Film

Das Drama „Die Aussprache“ ist aufwühlend, packend, auf seine Art vielleicht der radikalste filmische #MeToo-Beitrag. Regisseurin Sarah Polley inszeniert es ästhetisch virtuos als Mix aus True-Crime-Epos und fiktivem Gedanken-Experiment, unterstreicht das Epochale der Gefühle mit einem extremen Breitbildformat.

 

Nach Jahren grausamsten sexuellen Missbrauchs stimmen die Frauen einer abgeschotteten ultrakonservativen Religionsgemeinschaft in Abwesenheit der Männer über ihre Zukunft ab: Bleiben und nichts tun, kämpfen oder die Community verlassen. 

 

Bis zu diesem Tag hatten sie nicht einmal Lesen und Schreiben lernen dürfen, nun geht es um Selbstverwirklichung und eine neue moralische Orientierung. Der hochkarätig besetzte Ensemble-Film basiert auf Miriam Toews Roman „Women Talking“ und nimmt Bezug auf die Vergewaltigungsfälle einer Mennoniten-Gemeinde in Bolivien zwischen 2005 und 2009.

 

„Die Aussprache“ erhielt zwei Oscar-Nominierungen, als bester Film und für das beste adaptierte Drehbuch, Reaktionen wie auch Kritiken fielen überwiegend positiv aus, einige wenige aber klangen fast bösartig, als wolle man das Erlebte lächerlich machen, die Message bewusst missverstehen. Nein, es handelte sich dabei nicht unbedingt um männliche Rezensenten. Nur auch das Interesse des Publikums ist bisher bedauerlich gering, wann landet schon ein spektakulärer Neustart auf Platz 6 der Arthouse-Charts (Kino-Gilde)? 

 

Auf den Feldern toben Kinder, die Sonne scheint, eine trügerische Idylle. In der abgeschiedenen patriarchalischen Mennoniten-Kolonie wurden über Jahre hinweg Mädchen und Frauen mit Narkosemitteln für Rinder betäubt und vergewaltigt. Die Verletzungen ignorierte man als Produkt sündhafter Lügen, niemand half den Opfern, die selbst nicht wussten, was mit ihnen geschah. War es ihre Schuld oder die von Dämonen, Scham erfüllte sie. Dann wird ein Täter überrascht, die Frau greift zur Sense. Man alarmiert die Polizei, sie soll den Vergewaltiger vor der weiblichen Rache-Attacke schützen. Die Beamten nehmen den Mann fest, er nennt die Namen der anderen Vergewaltiger. Kaution wird gestellt. Die Männer der Gemeinde sind in der Stadt, um dem Inhaftierten Beistand zu leisten und ihn auszulösen, noch 24 Stunden, dann kehren sie zurück.

 

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Soweit die Vorgeschichte, die Handlung setzt erst nun ein. Auch wenn sich alles um Gewalt dreht, sie wird visuell ausgespart. Wir sehen nur die Spuren, ein Mädchen im blutigen Nachthemd, eine andere schwanger. Tote gab es auch. Und Wut, Wut darüber getäuscht worden zu sein, ihre Welt ist in Trümmern, der Glaube der Frauen erschüttert, zerstört, wem sollen sie je wieder vertrauen?  „Wie würden sie sich fühlen, wenn es nie von Bedeutung war, was sie dachten“ heißt es irgendwann im Film. Nun müssen sie zu einem Entschluss kommen, sie, die nie mitentscheiden durften. Die Vergewaltiger  zeigen nicht etwa Reue, sie fordern  innerhalb von zwei Tagen Vergebung von den Betroffenen, andernfalls droht ihnen die Exkommunikation, der Ausschluss aus der Gemeinschaft. Es stockt einem der Atem in solchen Momenten. Welch perfider Unterdrückungsmechanismus. In einem einer Kathedrale ähnlichen Heuschober versammeln sich Frauen verschiedensten Alters und Temperaments. Konträre Sichtweisen prallen auf einander: philosophisch, rein pragmatisch, religiös. Die Diskussion ist leidenschaftlich, zornig, besonnen und manchmal aggressiv, voller Angst vor dem Unbekannten, doch nicht ohne Hoffnung. Fürsorge, Demut, Nächstenliebe bleiben für die meisten Messwert des Handeln. Lässt sich ihr Glaube noch mit der neuen Lebensrealität in Einklang bringen.

 

Die Zeit drängt, eine Entscheidung muss gefällt werden. Auch wenn sich anfangs die meisten der Beteiligten über die Vorgehensweise uneinig sind, sie alle wollen  ihre Töchter schützen. Jede reagiert anders auf das Trauma sexueller Gewalt, da ist die hitzköpfige Salome (Claire Foy), sie plädiert für Rache, fürchtet nicht den göttlichen Zorn. Mejal (Michelle McLeod) ist weniger aggressiv, aber teilt Salomes Wunsch sich zu wehren, Mejals Schwester Mariche (Jessie Buckley) glaubt, dass sie ihren Kampf verlieren und gezwungen werden könnten zu vergeben. Die Spannungen wachsen. Was hat Priorität, Gehorsam gegenüber den Autoritätspersonen ihres Glaubens oder die Sicherheit der Kinder?   Seelenheil in weiter Ferne oder Selbstverwirklichung auf Erden? Doch jene völlige Isolation bedeutet grade für Ältere wie „Scarface" Janze (Frances McDormand) Geborgenheit, sie empfindet alles Andere als Bedrohung, glaubt nicht an Erneuerung und entscheidet sich zum Bleiben, Vergebung ist das Fundament ihres Glaubens, das soll auch für Tochter und Enkelin gelten. Protokoll bei der Debatte führt ein Mann, August (Ben Wishaw), ein sensibler jungenhaft wirkender Lehrer, dessen Mutter einst aus der Mennoniten-Gemeinschaft ausgeschlossen worden war, er kehrte zurück, wird sich um die älteren Jungen kümmern. „Die Aussprache“ sollte laut Polley "eine Fabel" sein, ist aber auch verhinderte Lovestory und als solche herzzerreißend. August liebte Ona (Rooney Mara), die durch die Vergewaltigung schwanger geworden ist. Er würde gern für sie und das Kind sorgen, doch Ona kann sich nur noch ein Leben in völliger Eigenverantwortung vorstellen. 

 

Es ist kein matriarchalisches Kammerspiel in gedämpften, gebrochenen Farbtönen, was hier beginnt, sondern ein hochemotionaler Thriller. Die Debatte wird ständig unterbrochen, Luc Montpelliers Kamera stellt die Verbindung nach draußen her,  zu jener paradiesisch ländlichen Idylle, wir sollen begreifen, wie schmerzlich es sein würde, sie verlassen. Die riesige Leinwand spiegelt das Ausmaß, die enorme Tragweite und Allgemeingültigkeit der Fragen wider, die gestellt werden. In ihrem Statement erklärt die kanadische Regisseurin und Drehbuchautorin Sarah Polley („Take This Waltz“): „Ich empfand es als unerlässlich, dass die Bildsprache des Films zu diesem Zweck atmet und sich ausdehnt, dass man in jedem Bild das unendliche Potenzial und die Möglichkeiten spürt, die ein Gespräch über den Wiederaufbau einer zerstörten Welt enthält.“ Die Debatte über die Optionen wird hitziger, Streit, Beleidigungen, Tränen, Gelächter. Die Gewalt muss aufhören, darüber sind die Protagonistinnen sich einig. Nur, wenn sie die Gemeinde verlassen, wohin sollen sie gehen, wie sollen sie sich zurechtfinden? Wenn die Männer ihnen nicht folgen dürfen, was ist dann mit den Jungen? Ab welchem Alter zählt ein Junge als Mann? Mit neuen Sichtweisen konfrontiert, hinterfragen die Frauen ihre Standpunkte, nehmen Einwände ernst, nähern sich an. Innerhalb von 24 Stunden entdecken sie ihre eigene Form des Feminismus, sie müssen lernen Ansprüche zu formulieren, das Unmögliche sich vorzustellen: Selbstverwirklichung und Freiheit.

 

Ein Dasein ohne Missbrauch, ohne Unterdrückung ist für diese Frauen wie ein unbekannter Kontinent, den es zu entdecken gilt, ein abenteuerliches  gefährliches Unterfangen ohne jede Gewissheit, was sie erwarten wird. Die Dialoge sind wundervoll, intensiv, überzeugend, originell und oft brillant, fern politischer Schlagworte und Theorien. In ihren Forderungen an sich selbst sind die Protagonistinnen oft viel präziser und kompromissloser als wir es je waren. Als „Akt weiblicher Vorstellungskraft“ bezeichnete die kanadische Schriftstellerin Miriam Toews ihr Buch, Regisseurin Sarah Polley hat es übernommen und ihrem Film vorangestellt. Einige ZuschauerInnen machen den Fehler, die Allgemeingültigkeit der Thematik zu ignorieren: Sozial abgeschottete Strukturen entwickeln sich in den verschiedensten Sektoren, ohne dass wir uns dessen bewusst sind, auch wenn die Geheimhaltungsvereinbarungen gleich ob in der Entertainment-Branche, beim Militär, in Politik, Industrie oder beim Geheimdienst es deutlich genug signalisieren. Das Versprechen eines fernen Paradieses mag unser Leben vielleicht nicht mehr bestimmen, auf jeden Fall aber der Erfolg, hier und heute inklusive der trügerischen Geborgenheit sogenannter glücklicher Beziehungen. Die kleine Gemeinde wird so zum Symbol gesamtgesellschaftlicher Konflikte, patriarchalischer Gewalt und der Notwendigkeit einer Veränderung. Die Schuld der Männer, nun da sie entlarvt sind, steht nicht zur Diskussion, es geht um die Konsequenzen, die Zukunft, keine plakativen Aktionen, sondern konkrete Lösungen, so schmerzlich sie sind. Kein Film je zuvor hat so unmissverständlich die Frauen gefordert, es ist ihre Verantwortung, was von nun an geschieht, kein Opfer darf gescheut werden. Das Trauma der Vergewaltigung  verbindet die Protagonistinnen, die Sehnsucht nach einer Welt ohne Missbrauch schweißt sie zusammen. Die Sonne ist untergegangen, die Männer können jederzeit zurückkommen, noch ist die Entscheidung nicht gefallen.

 

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Die Aussprache

Originaltitel: Women Talking

Regie: Sarah Polley

Drehbuch: Sarah Polley

Nach dem Roman von Miriam Toews

Darsteller: Rooney Mara, Clara Foy, Jessie Buckley, Judith Ivey, Frances McDormand, Sheila McCarthy, Ben Whishaw

Produktionsland: USA, 2022

Länge: 104 Minuten

Verleih: Universal Pictures International Germany

 

Fotos, Pressematerial & Trailer: Copyright Universal Pictures International Germany

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