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Ein erfrischend unakademisches Buch über das Schreiben auf einem Blatt Papier hat der Philosoph Manfred Sommer geschrieben.

„Stift, Blatt und Kant“? Das ist ein merkwürdiger Titel, der aber das Thema dieses Buches und das Interesse des Autors sehr genau beschreibt. Zunächst nämlich geht es wirklich nur um das Verhältnis vom Bleistift zum Papier, aber es versteht sich, dass diese Banalität nicht das eigentliche Thema ist, denn von da aus kommt Manfred Sommer auf elementare Überlegungen der Erkenntnistheorie zu sprechen. Besonders geht es um die Rolle, die der Leib im Erkenntnisprozess und in der Selbsterfahrung eines Menschen spielt. Sommer fragt sich, „ob nicht, was Verstand ist, sich durch das begreifen läßt, was die Hand tut.“

 

Im Vokabular Immanuel Kants, auf den Sommer ausführlich im fünften und letzten Teil seiner Untersuchung zu sprechen kommt, geht es um das Verhältnis von Spontaneität und Rezeptivität, also um das Gegen- und Miteinander von Verstand und Sinnlichkeit, das er in einem ungefähren Gleichgewicht sah. Sommer findet die Spontaneität – die Aktivität des Verstandes – im Stift, die Rezeptivität – die passive Hinnahme – im Blatt Papier symbolisiert. „Stift und Blatt“, darauf weist der Autor ausdrücklich hin, sollen in seinem Buch „immer paradigmatisch verstanden“ werden. Mit seinen filigranen Beschreibungen und Analysen möchte er den Erkenntnisprozess auch abseits aller zeichnerischen und schreibenden Aktivitäten aufklären. Oder er versucht sogar noch etwas mehr, nämlich „die fundamentale Weise menschlichen Weltbezugs ausdrücklich“ darzustellen.

 

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„Graphismus“ ist ein merkwürdiges Fremdwort, dessen Ursprung und Bedeutung Sommer eingangs seines Buches ausführlich erklärt. Der Begriff geht auf den großen französischen Anthropologen André Lerois-Gourhan (1911-1976) zurück, in dessen „Hand und Wort“ genannten Hauptwerk sich ein eigenes Kapitel zum Thema findet. Lerois-Gourhan war ein Paläoanthropologe, dem es in seiner Arbeit immer auch um den historischen Ursprung der Kultur ging. Und was meint das Wort „Graphismus“? Nichts als Punkt und Strich, also den winzigen „Anfang alles Schreibens, Zeichnens und Malens“, die „prägnante Anfangsgestalt“, buchstäblich die erste Berührung des Bleistifts oder der Feder mit dem Papier. Als die beiden Grundformen des Graphismus werden der gebogene und der gerade Strich ausgemacht.

 

Sommers Arbeit ist ein hintersinniges Buch, einerseits deshalb, weil er zwar über etwas sehr Einfaches schreibt, damit aber immer noch etwas mehr meint, zusätzlich, weil es ihm darauf ankommt, buchstäblich hinter die Dinge zu schauen. Ein naheliegender (und vielleicht nicht ganz unberechtigter) Vorwurf an die Adresse der Phänomenologie besteht darin, dass sie es mit dem Blick auf die Oberfläche ihr Bewenden sein lässt, aber Sommers Interesse ist auf den Hintergrund gerichtet, auf das, was hinter den Dingen liegt oder unserer Wahrnehmung zugrunde; das ist zunächst unser Blickfeld, in dem sich alles darbietet, dann aber auch die Rückseite der Dinge selbst, die wir ja niemals auf einen Blick von allen Seiten betrachten können. Etwas bleibt uns immer verborgen.

Hatte Nicolai Hartmann zwischen „intentio recta“ (dem strikt auf die Gegenstände gerichteten Blick) und der „intentio obliqua“ (dem Blick zurück auf uns selbst als das Subjekt des Schauens) unterschieden, so führt Sommer jetzt eine dritte Kategorie ein, die „intentio a tergo“ – das ist eine Sichtweise, die „von hinten her aufs Vordere verweist.“ Ganz sicher bin ich mir nicht, ob es sich dabei um einen Witz handelt oder um eine ernstgemeinte Erweiterung des intentionalen Arsenals. In jedem Fall geht es darum, dass etwas durch das, was wir von ihm sehen, auf das verweist, das es uns verbirgt.

 

Es kann nicht schaden, einige Worte über das Vorgängerbuch Sommers zu verlieren, über das großartige „Von der Bildfläche“. In genau derselben Vorgehensweise gibt es dem Leser eine „typologisch-genetische […] Skizze“. Dort lautet die im Kern anthropologische Ausgangsfrage, wie sich „aus kulturtechnischen Fertigkeiten, die im Neolithikum neu entstehen, die Bildfläche in ihrer Rechteckform herausentwickelt“ hat. Denn die Dominanz der Rechteckform – die uns beim Papier und damit in diesem neuen Buch wieder begegnet – ist ja alles andere als selbstverständlich. In der Natur schließlich kommt sie nicht vor. Mit seiner Fragestellung fasst Sommer den Beginn aller Kultur ins Auge, den Ursprung der Landwirtschaft (er diskutiert in seinem Werk, wie im Hin und Her des Pflügens sich der rechteckige Acker von seiner Umgebung abhebt) und der Kleidung (auch gewebtes Tuch entsteht aus einem Hin und Her).

 

Endlich dient ihm das rechteckige Haus als ein Beispiel, aber wie hier deutlich wird, ist seine Argumentation doch ein wenig eurozentristisch. Runde Häuser, die es auf anderen Erdteilen gibt, kommen bei ihm nicht vor. Dieser Eurozentrismus findet sich auch in dem aktuellen Buch, denn ich glaube nicht, dass sich Sommers Beobachtungen des westlichen Schreibens mit dem Stift oder dem Kiel so ohne weiteres auf die hochentwickelte Schriftkultur des Ostens übertragen lassen. Oder man denke an die Selbstdarstellung eines der größten Maler der Kunstgeschichte, an Diego Velázquez, der mit einem sehr langen Pinsel in der Hand weit hinter der Leinwand stand, wie man aus seiner Selbstdarstellung auf „Las Meninas“ weiß.

 

In seinem Vorgängerbuch findet der Autor die Rechteckform in den drei wesentlichen Innovationen der Jungsteinzeit, dem Haus, dem Acker und dem gewebten Tuch. Alle drei stellen etwas dar, das es in der Natur nicht gibt, nämlich rechteckige Flächen – nach Sommers Theorie Ausgangspunkte der kulturellen Evolution des modernen Menschen, die schon bald in das Bild an der Wand münden sollte. Damit interessiert sich Sommer weniger dafür, was das Bild darstellt, sondern wie und wo es das tut: an der Wand eines Hauses in einer rechteckigen Form. Er selbst fasst die Ergebnisse dieser Überlegungen zum Ende seines Buches hin knapp zusammen: „Denn die Geometrie hat im Feld ihre Grundlage und verdankt dem Haus ihre Ausgestaltung zu einer universalen Mathematik.“

Was dem jüngeren Buch fehlt, ist diese sehr weit zurückreichende historische Perspektive, obwohl Sommer gern seine Beispiele der griechischen Philosophie oder auch der mesopotamischen Kulturgeschichte entnimmt, denn er vergleicht zu gern unseren Umgang mit dem Smartphone mit der gebrannten Tontafel der alten Sumerer. Aber was er analysiert, ist im Prinzip zeitlos. Es ist die Wahrnehmung des Menschen, die er in extrem subtiler Weise beschreibt und deutet. Und „subtil“ ist noch ein schwaches Wort für die Genauigkeit seiner Analysen und die Feinheit seiner Beobachtungen.

 

Sommer ist einerseits ein großartiger Phänomenologe, dem auch das Normale, ja gerade das Gewohnte und Unauffällige Stoff bietet und der im allzu Bekannten das Erstaunliche und Befremdliche findet. Und dazu ist er ein fähiger Schriftsteller, der seine Beobachtungen in einem lebendigen, gut lesbaren Deutsch mitteilt. Manchmal kommt es mir so vor, als spreche er tatsächlich mit mir, wenn ich ihn lese. Allerdings mag es wohl zunächst so sein, dass es manchem Leser ein wenig zu langsam vorangeht, aber es ist eben seine Methode, die das verlangt. Und sie besitzt neben ihrer Genauigkeit noch einen weiteren wesentlichen Vorteil: der übliche Vorwurf an Philosophen, sie würden sich unverständlich äußern, trägt hier überhaupt nicht. Man braucht sich nur auf Sommers Argumentation einzulassen – verstehen wird man sie immer.

 

Problematisch scheint die Rolle, die Sommer der Phänomenologie oder auch dem Phänomenologen selbst zuspricht. Da ist zunächst die von ihm nahegelegte Nähe von Husserl zu Kant, die bei vielen Kant-Kennern Stirnrunzeln hervorrufen wird. Anstößig auch seine Unterstellung, dass die Objekte zu uns sprechen. Muss der Phänomenologe diese Bekundungen nur aufnehmen und wiedergeben, quasi als ein neutrales Medium? Beispielsweise kennt Sommer in seinem Referat einer Abhandlung Kandinskys den „tiefversteckten“ Wunsch einer Linie, „eine geschlossene Figur zu bilden“. Immer wieder spricht er von Objekten, auch leblosen, als seien sie lebendig und besäßen einen Willen und Absichten. In dem folgenden Zitat zum Beispiel lässt uns der Autor im Unklaren darüber, wer das „Ich“ dieses Satzes ist. Die Person des Autors? Oder jedes Ich? „Stelle ich somit im Graphismus dar, wie ich einen Gegenstand dadurch zu einem Gegenstand mache, daß ich ihn befähige, sich gegen mich selbst, gegen anderes meinesgleichen und gegen andere seinesgleichen abzugrenzen?“ Oder er kennt Seiten eines Gegenstandes, die ein „ein wahrgenommenes Ding unmittelbar von sich präsentiert“. Bei Lichte betrachtet, ist diese im Deutschen normale Ausdrucksweise eine Beseelung des Gegenstandes, die sehr gut zur Phänomenologie Manfred Sommers passt, aber vielleicht nicht in jeder Hinsicht dem tatsächlichen Ablauf unserer Wahrnehmung.

 

Besonders deutlich wird das an seinem Kommentar zu einer von Gadamer berichteten kleinen Szene am Rand eines Husserl-Seminars, in dem dieser einerseits monologisierte – von einem Gespräch war also keine Rede – und andererseits mit seiner rechten Hand die Innenfläche der linken Hand berührte. Sommer glaubt, dass Gadamer überhaupt nicht verstanden hatte, was Husserl vorführte: „Was Husserl als Phänomenologe beschreibt, ist, Zug um Zug, die Auslegung dessen, was er während des Sprechens tut und spürt und sieht, ohne daß er die Fülle des darin Implizierten jemals erschöpfen könnte.“ Husserl, so die Deutung Sommers, beschrieb im Grunde stellvertretend für alle seine Hörer den Vorgang der Selbstaffektion (durch Selbstberührung, zum Beispiel durch die Berührung der linken Hand mit einem Finger der rechten), und es ist diese Selbsterfahrung des Leibes, diese „Selbstreferenz“, auf die er in seinem Buch immer wieder zurückkommt.

 

Sommers Beschreibungen zielen auf die Verschränkung des Leibes mit seiner Umgebung – „Die Hand ist das äußerste Innere.“ –, wie sie sich in den Bewegungen der beiden Hände vollzieht. In diesem Zusammenhang ist eine Beobachtung wichtig, die den Wandel des Schreibens vom Altertum zu uns beschreibt. Griechische Schreiber gebrauchten beide Hände zum Schreiben, indem die rechte, also die schreibende, sich gegen die linke Hand bewegte, die die Unterlage festhielt. So bildete sich ein Kreis und entstand ein Selbstbezug, der natürlich fehlt, wenn wir an einem Schreibtisch sitzen (nicht aber auf einem Smartphone herumwischen oder -tippen…). Und diesen Selbstbezug wird man ebenso wenig bei den Schriftkünstlern des Fernen Ostens finden.

Anders als dem von ihm bewunderten Husserl geht es Sommer um die Erfahrung des Leibes, den er vom Körper abgrenzt – ungefähr so, wie es auch Hermann Schmitz in seiner „Neuen Phänomenologie“ tut. Aber die Ähnlichkeit ihrer Ansätze geht über die Unterscheidung von Leib und Körper nicht hinaus. Es ist etwas merkwürdig, dass Sommer auf Schmitz, der zwar älter ist als er, aber wie er selbst an der Universität Kiel lehrte, mit keinem Wort, ja mit keiner Anspielung eingeht.

 

Aber die wenigen Einwände haben kein Gewicht, denn dieses ungewöhnliche Buch ist glänzend geschrieben und in jeder Hinsicht ein sowohl stilistisch als auch argumentativ eigenständiges, unglaublich perspektivenreiches und entsprechend anregendes Werk; so simpel die Vorgänge, die Sommer ausdeutet, so vielschichtig und interessant sind seine sich daran anschließenden Überlegungen, so unübersehbar die Folgerungen. Leute, kauft und lest dieses Buch! Ich kann es gar nicht warm genug empfehlen.


Manfred Sommer: Stift, Blatt und Kant. Philosophie des Graphismus

Suhrkamp 2020
386 Seiten
ISBN 978-3518299319

Leseprobe

 

Manfred Sommer: Von der Bildfläche. Eine Archäologie der Lineatur

Suhrkamp 2016
544 Seiten
ISBN 978-3518586839

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