Architektur

Im Einklang mit Natur und Kunst zu leben, ist spätestens seit der Industrialisierung ein Traum vieler Bürger. Er fand ab 1900 Ausdruck in zahlreichen ländlichen Künstlerkolonien und Siedlungsprojekten.

 

Der Gartenhistoriker Joachim Schnitter hat in der niedersächsischen Heidelandschaft südlich von Hamburg die Spuren einer bisher unbekannten Landhauskolonie entdeckt und den „Erlebnis- und Empfindungsraum“ ihrer Bewohner rekonstruiert. In seinem Buch „Eine Ahnung kommender Lebenskunst“ beschreibt er die Gestaltung ihrer Häuser und Gärten und ordnet sie in den Kontext der Lebensreformbewegung um 1900 ein.

 

Wer heutzutage im Zug von Hamburg nach Hittfeld fährt, blickt auf Lärmschutzwände und wenig reizvolle Einfamilienhaussiedlungen zwischen Feldern. Angesichts der Zersiedelung ist es schwer nachzuvollziehen, was die Handvoll wohlhabender Hamburger Bürgerfamilien und Kunstfreunde an dieser leicht welligen Landschaft so anzog, dass sie hier ab 1902 ihre Sommer verbrachten. Doch Joachim Schnitter gelingt es in seinem Buch, diese Anziehung lebendig darzustellen. Historische Fotografien und die Landschaftsbilder der damals sich verbreitenden Freiluftmalerei vermitteln die Weite und Ruhe einer kargen, wenig berührten Wald- und Heidelandschaft. Viele zeitgenössische Briefzitate belegen, wie die damals auf dem Hittfelder Sunderberg ansässigen Sommerhausbewohner zwanglos lebten und ihre Feste inszenierten.

 

Treibende Kraft dieser kleinen Siedlung war der Hamburger Kunsthallendirektor Alfred Lichtwark. Auf seinen häufigen Fahrten nach Bremen – damals ein Zentrum junger Kunst – hatte der Blick aus dem Eisenbahnfenster in ihm offensichtlich eine Sehnsucht geweckt. Eines Tages stieg er mit seinem Freund, dem Hamburger Baupolizeiinspektor Wilhelm Daniel Vivié, in Hittfeld aus dem Zug. Mit einer Trittleiter ausgerüstet, fuhren sie zu einer kleinen Anhöhe, dem Sunderberg, und suchten einen Bauplatz mit guter Aussicht.

 

01 eine Ahnung kommender Lebenskunst

Eine Ahnung kommender Lebenskunst. (Illustration)

 

Das zweistöckige, unprätentiöse Walmdachhaus Vieviés und das eng benachbarte einstöckige Holzhäuschen von Lichtwark sind noch heute erhalten. Sie bildeten die Keimzelle für eine Kolonie von Landhäusern reicher Hamburger Familien auf und um den Sunderberg, die alle Freunde Lichtwarks waren, eine Mischung engagierter, kunstsinniger Bürger, weltläufiger Kaufleute und herausragender Frauen wie z.B. die Schauspielerin Adele Doré oder die Reformpädagogin Maria Schmidt-Matthaei.

 

Auch der Maler Leopold Karl Walter Graf von Kalckreuth hoffte, für sich und seine Familie hier mitten der Natur mehr Ruhe und Gesundheit zu finden. Auf Empfehlung Lichtwarks hatte sich in Hittfeld bereits der Künstler und Kunstpädagoge Arthur Siebelist angesiedelt und unterrichtete junge Maler wie z.B. Friedrich Ahlers-Hestermann, Franz Nölken oder Albert von Clausewitz. Lichtwark hoffte, dass die jungen Siebelist-Schüler später bei von Kalckreuth lernen würden, und er hier in der Heide eine Hamburger Schule begründen könnte. Doch die jungen Männer gingen ihre eigenen Wege.

 

Als Kunsthallendirektor sammelte Lichtwark gezielt Gemälde Hamburger Künstler, beförderte die Bildung und das künstlerische Schaffen von Laien und prägte damit einen im positiven Sinne verstandenen Begriff des „Dilettanten“. Er mischte sich gerne in das kulturelle Geschehen der Stadt ein, plädierte in der Architektur für den Heimatschutzstil und war Mitbegründer des Stadtpark-Vereins, der die Gestaltung eines großen Erholungsparks für die breite Bevölkerung vorantrieb. Alle diese Aktivitäten kennzeichnen ihn als eine wichtige Figur der breitgefächerten Reformbewegung, die die akademischen Konventionen des historisierenden 19. Jahrhunderts in allen Bereichen von Kunst und Leben hinter sich lassen wollte.

 

Lichtwarks Heidegarten COVERJoachim Schnitter ist während seines Studiums der Landschaftsarchitektur auf Alfred Lichtwarks Heidegarten-Manifest gestoßen: „Das hat mich seitdem nicht losgelassen“, erzählt er im Gespräch mit der Rezensentin. „Ich kenne niemanden, keinen Gartengestalter, der es wagt, so radikal gestaltet mit Wildpflanzen umzugehen.“ Lichtwark propagierte die Anknüpfung an einen althamburgischen Stil bzw. das, was er dafür hielt. In der Gartenkunst orientierte er sich an den Bauerngärten rund um die Hansestadt, die ihm mit ihren geometrisch angeordneten Beeten von Zier- und Nutzpflanzen als ein Vorbild dienten.

Statt der künstlich hergestellten, malerischen „Natürlichkeit“ des Englischen Landschaftsgartens mit seinen Gebüschen und verschlungenen Wegen forderte Lichtwark einen übersichtlichen, möglichst spiegelsymmetrisch angelegten Garten mit klaren Linien. Eine große Rasenfläche vor dem Haus sollte zum Aufenthalt einladen und am gegenüberliegenden Gartenende eine Laube oder Bank einen Aussichtspunkt markieren, von dem aus man in die Landschaft und zurück zum Haus blicken konnte.

 

„Dazwischen stellte sich Lichtwark sehr viele kleine Wege vor“, erläutert Joachim Schnitter, „wo der Einzelne hingehen und sich die einzelne Blume ansehen mag.“ Das übersichtliche Raumkonzept ermöglichte es, jede einzelne Pflanze genau betrachten und sich kontemplativ in sie versenken zu können. Exotische Pflanzen und künstliche Bewässerung lehnte Lichtwark ab. Nur heimische Pflanzen aus der umliegenden Natur sollten in diesem Heidegarten wachsen, Gemüse- und Blumenbeete befand er als gleichwertig. Schnitter betrachtet Lichtwarks radikalen Ansatz als durchaus aktuell: „Lichtwark sagt, der Mensch ist ein Ordner, das würde ich voll unterschreiben. Wir wollen eigentlich gestalten und ordnen, müssen es aber auf eine Weise tun, die uns nicht die Lebensgrundlagen entzieht“.

 

Die Anlage der Sommerhäuser auf dem Sunderberg waren von Alfred Lichtwarks Vorstellungen beeinflusst. Mit ihren Walmdächern, Sprossenfenstern und Fachwerkelementen entsprachen sie dem Heimatschutzstil. Sie lagen überwiegend versteckt im Wald, daher waren große repräsentative Gesten wie lange Auffahrten kaum möglich. Auch bei der Gartengestaltung war Lichtwarks Einfluss erkennbar, doch niemand verwirklichte sein radikales Heidegarten-Manifest bis ins letzte Detail. Die Familien orientierten sich lieber an ihren individuellen Bedürfnissen, was Lichtwark ohne weiteres akzeptierte.

 

Heute ist der Sunderberg zugewachsen, die alten Gärten verschwunden, die historischen Blickachsen verstellt. „Doch es gibt noch Familien, die sich über die Großeltern daran erinnern, dass es diese Verbindung zu Lichtwark gab“, hat Schnitter bei seinen Recherchen festgestellt. „Sanni, seine Schwester, war Kindermädchen in diesen Häusern. Und bis heute sind die alten oder auch die neu zugezogenen Familien freundschaftlich miteinander verbunden.“

 

Das berühmteste Experiment der Lebensreform, Kunst, Natur und Leben zu verschmelzen, ist die Landkommune und Künstlerkolonie auf dem Monte Verità im Schweizer Tessin, gegründet 1900. Die Hittfelder Landhausbewohner waren da deutlich weniger radikal. Schnitter setzt sie zu den benachbarten Kunststätten in Worpswede und Jesteburg-Lüllau in Beziehung, um die spezielle Atmosphäre und Bedeutung vom Sunderberg zu bestimmen.

 

02 eine Ahnung kommender Lebenskunst

Eine Ahnung kommender Lebenskunst. (Illustration)

 

In Worpswede verwirklichte Heinrich Vogeler auf seinem Barkenhoff-Anwesen zunächst einen sehr individuell gestalteten Künstlergarten. Nach dem Ersten Weltkrieg versuchte er sich dort mit einer Siedlungskommune und Arbeitsschule an dem Aufbau einer klassenlosen Gesellschaft. Ab 1920 wurde der erfolgreiche Reform-Gartenarchitekt Leberecht Migge für einige Jahre sein Nachbar und gründete in Worpswede den Sonnenhof. Migge erprobte Methoden der Kreislaufwirtschaft und Selbstversorgung, um die Armut in den Städten zu bekämpfen. Eine bekannte touristische Attraktion ist Worpswede heute allerdings nur noch als ehemalige Künstlerkolonie, in der z.B. Paula Modersohn-Becker lebte und arbeitete.

 

Ein Tourismusziel ist auch die Kunststätte Johann Bossards bei Jesteburg. Der Künstler zog sich 1911 in die Heide zurück und schuf zusammen mit seiner Frau ein beeindruckendes expressionistisches Gesamtkunstwerk aus Architektur, Plastik, Malerei und Gartenkunst. Gemäß den Idealen der Lebensreform betrieb er Gartenbau und Viehwirtschaft. Sein Garten entspricht in der Gestaltung teilweise den Vorgaben aus Lichtwarks Heidegarten-Manifest, doch was ihn an- und umtrieb, war weit entfernt von den Lebensidealen des bodenständigen, den Menschen zugewandten Kunsthallendirektors. Joachim Schnitter veranschaulicht das im Gespräch in einem Bild:

„Während Lichtwark dasitzt, seine Zigarre pafft, in den Abendhimmel blickt und sich mit Freunden unterhält beim Gläschen Wein, malt Bossard die ganze Zeit jeden Zentimeter seines Hauses aus. Er baut die Häuser natürlich auch komplett selbst, weil er das als eine Art Rückkehr zum Archaischen sieht. Da gibt es Überschneidungen zu Lichtwark, der das Althamburgische sucht, das hat aber nicht dieses Mythische von Bossard, sondern das ist eher Gemütlichkeit. Das verbindet ihn mit Siebellist, der Bauernkaten malt und der Hausherr pafft gemütlich seine Pfeife und besieht sich seine Blumen. Bossard ist alles andere als gemütlich. Der ist bis heute extrem sperrig und schert sich nicht darum, ob man ihn versteht. Er sagt: die Meinen werden mich schon finden.“

 

03 eine ahnung kommender lebenskunst lichtwarks heidegarten und die hittfelder landhauskolonie gebundene ausgabe joachim schnitter

Eine Ahnung kommender Lebenskunst. (Illustration)

 

Das mythisch-völkische Geraune eines Johann Bossard, die sozialen Utopien eines Heinrich Vogelers und Leberecht Migges oder die paternalistisch-pädagogischen Bemühungen eines Alfred Lichtwarks, sie alle hatten Platz im breiten Strom der Lebensreform. Joachim Schnitter gelingt es in seinem sehr ansprechend, übersichtlich und bilderreich gestalteten Buch, den gesellschaftlich-kulturellen Hintergrund der Landhauskolonie auf dem Sunderberg detailreich auszuleuchten. Ihre spezielle Atmosphäre aus Intimität und Exklusivität ergab sich aus dem freundschaftlich-familiären Umgang und den intensiven Gesprächen über Kunst. Das setzte sich nach dem Tod von Alfred Lichtwark 1914 noch eine Weile fort, verebbte aber mit der Zeit. Die Strömungen und Ideale der Lebensreform begleiten uns allerdings in modifizierter Form noch bis heute.


Joachim Schnitter: Eine Ahnung kommender Lebenskunst. Lichtwarks Heidegarten und die Hittfelder Landhauskolonie

Verlag: Dölling und Galitz Verlag Hamburg/München 2023

240 Seiten, 220 Farbabbildungen, Hardcover mit Fadenheftung, Format 16,5 x 24 cm
ISBN 10: 3-86218-166-9
ISBN 13: 978-3-86218-166-7

Weitere Informationen (Verlag)

Weitere Informationen (Büro Schnitter)

Kommentar verfassen
(Ich bin damit einverstanden, dass mein Beitrag veröffentlicht wird. Mein Name und Text werden mit Datum/Uhrzeit für jeden lesbar. Mehr Infos: Datenschutz)

Kommentare powered by CComment


Wir benutzen Cookies

Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Einige von ihnen sind essenziell für den Betrieb der Seite, während andere uns helfen, diese Website und die Nutzererfahrung zu verbessern (Tracking Cookies). Sie können selbst entscheiden, ob Sie die Cookies zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass bei einer Ablehnung womöglich nicht mehr alle Funktionalitäten der Seite zur Verfügung stehen.