Kultur, Geschichte & Management

In den vergangenen fünfzig Jahren fand, sichtbar für jedermann, von urbanen Metropolen bis kleineren Städten ein immenser Wandel statt.

Fokussiert werden soll in diesem (keinesfalls vollständigen thematischen) Beitrag jene Veränderungen, die die Idee und Nutzung von öffentlichen Räumen betreffen und Fragen nach Identität stellen.

Einerseits kann man diesen Wandel als Rückkehr zu Verhältnissen ansehen, die aus dem Mittelalter in Europa bekannt sind, nämlich dass der Großteil der Bürger, also jenen Bewohnern einer Schutzbefestigung, die sich in und um eine Burg herum ansiedelten und jenen aus dem Umland, miteinander auf Straßen, Plätzen, Märkten kommunizierten, handelten und sich sozial austauschten.

Andererseits haben die Veränderungen des Kommunikationsverhaltens, der Mobilität, der jahrzehntelangen, urbanen und primären Planungen nach Bedürfnissen von Autoverkehren und kommerziellen Zielen, Stadtbilder und die Nutzung des öffentlichen Raums (inklusive des privaten und halböffentlichen Raums) völlig auf den Kopf gestellt. Straßen wurden als Achsen verbreitert, Parkstreifen eingerichtet, Märkte wurden zu Parkplätzen umfunktioniert, innerstädtische Wohnquartiere zu Büroimmobilien degradiert. Dazu kommen Gentrifizierung und Gewinnaufwertungen von Wohnraum und Quartieren, mit den Folgen von der Zerstörung und Verdrängung von lang gewachsenen Gemeinschaften.

 

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Die gesamte Quantität und Geschwindigkeit von Bewegungen, von Verweildauern von Besitzwechseln ist evident. Eine Urbanisierung findet längst auch im ländlichen Raum statt – Schnellstraßen, Autobahnen und Hochgeschwindigkeits- und Energietrassen wurden und werden durch die Landschaft gebaut, um Städte miteinander zu verbinden und näherzubringen. Verkehre und Geschwindigkeit werden damit auf das Mehrfache potenziert.

 

Parallel dazu sank das städtische öffentliche Leben seit den 1960er Jahren proportional. Insbesondere ließ die Qualität, sich im öffentlichen Raum aufzuhalten, extrem nach. Luftverschmutzung, hohes Verkehrsaufkommen, Lärm, (Über)-Reglementierung von Verhaltensformen und -normen sind nur einige wenige weitere Beispiele. Durch neue Konzepte der Freizeit- und Kulturgestaltung und einem veränderten Umweltbewusstsein sowie Verhaltensnormen hat der öffentliche Raum neue Impulse erhalten. Vormals im Privaten stattfindende Tätigkeiten werden nunmehr seit über zwei Jahrzehnten vollkommen selbstverständlich in der Öffentlichkeit getätigt[1] wie Telefonieren, Messages tippen, Essen und Trinken, Abhängen, Schlafen etc.[2]

 

Wonach richten sich Konzepte für Freiräume und deren Nutzung?

Nach Eigentumsverhältnissen und ökonomischem Wert? Nach Bedürfnissen von Bewohnern und Besuchern? Nach gesellschaftlicher Lebensqualität und demokratischen Anforderungen? Keine dieser Fragen kann man eindeutig mit „Ja“ oder „Nein“ beantworten.

In der heutigen Stadtplanung werden urbane Freiräume nach nachfolgenden Kriterien differenziert und aufgegliedert, u.a. „nach ihrer Funktion (Erholung, Sport, Spiel, Transit...), ihrer Größe und Bedeutung für die Stadt (stadtteilbezogen, wohngebietsbezogen...), ihrer Struktur (flächig, netzartig), ihrer Gestaltung (grün, urban) oder nach den Eigentumsverhältnissen (öffentlich, teilöffentlich, privat)“.[3]

 

Beschränken wir uns auf den städtischen öffentlichen Raum dann können wir feststellen, dass in Europa einige Städte bereits Ende der 1960er Jahre damit angefangen haben, Raumkonzepte, Freiräume und sozial verträgliche Ideen – zunächst und insbesondere durch deutliche Einschränkung des Kraftwagenverkehrs – zu entwickeln. Hier ist die dänische Hauptstadt Kopenhagen eine der Vorreiterinnen. Im Jahr 1968 verfügte die Stadt[4] über 20.000 m2 autofreie Zonen. 1986 vergrößerte sich diese auf 55.000 m2 und im Jahr 1995 auf 71.000 m2. Im Jahr 2007 definierte sich Kopenhagen als Umwelthauptstadt Europas, investierte Millionen in neue Infrastrukturprojekte und steht mit London (City-Maut, „Green Spaces“), Rotterdam (Verkehrsberuhigungen, Fußgängerzonen), Paris (umweltfreundliche Umgestaltung und partizipative Begrünungsprojekte) und Wien (Extrem hohe Innenstadtparkgebühren, Fassadenbegrünung als Pflicht bei Neubauten) nicht nur auf weniger Autoverkehr, sondern parallel dazu auf Gewinn an Lebensqualität durch Begrünung des öffentlichen Raums mit dessen teilweise multifunktionalem Charakter. Multifunktional ist beispielsweise das Flanieren, Durchqueren, Sitzen auf Bänken, Spielen, Kaffeetrinken in Straßencafés, das Musizieren oder Jonglieren etc. an einem einzigen Ort.

 

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Nutzung des öffentlichen Raums am Wasser in Groningen/NL. Foto: Menno de Jong

 

Welche Ergebnisse und Wirkungen in diesem Zusammenhang innovative, identitätsstiftende und umweltfreundliche urbane Strategien und Konzepte hervorgebracht haben, zeigt u.a. das „EcoMobility World Festival“, das überaus richtungsweisend 2017 in Kaohsiung auf Taiwan stattfand.

 

Die permanenten motorisierten Verkehre in der Stadt zu reduzieren oder gar ganz zu verbannen, ohne Mobilität einzuschränken, ist die eine Seite, eine andere ist die Neunutzung der gewonnen Flächen, deren Gestaltung und Wirkung im Dreiklang aus notwendigen, optionalen und sozial-kulturellen Aktivitäten[5]. Industrie-, Fluss- und Hafenbrachen sowie Militärareale erhielten oftmals kulturorientierte Teilplanungen, die Besucher und Touristen anziehen sollen (u.a. Genua, Marseille, Barcelona, Zürich, Hamburg, Shanghai, Kaohsiung).

 

Durch die Devise „Common Spaces – Hybrid Places: Raum als Gemeingut“ suchten die Macher des „urbanize! 2020“-Festivals in Wien – trotz, aber auch durch die Covid-19-Krise – nach Lösungskonzepten für die Nutzung von öffentlichen Räumen, um diese durch wechselnde, aber auch gleichzeitige Angebote zu hybriden Orten zu machen. Primär ging es um die Erforschung von „Raum als Ressource für Kunst, Nachbarschaft und Soziales“. Und weiter heißt es auf der Homepage zu den Zielen: „Als urbane Gesellschaft brauchen wir aneignungsfähige, hybride Räume, die durch ihre Größe unterschiedlichste Nutzungen zulassen“.

 

Die Selbstverwaltung von öffentlichen Räumen durch unterschiedliche Gemeinschaften ist dabei nicht ausgeschlossen.

Ob in Folge der Corona-Pandemie eine (erneute) deutlich spürbare Suburbanisierung stattfindet und sich Innenstädte und Wohnviertel dadurch stark verändern, darf bezweifelt werden.

 

Kultur und Kunst im öffentlichen Raum

Die Kunst im öffentlichen Raum hat eine lange Tradition. Seit hunderten von Jahren wurden Standbilder aufgestellt und skulpturale Verzierungen vorgenommen. Der moderne Begriff entstand allerdings erst in der Nachkriegszeit und mündete in verschiedene Ideen von Straßenkunst, Wandbildern und Graffitis, „Kultur für alle!“ (Hilmar Hoffmann) und partizipativer[6] und erinnernder Kultur.

 

Trotz der langen und differenzierten Entwicklung bleibt selbst im 21. Jahrhundert der Umgang vieler Städte und Gemeinden mit einer Stadtmöblierung problematisch, dem dauerhaften Aufstellen von kontext- und raumautarken Skulpturen und Installationen auf Plätzen, in Parks und Grünstreifen. Darüber hinaus: kritisch zu hinterfragende Aktionen, Picknicks und Überdekorationen des öffentlichen Raums sowie Lichtverschmutzungen durch Fassadenlichtspiele. Provokante Aktionen und Kunstwerke haben zudem die kritische bis ablehnende Haltung gegenüber der Kunst im öffentlichen Raum häufig angeheizt, anstatt, die Provokation sinnhaft aufzunehmen und zu diskutieren.

Kritik ist dennoch immer angebracht, denn Projekte müssen sich erst bewähren, dazu brauchen sie Zeit oder sie verschwinden auch wieder. Der Trend und die spätere Kommerzialisierung der „diner en blanc“ (dt.: „Weiße Dinner“), die erstmals 2012 in Paris am Place de Vogues, später in vielen verschiedenen Städten in Europa stattfanden, unterlagen kontroversen Sichtweisen[7] und wurden als feudal rückständig und sozial unausgewogen gewertet.

Interessante Beispiele jedoch, ob temporär oder dauerhaft, lassen sich in den nachfolgenden unterschiedlichen Projekten gut darstellen, wobei auch hier vorausgeschickt werden muss, dass selten alle Ziele erreicht, Wünsche erfüllt und Diskussionen angestoßen werden können.

 

Superkilen

Was künstlerisches und funktionales Urban Design im Ansatz leisten kann, erlebt man im Kopenhagener Vorort Nørrebro, einem ehemaligen Arbeiterviertel ­– das Projekt nennt sich Superkilen, ist eine öffentliche Anlage, die vom dänischen Architekturbüro BIG, der dänischen Künstlergruppe Superflex, gemeinsam mit den Berliner Landschaftsarchitekten Topotek 1 entworfen und 2012 fertiggestellt wurde.

Superkilen ist eine heterogene Ortscollage in einer dicht besiedelten, zentral gelegen, aber auch fragilen Nachbarschaft der dänischen Hauptstadt. In dem international und kosmopolitisch geprägte Quartier leben Bewohner von 62 ganz unterschiedlichen Kulturen.

Der ursprüngliche Ort sollte seine bisherige Funktion als monofunktionaler Durchgangsraum zwischen zwei Industriehallen hindurch überwinden und in verschiedene Segmente aufgeteilt werden, die sich allein schon optisch stark voneinander unterscheiden.

 

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Superkilen, Kopenhagen-Nørrebro/DK, Marokkanische Fontäne. Foto: Bente Jønsson

 

Unter Beteiligung der Quartierbewohner entstanden ein Schwarzer Markt, ein Roter Platz mit Cafés und Musikentspannung, ein marokkanischer Brunnen, armenische Picknicktische, eine kasachische Bushaltestelle, eine lateinamerikanische Telefonzelle, Sportplätze, Skateboard- und Grünanlagen mit chinesischen Palmen. Die Idee eines universellen Parks oder Gartens mit insgesamt 108 urbanen und kulturellen Elementen, stilisierten Werbetafeln und Leuchtreklamen und 18 verschiedenen Baumarten aus der ganzen Welt, speist sich aus der jeweiligen Herkunft der Anwohner.

 

2016 untersuchte eine amerikanische Studentengruppe des Dänischen Instituts für Auslandsstudien (Danish Institute for Study Abroad) das Projekt und versuchte herauszuarbeiten, ob die theoretisch formulierten Ziele des Urban Designs erfüllt werden konnten. Das Ergebnis zeigte, dass nur eine gewissen Anzahl an Zielen erreicht wurde. Insbesondere stellte sich in der Studie heraus, dass ausschließlich langfristige Beteiligungsprozesse und dauerhafte Verantwortung an der Nutzung zielführend und identitätsstiftend sind und Superkilen sich nicht selbst überlassen werden darf.

 

„Kelvin“ in Neumünster

Beispielhaft und eng verknüpft mit in mehrerlei Hinsicht unterschiedlichen Interaktionen zwischen Publikum und Anwohnern mit der Architektur, dem Denkmalschutz, der Gebäudefunktion, dem Ort, Raum, den Jahres- und Tageszeiten, der Außentemperatur, ist die Lichtinstallation „Kelvin" des mittlerweile in Los Angeles lebenden Künstlers Till Nowak (*1980) am und auf dem historischen Wasserturm in der norddeutschen Stadt Neumünster (Schleswig-Holstein).

Das 2010 der Öffentlichkeit übergebene Kunstwerk ist mittlerweile in Verbindung mit dem 1899 gebauten und 48 Meter hohen Turm zu einem eigenständigen Wahrzeichen geworden und gilt, zusammen mit weiteren Lichtkunstwerken im Stadtraum als kulturelles Identitätsmerkmal der Stadt.

 

Der Künstler thematisiert in seinem Werk – und verbindet damit – verschiedene stabile und sich verändernde Zustände und Gegebenheiten. Somit wandelt das Werk sein Aussehen und passt sich an die sich ständig wechselnden äußeren Parameter an.

Die Lichtinstallation besteht aus dem Baukörper als Projektionsfläche und angepassten Lichtlinien im Zusammenspiel mit einer durch die Außentemperatur gesteuerten Beleuchtung und Farbigkeit: Weiße statische Lichtlinien bilden eine Symbiose von Architektur und Projektion. Die Linienmuster, die dem Turm präzise auf den Leib geschneidert wurden („Projection Mapping“[8]), stellen einen gedachten Blick ins Innere dieses immer noch funktionalen Bauwerks her und bilden gleichzeitig visuelle Assoziationen zu Rohrleitungen und symbolisch-strömenden, horizontalen und vertikalen Wasserkreisläufen. Sie sind bei Dunkelheit die gedachte Fortsetzung des Gebäudeskeletts mit seinen Zierleisten und Verstrebungen, welche lediglich bei Tageslicht gut von außen zu sehen sind.

Da der Turm unter Denkmalschutz steht, war die Vorgabe der Auftraggeber (Verein zur Förderung der Kunst in Neumünster e.V., Wasserwerke Neumünster) keine baulichen Veränderungen, Ergänzungen oder Befestigungen am Wasserturm selbst anzubringen. Insofern entpuppte sich das Konzept, das lediglich eine Projektion auf dem weiß gestrichenen Rumpf und fachwerkartigen Wasserbehälter vorsah als ideale Lösung.

 

Die Projektionen, von unterschiedlichen Standorten aus, werden von verschiedenen LED-Beleuchtungen gespeist, deren Farbe sich abhängig von der aktuellen Außentemperatur verändert. Durch Sensoren, neben dem Bauwerk angebracht, wird einerseits die exakte Außentemperatur bestimmt, andererseits dient diese dann in einem Umrechnungsverfahren eine jeweilige Farbeinstellung zu bestimmen.

 

Bei kalten Außentemperaturen färbt sich nämlich das Licht von gelben bis roten Farbtönen, bei warmen Temperaturen reicht die Skala von violett bis blau. So wird in dieser Umkehrung der Zuordnung von warm (rot) und kalt (blau) das menschliche Befinden beeinflusst. Durch „Kelvin“[9] wird eine Grundfunktion des Wassers interpretiert und visualisiert: Die Linderung von Hitze und Kälte sowie unsere damit verbundene Abhängigkeit vom Wasser – im physikalischen Sinne der Transport und die Speicherung von Energie.

Das Lichtkunstwerk „Kelvin“ ist permanent und jede Nacht von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang zu sehen. Längst orientieren sich viele Einwohner Neumünsters frühmorgens an der Farbigkeit, um ein Gefühl für die Außentemperatur zu erhalten und auch darüber, wie man sich kleidet. Über ein Jahr hindurch fotografierte z.B. ein Anwohner den Wasserturm wöchentlich, viele nahmen Kontakt mit dem Kunstverein und dem Künstler auf und so entstand eine laufende Kommunikation. Selbst wenn mal ein Projektor ausfiel oder Beschädigungen, Veränderungen sichtbar wurden, wurden die Initiatoren umgehend informiert. Zurzeit, nach zehn Jahren, wird die Technik runderneuert.

 

Land, Ort, Historie und Sprache als Antriebskräfte

Ein weiteres internationales Beispiel von Kunst im öffentlichen Raum, die konkrete Bezüge zu einem Ort, zur Historie und zur Identität eines Landes aufweisen ist in Lettland zu finden. Die bildende Kunst bedient sich in den beiden folgenden Beispielen verschiedener literarischer und historischer Vorbilder und Bezugspunkte, denn sie sind im Umfeld der neuen Lettischen Nationalbibliothek in Riga zu finden. Verschiedene Kunstwerke wurden im Zuge des Neubaus aus dem Jahr 2014 des amerikanischen Architekten lettischer Herkunft, Gunārs Birkerts, installiert.

Der riesige Neubau, der sich wie eine mächtige Kathedrale aus dem Erdboden gen Himmel gestreckt hat, wird im Volksmund „Lichtschloss“ genannt und bezieht sich damit auf zwei nationale Mythen: den gläsernen Berg und das versunkene Lichtschloss, beides Volksdichtungen aus dem Buch „Zelta zirgs”, 1909 (deutsch: „Das goldene Ross” – Ein Sonnenwendmärchen in fünf Aufzügen, 1922), von Jānis Rainis geschrieben.

 

Die Bronzeskulptur „Divi Raiņi” (dt.: „Zwei Rainis”) von Aigars Bikše (*1969) zeigt den mehrsprachigen Schriftsteller, Dichter und Politiker Jānis Rainis (Jānis Pliekšāns, 1865-1929) gleich doppelt, perspektivisch verzerrt, links gigantisch groß (3 m), rechts, am unteren Ende einer sich verjüngenden Bank, zwergenhaft klein (1m). Neben den beiden sitzenden Figuren liegt jeweils links auf der verbindenden Bank das von Rainis verfasste, aufgeschlagene und bereits erwähnte Buch: „Das goldene Ross”. Die beiden identischen Skulpturenfiguren zeigen Rainis als eine bekannte, fast übermächtige Persönlichkeit in der Kultur Lettlands und als Förderer des lettischen Selbstverständnisses. Die gesamte Skulptur ist wie ein Symbol zu verstehen, das die Frage nach der Identität der Letten und Lettlands stellt.

 

Der in Lettland bekannte Bildhauer Aigars Bikše kreierte zwischen den Figuren einen Sitzbereich für Passanten, der es ermöglicht, eine individuelle wie visuelle Verbindung mit der doppelten Person und der Skulptur als Ganzes herzustellen. Je nachdem auf welcher Seite der Bank die Passanten sitzen, relativiert sich ihre eigene Körpergröße und Proportion zu den Figuren und fragt somit nach der individuellen Beschaffenheit von körperlicher (und geistiger) Größe. Bikše integriert mit der Bank Besucher und Passanten in das benutzbare Kunstwerk, sie werden für die Verweildauer selbst Teil davon.

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Aigars Bikše: „Divi Raiņi”, Bronze, Riga/LV. Foto ©: Reinis Hofmanis

 

Darüber hinaus ist der Blick auf das Bibliotheksgebäude gerichtet oder in die Gegenrichtung auf den Fluss Daugava (Düna) und die Kirchtürme der Altstadt, auf der anderen Uferseite und stellt damit optische Beziehungsgeflechte zwischen Objekt, Raum, Architektur und Stadt her.

 

Im gleichen Umfeld ist eine weitere dauerhafte Skulptur zu finden: ein zweiteiliges amphorenförmiges Objekt des Künstlers Ojārs Pētersons (*1956) betitelt mit „Lielā vāze“ (dt.: „Große Vase“). Die beiden passgenauen Teile wurden 2014 bis 2016 gebaut und ebenfalls in direkter Verbindung mit der Lettischen Nationalbibliothek, auf der Fluss abgewandten Seite und unweit entfernt gegenüber einer Brückenauffahrt aufgestellt.


Die Oberfläche der Skulptur-Segmente ist mit 14.000 einzelnen Buchstaben versehen, die auf ziegelroten Keramikplättchen graviert wurden. Die Buchstaben und Worte sind extrahiert aus dem Buch „Die Vorzeit Lieflands“ (Berlin 1799) des deutsch-baltischen Schriftstellers Garlieb Helwig Merkel (1769-1850)[10]. Dieses Buch ist eine der wichtigsten Grundlagen der estnischen und lettischen Geschichtsschreibung.

Auch diese Skulptur nimmt direkten Bezug auf das kulturelle und historische Empfinden und die lettische Identität.

 

Im Ergebnis folgen alle genannten Beispiele – wenn sie erfolgreich sein wollen – einem „multiperspektivischen Diskurs, der explizit gegenteilige Sichtweisen und Interessen als integrativen Bestandteil erfasst“.[11] In der momentanen Situation der Aufsplitterung der urbanen Gesellschaft in lokale Teilgesellschaften mit unterschiedlichen Forderungen und Zielen von Menschen unterschiedlicher Herkunft ist prozessuales Denken von großer Bedeutung. Das schießt insbesondere ein, dass Projekte im öffentlichen Raum einerseits nicht nur im Initial hängen bleiben, sondern langfristig mit permanenten Impulsen begleitet werden sollten. Und anderseits muss ein gewisses Maß an Flexibilität und Fortentwicklungssinn vorhanden sein, um auch auf kurzfristige Veränderungen von Gegebenheiten, Bedürfnissen, von sozialen Bevölkerungsstrukturen, Umstrukturierungen und Integrationsabsichten eingehen zu können. Schließlich ist die regelmäßige Überprüfung von Zielen ausschlaggebend und die generelle Bereitschaft, bestimmte Projekte zeitlich zu begrenzen oder aufzugeben, die nicht funktionieren.

Eine Vorhersage, in allen geplanten Punkten zielsicher auch alles erreichen zu können, ist utopisch.


[1] Vgl.: FRITSCHE, Caroline / REUTLINGER, Christian: Der öffentliche Raum ist (k)ein Problem. In: Raimund Kemper / Christian Reutlinger (Hg.): Umkämpfter öffentlicher Raum. Herausforderungen für Planung und Jugendarbeit. Sozialraumforschung und Sozialraumarbeit, Band 12, Springer VS, Wiesbaden 2015, S. 193-206.

[2] Vgl.: „In ein und demselben Raum können sich Öffentliches und Privates überlagern. Im privaten Eigentum befindliche Räume werden öffentlich genutzt, Räume im öffentlichen Eigentum werden mit privaten Mitteln umgestaltet und/oder durch private Sondernutzungsrechte belegt.“ Quelle: BERDING Ulrich, HAVEMANN Antje, PEGELS Juliane, PERENTHALER Bettina, SELLE Klaus (Hg.): Stadträume in Spannungsfeldern. Plätze, Parks und Promenaden im Schnittbereich öffentlicher und privater Aktivitäten. Detmold 2010

[3] Vgl.: BORK, Herbert; KLINGLER, Stefan; ZECH, Sibylla (stadtland): Kommerzielle und nicht-kommerzielle Nutzung im öffentlichen Raum, in: Magazin Standpunkte Nr. 16, Wien 2015, S. 2

[4] Die Anzahl der Personen, die im Stadtzentrum von Kopenhagen den öffentlichen Raum nutzen (stehen oder sitzen). Die jeweiligen Summen ergaben sich aus vier Zählungen zwischen 11 und 16 Uhr an einem Werktag im Sommer. Quelle: Fussverkehr Schweiz: Qualität von öffentlichen Räumen. Methoden zur Beurteilung der Aufenthaltsqualität, Zürich 2015

[5] Vgl.: Stadt Zürich, Tiefbauamt: Mobilitätsnews 8/2009 – Mehr Flanierende und Verweilende am Limmatquai – Fuss- und Veloverkehr vor und nach der Neugestaltung. Zürich 2009

[6] Vgl.: FRIEDE, Claus: Die „Offene Bibliothek”: Ein Musterbeispiel partizipativer Kunst, https://www.stadtmarketing.eu/die-offene-bibliothek/

[7] „Ganz in Weiß gekleidet auf großen Plätzen Spargel essen und Champagner trinken – was soll das? Eine einst innovative Form des gemeinsamen Speisens geht in einer Horde weißen Wohlstands unter.“ REICHERT, Juliane: Macht bitte Schluss mit diesen weißen Dinners!, in: Die Welt vom 10.08.2016

[8] Beim „Projection Mapping“ werden alltägliche Videoprojektoren verwendet. Anstatt jedoch auf eine flache Leinwand zu projizieren, wird Licht auf eine beliebige dreidimensionale Oberfläche abgebildet. Formal gesehen ist das „Projection Mapping“ „die Anzeige eines Bildes auf einer nicht flachen und/oder nicht weißen Oberfläche“. Quelle: The Illustrated History of Projection Mapping, www.projection-mapping.org

[9] Die Maßeinheit Kelvin wird vor allem in Naturwissenschaft und Technik zur Angabe von Temperaturen und Temperaturdifferenzen verwendet.

[10] Ein Auszug aus der mehrsprachigen Publikation von Ojārs Pētersons mit den Textfragmenten ist hier zu finden: https://www.artinpublicspace.lv/wp-content/uploads/2014/09/Vidzemes_Senatne.pdf

[11] Vgl.: LANG, Siglinde: Kunst, Partizipation und kulturelle Produktion, in: Neue Kunstwissenschaftliche Forschungen, Nr. 1/2014, Heidelberg 2014, S. 116

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