Kultur, Geschichte & Management

In einem dicken Buch erzählt die britische Althistorikerin Judith Herrin die bewegte Geschichte von Ravenna, der Hauptstadt Theoderichs des Großen.

 

Obwohl schon lange vor der Zeitenwende gegründet, ist Ravenna für uns doch weniger eine antike- als vielmehr eine spätantike- oder frühmittelalterliche Stadt. Für eine Weile war Ravenna sogar das Zentrum Italiens, als es mit dem römischen Reich zu Ende ging. Damals war es als Sitz einiger großer Herrscher für kurze Zeit ebenso bedeutend wie Rom, heute ist es nur noch eine Provinzstadt. Aber wer denkt an Politik, wenn er den Namen hört? Die meisten haben das Grabmal Theoderichs vor Augen, viele aber sicherlich auch die fantastischen Mosaiken, mit denen die noch aus dem 5. und 6. Jahrhundert stammenden Kirchen geschmückt sind.

 

Jean Gebser schreibt 1959 im Eingang zu seinem zweibändigen Werk „Ursprung und Gegenwart“: „Nirgends läßt sich der Wandel in Weltgefühl und Weltbetrachtung des Europäers so deutlich ablesen wie an der Malerei und Architektur.“ Das ist ein kluger Hinweis: Es lohnt immer, besonders die Architektur ins Auge zu fassen, wenn der Geist einer Zeit beschrieben werden soll. Und worum soll es in Geschichtswerken gehen, wenn nicht darum? Was sind uns Namen, und mögen diese auch großen Feldherrn und Kirchenfürsten gehören? Selbst ein so bedeutender Herrscher wie Theoderich nimmt nicht wirklich Gestalt an. Aber die Kirchen…

 

Die Kirchenbauten Ravennas – viel älter als selbst die allerältesten in Deutschland – präsentieren im Vergleich zu heute eine andere Religiosität und ein ganz anderes ästhetisches Empfinden. Auf Mosaike auf Goldgrund griffen europäische Künstler zwar immer wieder zurück, wahrscheinlich, weil wir Späteren sie als exotisch und eminent poetisch verstehen. Aber wo sonst wird der Zeitenabstand so deutlich? Wir fühlen uns, wenn wir eine spätantike Kirche betreten, in einem anderen Kulturkreis, vielleicht schon deshalb, weil sich in ihnen ein anderes Raumgefühl ausdrückt als in den lichtdurchfluteten gotischen Kirchen, vielleicht noch mehr wegen des Goldgrundes, der aus Byzanz kam und der von Oswald Spengler als das Symbol der arabischen, von ihm „magisch“ genannten Kultur angesehen wurde. Und arabisch war für Spengler auch die byzantinische Kultur. Und war nicht wirklich der Arianismus, dem Theoderich anhing, mit seinem strengen Monotheismus dem Islam verwandt? In eben der Weise, wie es den Islam bis heute kennzeichnet, lehnte er die Gleichrangigkeit von Heiligem Geist und Jesus mit Gott ab. Für den Katholizismus war das eine Häresie, die bald nach dem Tod des Theoderich beendet wurde.

 

Ravenna San Vitale

Bögen und Arkaden in der Basilika San Vitale, Ravenna. Foto: Pixabay

 

Byzantinismus ist für Spengler also eine der arabischen Kulturen zumindest eine verwandte Kultur, und Ravenna war eine zunächst in politischer Hinsicht, dann aber eben auch kulturell Ostrom verpflichtete Stadt. Leider sind uns die mit Ravenna ungefähr gleichzeitigen Mosaiken aus Byzanz nicht mehr bekannt – sie fielen dem Bilderstreit zum Opfer. Neben wir deshalb noch einmal Spengler in die Hand! In der arabischen Kunst gab es laut seinen Deutungen keinen Horizont, sondern die Menschen erlebten sich selbst als die Bewohner einer „Welthöhle“. Der metallische Glanz, den es in der Natur kaum gebe – so Spengler –, nehme „der Szene, dem Leben, den Körpern ihr handgreifliches Sein“ und drücke damit „Wesen und Walten des göttlichen Geistes“ aus. Von der Wahrheit von Spenglers Beschreibungen kann sich jeder selbst überzeugen, denn selbst ausgemachte Atheisten fühlen sich bereits beim Eintritt in die Dunkelheit einer solchen Kirche, mehr aber noch angesichts der Mosaiken seltsam berührt. Und man muss dafür nicht fromm sein.

Im selben Sinne wie Spengler beschreibt Jean Gebser die sakrale Architektur des Ostens und ihren Eindruck auf uns. „Hier wird der Raum bloßer Gewölberaum, den orientalischen Mutterreligionen entsprechend ein Höhlenraum, mit dem Nachklang an die gewaltige kosmologische Konzeption, wonach das Weltall selbst nichts anderes ist als eine ungeheure Höhle.“

 

Solche Beobachtungen und Überlegungen spielen in wissenschaftlichen Arbeiten unserer Zeit ganz selbstverständlich keine Rolle; nicht in dem Buch der englischen Historikerin Judith Herrin, aber auch nicht in dem schönen Buch der Kunsthistorikerin Carola Jäggi über Ravenna, das der Kultur dieser Stadt und Zeit viel eher gerecht wird und das gleich gewürdigt werden soll.

 

Herrin Ravenna COVERZwar spricht Herrin die verschiedenen christlichen Konfessionen jener Zeit an – den frühen Katholizismus mit seiner schon damals totalitären Tendenz, das arianische Christentum, das bald nach dem Tod des Theoderich für immer verschwinden sollte, und die orthodoxe Kirche, zu deren Zentrum Byzanz wurde –, aber sie erläutert nur die dogmatischen Differenzen, ohne sich um deren kulturelle oder emotionale Seite zu kümmern. Das ist nicht ihr Thema. Die Historikerin erzählt allein die politische Geschichte, also das Leben der letzten römischen Kaiser, die Kämpfe und Feldzüge von Bischöfen und Feldherren, unglücklichen Nachfolgern und Usurpatoren, deren Namen wir Leser gelegentlich sogar erinnern, aber mit denen wir kaum etwas verbinden: Es sind Namen und nichts als das, selbst wenn es sich um eine so bedeutende Gestalt wie Odoaker handelt. Er war eine zentrale Gestalt, als das Römische Reich 476 zu Ende ging, ein mächtiger Herrscher. Es gibt eine Münze, die sein Bildnis zeigt, und Quellen, die von seinen Taten erzählen, aber was weiß man von ihm: von seinem Aussehen und Charakter, seinen Sprachen, seiner Bildung? Auch dieses Buch bringt uns den Mann nicht näher, ja, es versucht es nicht einmal.

 

Wenn man in Rezensionen liest, Judith Herrin habe die Geschichte Ravennas lebendig erzählt, so ist das nicht wahr. Sie ist eine respektable Wissenschaftlerin und seriöse Autorin, die gar nicht anders kann, als eine eigentlich blutvolle und farbige Geschichte nüchtern und trocken an den Quellen entlang zu erzählen. Ein Sachbuchautor hätte sich zur Illustration einige nette Szenen ausgedacht, aber dergleichen findet sich hier nicht: die Texte geben es nicht her, und eine Autorin wie Herrin denkt sich nichts aus. Sie fabuliert nicht, und das ist zweifellos in Ordnung. Aber: Wir erfahren nichts über den Alltag der Menschen, die Organisation der Stadt oder über die Kleidung. Gelegentlich geht die philologisch hochgebildete Autorin auf die Sprache ein, aber auch diese wird nicht lebendig – an keiner Stelle. Eine Deutung, gar eine spekulative Deutung dieser Kultur, wie sie von Spengler oder Gebser versucht wurde, würde nicht dem wissenschaftlichen Standard gerecht werden. Aber eben auf eine solche Deutung kommt es doch alleine an: Was interessieren uns alte Goten, wenn sie keine Gestalt annehmen, nie ein Gesicht bekommen, uns nicht ansprechen?

Im Grunde ist das dicke Buch eine Chronik, in der sich isolierte Ereignisse hervorragend nachschlagen lassen, aber eine lebendig erzählte Geschichte bietet es uns nicht. Daran kann auch der Bildteil in der Mitte des Buches nichts ändern, deren schöne Fotos immerhin die geradezu unwirkliche Schönheit der großen Mosaiken andeuten. Aber auch die gleichfalls in großer Zahl abgebildeten Münzen können uns diese Welt nicht näherbringen.

 

So wie die Autorin nicht gegen die akademischen Regeln der Darstellung verstößt, so setzt sie allenfalls vorsichtig Akzente, wenn sie uns die politische Geschichte nacherzählt. In den letzten Kapiteln erscheint Karl der Große, dessen Existenz ja seit bald drei Jahrzehnten ernsthaft in Frage gestellt wird, aber so irreal und ahistorisch uns seine Taten auch erscheinen mögen – in diesem Buch taucht auch nicht der leiseste Zweifel auf. So gilt Karl der Forschung als Analphabet, aber Herrin erzählt, wie der Kaiser in den Archiven Ravennas forscht und in alten Dokumenten auf einen Herrschertitel stößt, den er sich nach dem Vorbild längst vergessener Herrscher zu eigen macht: „Romanum gubernans imperium“ (der, der das römische Reich lenkt – sich Imperator zu nennen hätte Karl abgelehnt). Ebenso merkwürdig (das fand ich schon als Schüler!) ist das Kindermärchen, wie Karl zu seiner allergrößten Überraschung von Papst Leo zum Kaiser gekrönt wurde. Weihnachten 800: das kann man sich gut merken. Alle diese Geschichten werden dem Leser von Herrin erzählt, ohne dass sie irgendeine dieser unglaubwürdigen Anekdoten auch nur ganz vorsichtig in Zweifel zieht.

 

JAEGGI Ravenna COVERRavenna und seiner prachtvollen Kultur viel eher gerecht wird der Band von Carola Jäggi. Er richtet sich ausdrücklich an „interessierte Laien“, die mit dem Buch in der Hand die alten Kirchen besichtigen oder sich auch nur auf eine Reise vorbereiten wollen. Die renommierte Kunsthistorikerin stellt die einzelnen Kirchen im Detail vor, indem sie deren (Bau-) Geschichte erzählt und die Ikonographie vor allem der Mosaiken, aber auch der Sarkophage und anderer Monumente vorstellt und ausdeutet. Sämtliche Passagen des Textes sind großzügig illustriert (in der Regel mit Farbfotos), so dass die geradezu unwirkliche Schönheit der Kircheninnenräume und ihres Schmucks anschaulich wird. Ebenso wichtig ist es, die Veränderung der Landschaft zu verstehen, denn Ravenna, das früher eine Küstenstadt war, liegt heute zehn Kilometer vom Meer entfernt. Besonders das Bodenniveau hat sich enorm erhöht, so dass viele Fußbodenmosaike verschwanden, wenn sie nicht einer Modernisierung zum Opfer fielen.


Judith Herrin: Ravenna. Hauptstadt des Imperiums. Schmelztiegel der Kulturen.

Aus dem Englischen übersetzt von Cornelius Hartz.

wbg Theiss 2022

605 Seiten

ISBN 978-3806244168

Weitere Informationen (Verlagsseite)

 

Carola Jäggi: Ravenna. Kunst und Kultur einer spätantiken Residenzstadt. Die Bauten und Mosaiken des 5. und 6. Jahrhunderts.

Schnell & Steiner 2016

336 Seiten

ISBN 978-3795431273

Weitere Informationen (Verlagsseite)

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