen aller Hörer zwingt.

Bewundrung von Kindern und Affen,

Wenn euch darnach der Gaumen steht –

Doch werdet ihr nie Herz zu Herzen schaffen,

Wenn es euch nicht von Herzen geht.

(Goethe, Faust, Erster Teil, Verse 534 ff.)

 

„Was ist dieser Klang, der dir Heimweh macht? Und was ist diese Musik, die dich zittern macht und dir den Atem nimmt, als wüßtest du deine Geliebte vor der Tür stehen und hörtest den Schlüssel schon sich drehen? Was ist dieser Akkord, mit dem die wunderliche Musik Ernst macht und dich in die tragische Welt führt, und was ist seine Auflösung, mit der sie dich zurückholt in die Welt heiterer Genüsse? Was ist diese Kadenz, die ins Freie führt?! Wovon glänzt dein Wesen, wenn die Musik zu Ende geht, und warum rührst du dich nicht? Was hat dich so gebeugt und was hat dich so erhoben? Was hörst du noch, wenn die Musik zu Ende ist? Was ist es?! Gib Antwort! ‚Still!’ Das vergesse ich dir nie.“ (Ingeborg Bachmann)

 

Es mag verwegen anmuten, aus den 626 Werken des Köchelverzeichnisses das eine herauszupicken, das, pars pro toto und wie es in der Überschrift heißt, den ganzen Mozart zum Erklingen bringt. Und das ist es wohl auch, verwegen. Dennoch, ich lasse mich dazu hinreißen, das Klavierkonzert Nr. 22 in Es-Dur, KV 482, als repräsentativ zu deklarieren. Repräsentativ? Ich versuche zu präzisieren, was schwerfällt, da dieses Konzert unter der Leitung des österreichischen Pianisten Rudolf Buchbinder – der Pianist und Dirigent ist in einer Person – so Überraschendes bereithält, dass es paradox klingt, es als charakteristisch auszugeben. Charakteristisch ist immerhin das passendere Wort in Hinblick auf das, was ich zu erklären versuchen werde.

 

Ich werde jetzt keine Umwege einschlagen. Indem ich hinlänglich bekannte Mozart-Klischees repetiere. Sondern ich gebe mir Mühe, das in Worte zu fassen, was mich an Mozarts Kompositionen in der Summe so sehr affiziert. In fast einem Wort: das Erklingen eines emotionalen Kosmos‘. Oder auch so: Mozart war der, der „genießend oder schaffend … gleich wenig Maß und Ziel“ gekannt hat (Eduard Mörike, Mozart auf der Reise nach Prag). Freigebig bis zur Selbstaufopferung. „Möge der Künstler (...) mit freudigem Herzen auf eine eitle egoistische Rolle verzichten (...); möge er sein Ziel in und nicht außer sich setzen und ihm die Virtu­osität Mittel, nie Zweck sein (...) So unterscheide ich bloß die Leute, die etwas können, von denen, die nichts können. Letztere mögen nur ungestört fortschwätzen und schmieren – ja sogar den Mond anbellen, wenn es ihnen beliebig (sic!).“ (Franz Liszt)

 

Ich zäume das Pferd von hinten auf. Höre ich Mozarts Instrumentalwerke, vor allem jedoch für ein oder mehrere Soloinstrumente – Klavier, Violine, und das 1791 komponierte für die Klarinette in A-Dur (KV 622) etc., gleichviel, wobei ich doch, aus gegebenem Anlass, das Violinkonzert Nr. 1 B-Dur (KV 207) aus dem Jahr 1773 seines dritten Satzes wegen ganz besonders hervorheben möchte –, dann will mir scheinen, als würde Mozart im Finalsatz musikalisch die Zunge herausstrecken, um vor all denen, die glauben, ihn vereinnahmen zu können, Reißaus zu nehmen. Ihr kriegt mich nicht, ihr kriegt mich nicht, auch wenn ihr noch so sehr zu glauben meint, in mir den eingängigen, konformen, tändelnden, leichthin plätschernden und frohgemut trällernden Rokokotonsetzer par excellence zu besitzen. Der ich tatsächlich auch – der Wahrheit die Ehre – (nicht) gewesen bin…

 

Mozart auf der musikalisch die Nase ziehenden, durchaus hektischen Flucht vor den ihn notorisch missverstehenden banalen Schönfärbern, vor der feisten Saturiertheit der Bildungsbeflissenen mit ihrem farblosen und kontrastfreien harmonischen Sichwohlbefinden. „Für den Künst­ler, der dieses Namens würdig sein will, ist die Gefahr, dem Publikum zu missfallen, eine weit geringere als die, sich durch dessen Lau­nen bestimmen zu lassen – und dieser Gefahr bleibt jeder aus­übende Künstler insbesondere preisgegeben, wenn er nicht entschieden und prinzipiell den Muth fasst, für seine Überzeugung ernstlich und consequent einzustehen und die von ihm als die bes­seren erkannten Sachen vorzuführen, mag es den Leuten gefallen oder nicht.“ (Franz Liszt)

 

Voraufgegangen sind die tief herzzerreißenden, so unsäglich traurig-schmerzhaft-wehen zweiten Sätze, die immer etwas von Abschiednehmen haben und daran gemahnen, dass wirklich nichts von Dauer ist. Die Trauer der und über die Vergänglichkeit und die ängstliche, zaghaft klingende Bitte, derer zu gedenken, die nicht mehr sind oder sein werden: das im Jetzt empfundene und in stummem Einverständnis akzeptierte und auf sich genommene Gewesensein und, wie bist du doch in Trauer schön, das leb mir wohl und vergiss mich nicht.

Mir will es scheinen, dass alle diejenigen, die mit Mozart fertig zu sein glauben, tatsächlich ausnahmslos die ersten Sätze zur Kenntnis genommen haben. Aber selbst das stimmt so nicht. Denn das je länger, je mehr charakteristische feierliche Erstrahlen – ein Emporgerissenwerden in höhere, den Menschen adelnde Sphären, das schon viel von Beethoven vorwegnimmt – ist ja auch ein harmonisch tief und weit differenziertes Hohelied auf das schöpferisch drängende Sich-befreien-wollen aus den Fesseln banaler Alltäglichkeit. Ein Zu-sich-selbst-Finden und -Gestalten all des Guten und Hohen, das die menschliche Brust in sich birgt.

 

Mozarts Klavierkonzert Nr. 22 in Es-Dur, KV 482 in der Darbietung von Rudolf Buchbinder, über die abschließend auch noch ein Wort zu verlieren sein wird. Das überwältigend Besondere dieses späten Konzerts besteht für mich darin, dass Mozart im finalen ‚Flucht‘-Satz nur im ersten Teil naseziehend und clownesk den Vereinahmunsgepflogenheiten des alles verdauenden Musikrezipienten davonläuft: hurtig, über Stock und Stein, das Gekicher des übermütig und triumphierend sich lustig Machenden in Töne setzend.

Doch dann geschieht, worauf ich beim ersten Hören nicht gefasst war, das ganz und gar Unerwartete: die Ton- und Gefühlsart wechselt von einem Moment auf den nächsten. Es ist, als ob das memento mori des Requiems erklänge. Nicht das, sondern ein frühgeborener Bruder oder eine frühgeborene Schwester des fragmentarischen spätesten Spätlings. Das Berührend-Ergreifend-Anrührendste und die Tränen Hervorpressende aber ist, dass die Sologeige des Konzertmeisters – und eine lediglich ganz dezent im Hintergrund anklingende Begleitung der Solobratsche – in zweimaligem Anlauf in den fragil-innigen Dialog mit dem anderen Soloinstrument eintritt.

 

Wie fasst man das in Worte? Ich gebe zu, ich kann es nicht. Die andere, die Musikalisch-Hellhörige, die zu Beginn zitiert wurde, mag erneut sprechen: „Wovon glänzt dein Wesen, wenn die Musik zu Ende geht, und warum rührst du dich nicht? Was hat dich so gebeugt und was hat dich so erhoben? Was hörst du noch, wenn die Musik zu Ende ist? Was ist es?! Gib Antwort! ‚Still!’ Das vergesse ich dir nie.“

 

Aber die Musik ist ja noch gar nicht zuende. Denn das Finale ist wie eine todtraurige Satire und ein sich selbst annullierender, hektischer Abgesang auf das weh-glückselige Mitsichselbsteinssein eines Geborgenen, der sich selbst nicht über den Weg traut, wenn und indem er dem Menschen das zeitlich begrenzte Gefühl geschenkt hat, dass alles gut geworden ist. Denn das ist es ja nun einmal nicht. Weder gestern, noch heute, noch morgen. Also gibt man Fersengeld und täuscht die Gaudi und das falsch Frohgemute vor, an die und das man selbst auch und ebenso längst zu glauben aufgehört hat. Da die Monstrosität weltweiter Gewaltbereitschaft – egal, wohin du schaust, ein unentwegtes Eskalieren – von allen Seiten einem nur noch einen Schauer des Schreckens nach dem anderen den Rücken herunterjagt, drängt sich der Gedanke an ein freiwilliges Ende, das vermutlich die Erlösung wäre, naturgemäß auf. Trotzdem und jetzt erst recht, auch wenn es ganz nah ans Makabre des hilflosen Selbstschutzes grenzt: Die Musik ist „der höchste Ausdruck, den die Menschheit überhaupt gefunden“ hat. Selbst in der Negation und Zurücknahme ist da dieser Glanz und das dann doch leichtfertig anmutende Erstrahlen eines Versprechens wie aus Kindesmund. Das Grauen und Grauenhafte mag hinsichtlich der unbedarft mit sich halbwegs im Einklang Lebenden noch knapp unterhalb der Horizontlinie lediglich zu erahnen sein…

 

Rudolf Buchbinder F Marco Borggreve

Rudolf Buchbinder. Foto: Marco Borggreve

 

Rudolf Buchbinder. Der 1946 in Litoměřice geborene österreichische Pianist, der einen gut Teil der – Vorsicht ist bekanntermaßen geboten – 27 Klavierkonzerte Mozarts zusammen mit den Wiener Philharmonikern in die Öffentlichkeit getragen hat… Ich stutze. Eine Eloge ist immer peinlich und anmaßend zugleich. Also schließe ich anders, nämlich wieder mit einem ein wenig modifizierten und den Gegebenheiten angepassten Zitat der früh verstorbenen Klagenfurterin: Dieser Künstler, so mein Empfinden, ist „ein Mensch, der unvertraut ist in einer Welt der Mediokrität und der Perfektion“. Er hat sich in seiner Wiedergabe des Mozartischen Musik-Universums „der Annäherung an Vollkommenheit verschrieben“. Denn sein Spiel lässt „nie vergessen, daß es Ich und Du gibt, daß es Schmerz gibt, Freude“, sein Spiel ist „groß in der Liebe, in der Zartheit, in der Brutalität“, es ist „groß in jedem Ausdruck“. Und das gilt selbstredend auch und vielleicht noch mehr für die Vielzahl seiner Beethoven-Einspielungen.


Der ganze Mozart

 

YouTube-Video:

Mozart, Piano Concert Nr 22 Es-Dur KV 482. Rudolf Buchbinder Piano & Conducter, Wiener Philh (33:23 Min.)

 

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