Meinung

Man sollte sich, wo und wie es sei, davor hüten, in Superlativen zu schwelgen. Zumal bei musikalischen Darbietungen läuft man Gefahr, über dem überschwänglichen Lob des Orchesters oder des Solisten den eigentlichen Verursacher und Initiator für das Übersprudeln der Gefühle zu vergessen. Nämlich den Komponisten.

In diesem Fall der finnische Komponist Jean Sibelius (1865-1957) mit seinem Violinkonzert in d-Moll op. 47 aus den Jahren 1903 bzw. 1905.

 

Aber diese, von keinen lästigen Werbeunterbrechungen ‚zerstückelte‘, Darbietung vom 15.11.2022 unter der vorzüglichen, da ganz und gar unaufdringlichen, Leitung des britischen Dirigenten Nicholas Collon mit dem Finnish Radio Symphony Orchestra und der Solistin Hilary Hahn ist ganz dazu angetan, sämtliche Vorbehalte gegen eine Lobeshymne über Bord zu werfen. Und sich also auf die Suche nach Worten für etwas ganz und gar Unerhörtes zu begeben. Was folgt ist eine Eloge mit gutem Gewissen.

 

Hilary Hahn hat über einen Zeitraum von inzwischen mehr als einem Vierteljahrhundert – meines Wissens erstmals 1996 mit 17 Jahren unter Lorin Maazel – immer wieder dieses Violinkonzert des Komponisten mit verschiedenen Orchestern zur Aufführung gebracht. Entscheidend ist, dass keine Interpretation der anderen gleicht. Was nicht viel besagen will, da bekannt ist, dass selbst zwei Aufführungen an aufeinanderfolgenden Abenden nicht bloß differieren können, sondern dies tatsächlich auch tun; und sei es nur in Nuancen. Weil musikalische Aufführungen, die Stimmungen vermitteln, eben auch von Stimmungen abhängig sind. Stimmungen innerhalb des Ensembles, aber auch Stimmungen, die sich vom Auditorium auf die Ausführenden – im Sinne der Rückkoppelung – übertragen. Das Umgekehrte gilt natürlich ganz genauso und noch viel mehr. Bei Live-Auftritten liegt zwangsläufig so etwas wie eine schwer zu beschreibende Spannung in der Luft, und diese Spannung wirkt sich, wie unmerklich auch immer, auf das Spiel aller Beteiligten aus.

 

Die oben angekündigte Eloge mit gutem Gewissen erklärt sich eigentlich von selbst, wenn man die Darbietungen dieses an Stimmungs- und Gefühlsdifferenzierungen so unglaublich reichen Violinkonzerts unter der Beteiligung Hilary Hahns in gemessenen Abständen auf sich wirken lässt. Es ist frappierend, mit welch einfühlsamer, hingebungsvoller, höchster sensitiver Leidenschaft diese Interpretin immer wieder aufs Neue und jedes Mal ein wenig anders dem Kern dieser in ihrem emotionalen Spannungsgehalt ungemein weit ausholenden Musik nachspürt und zum Erklingen verhilft. Es ist grad so, als ob sie mit dem Werk des Komponisten – egal welchem Komponisten übrigens – Zwiesprache hielte, stets mit dem eindringlich-eindringenden Bemühen, das Wesentliche, das Ideell-Substanzielle – nicht nur dieses Werkes – zum Erklingen zu bringen.

 

Mir kommt es so vor, als ob Hilary Hahns einziges Ziel wäre, in der Komposition zu verschwinden, und zwar genau dadurch, dass sie allen eventuell in Frage kommenden Modifikationen und Nuancen des musikalischen Verständnisses des Notenmaterials selbstvergessen und um ihrer selbst willen nachforscht. Unverzichtbar für dieses Ansinnen ist ein Eins-Werden, bzw. ein quasi natürliches Einssein mit dem Instrument. Ich wage die Behauptung, dass Hilary Hahn während des Spiels tatsächlich und darüber hinaus auch in ihrer Violine verschwindet, verschwunden ist. Mit dem wohl kaum zu realisierenden Ziel, die Idee des Kunstwerks qua Ideal in die Realität zu überführen. Bloß, wie soll ein nicht zuletzt auch in der schwebenden Unbestimmtheit beheimatetes und daraus vermutlich nie endgültig zu entbergendes Geheimnis, das die allein ernst zu nehmende Musik letztlich ist, geborgen werden? Da dieser nie gänzlich auszulotende Rest gerade dasjenige ist, was den nie zu stillenden Trieb nach einer endlich gelingenden Ankunft am Leben hält.

 

Ich wage noch eine Behauptung: Dieser Sog, dieses Hingezogenwerden nach endlich gelingender Erfüllung, die jeder Komposition, die es verdient, so genannt zu werden, eigentümlich ist, dieses Ziehen, dessen treibender Affekt das ewige Ungenügen an und mit dem Geleisteten ist, ist nicht nur für jedes relevante Musikstück von zentraler Bedeutung, sondern diesem Ungenügen an sich selbst sollte sich auch der Interpret verpflichtet fühlen, wenn er sich an die Wiedergabe macht. Und zwar nicht aus dem Antrieb heraus, auf seinem Instrument immer besser zu werden, sondern einzig und allein deswegen, weil er sich auf Spurensuche begibt, um die immer vorhandene, lebendig erhaltende, Differenz wo nicht zu überbrücken – Perfektion wäre, wenn man so will, der musikalische Tod –, so doch an einer Annäherung spielend zu arbeiten, die als spannungsgeladene das ziehende, ewig ungenügsame, sich verzehrende Leben schlechthin ist. Und das im Nichtankommen sich dennoch das endliche Ankommen als Hoffnung vorbehält.

 

Zugegeben, ich weiß es nicht, ob Hilary Hahn diesen in hohem Maße Anteil nehmenden und wohl auch über Gebühr enthusiasmierten Gedanken zustimmen würde. Aber egal wie, das hier Notierte drückt ungefähr das aus, was ich immer wieder aufs Neue schmerz-glückhaft empfinde, wenn ich mich mit allem, was ich jeweils einzusetzen in der Lage bin, in dem Spiel dieser Violinistin in ihrem Zusammenspiel mit den diversen Orchestern dieser Welt verliere. Und mit der oben angezeigten neuesten Einspielung des Sibelius‘schen Violinkonzerts ist dieses musikalische Ringen um eine Identitätsstiftung um eine weitere Variante bereichert worden.

 

Ich gehe davon aus, dass es nicht das letzte Ringen um eine Annäherung gewesen sein wird. Genauer: Ich hoffe es inständig, denn das musikalisch tiefgründige, tastende Forschen dieser hoch-außergewöhnlichen Geigerin, die sich glücklicherweise die glückhafte Unbefangenheit und Unverstelltheit des Kindes bewahrt hat, vermittelt mehr als bloß eine Ahnung davon, dass und wie ein gelingendes Misslingen und misslingendes Gelingen der tränenreichen Freuden höchste eine ist.

 

Zuletzt noch dies: Anlässlich des Schleswig-Holstein Musik Festivals kommt es am 23. August 2023, an einem Mittwochabend um 19.30 Uhr in der Lübecker Musik- und Kongresshalle gemeinsam mit der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen unter der Leitung Omer Meir Wellbers – wie bereits in gleicher Zusammensetzung im August des Jahres 2019 im Deutschen Haus in Flensburg – zu einer neuerlichen Annäherung an Wolfgang Amadeus Mozarts Violinkonzert Nr. 5 A-Dur, KV 219.

 

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Hillary Hahn. Foto: © Dana van Leeuwen / Decca

 

Ich beschließe diese ‚General-Eloge‘ mit einem bei YouTube nachzulesenden englischsprachigen Zitat von der Hand Uli Widmaiers, wobei ich allerdings einschränkend zu bedenken geben möchte, dass ich mich dem an- und abführenden Ranking-Gedanken des hochgradig begeisterten Kommentators – dessen Begeisterung ich selbstredend teile – nicht anschließen möchte. Es sei denn in dem Sinne, dass auch ich glaube, dass es höchst selten dazu kommt, dass ein Virtuose sich der Herkules-Aufgabe stellt – und zwar in vollem Bewusstsein der Undurchführbarkeit, der Vergeblichkeit und des Scheiterns trotz und bei allem vorbehaltlichen Gelingen – den – mathematisch gesprochen – Differenzen- in einen Differenzialquotienten zu verwandeln. Das Gelingen des musikalisch-interpretatorischen Grenzübergangs ist die nicht aufzuhebende Unmöglichkeit, die das oben namhaft gemachte Ziehen und Gezogen-Sein verursacht und die die Musik genauso sehr wie ihre reproduzierende Interpretation genau um dieses nicht aufzulösenden Widerstands willen zu einem unendlichen Ringen um das endliche Gelingen macht oder machen sollte.

 

In the Sibelius she has no equal. Power, rhythm, tonal presence, sheer technical brilliance, expressiveness, and (most importantly and strikingly) integration of the solo part with the orchestra to make a greater whole -- in these dimensions and others, Hahn's Sibelius surpasses interpretations past and present, including those of Heifetz, Oistrakh, Neveu, Szeryng, Perlman, Chang, Vengerov, Hadelich, Jansen and so on. (Uli Widmaier on YouTube)

[Dt.: Bei Sibelius ist sie (Hilary Hahn, Anm. d. Red.) einzigartig. Kraft, Rhythmus, tonale Präsenz, schiere technische Brillanz, Ausdruckskraft und (am wichtigsten und auffallendsten) die Integration des Soloparts mit dem Orchester, um ein größeres Ganzes zu bilden – in diesen und anderen Dimensionen übertreffen Hahns Sibelius-Interpretationen aus Vergangenheit und Gegenwart, einschließlich die von (Geigerkollegen) Heifetz, Oistrach, Neveu, Szeryng, Perlman, Chang, Vengerov, Hadelich, Jansen und so weiter. (Uli Widmaier auf YouTube)]

YouTube-Video:


Jean Sibelius (1865-1957)

Violin Concerto in D minor, Op. 47 (1905)

1. Allegro moderato (00:27)

2. Adagio di molto (17:58)

3. Allegro, ma non tanto (26:08)

Encore: J. S. Bach - Sarabande from Partita No. 2 for Violin Solo (36:05)

Hilary Hahn, violin

Nicholas Collon, conductor

Finnish Radio Symphony Orchestra

 

YouTube-Video:
Hilary Hahn – Sibelius: Violin Concerto in D min – Nicholas Collon/Finnish Radio Symphony Orchestra (41:03 Min.)

 

Hinweis: Die Inhalte der Kolumne geben die Meinung der jeweiligen Autoren wieder. Diese muss nicht im Einklang mit der Meinung der Redaktion stehen.



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