
Mysteriös, aus einem flimmernden Nichts beginnt der erste Satz von Gustav Mahlers 1. Symphonie. Dann tönt aus der Ferne eine Hörner-Fanfare, die bald von den Trompeten ein Spürchen klarer aufgenommen wird. Es ist der Beginn einer Traumgeschichte, die Mahler-Biograph Jens Malte Fischer „die kühnste symphonische Visitenkarte der ganzen Musikgeschichte“ genannt hat. Mahler hat lange mit diesem Werk gerungen, hat es immer wieder umgeschrieben, retuschiert, sogar einen ganzen Satz – den zweiten - mehrfach hinein genommen und wieder daraus gestrichen. Jetzt legt das NDR-Sinfonieorchester mit seinem Chefdirigenten Thomas Hengelbrock eine dieser Zwischenfassungen vor: die 1893 während Mahlers Zeit als Erster Kapellmeister am Hamburger Stadttheater erstmals gespielte fünfsätzige, ausgesprochen selten aufgenommene „Hamburger Fassung“.

Eine schwere Geburt, während der der Komponist – ebenfalls für die Hamburger Fassung – ein Programm veröffentlichte, das den Zuhörern den Hintergrund der Musik klarer machen sollte. Über dem ersten Teil steht da: Aus den Tagen der Jugend; Blumen-, Frucht- und Dornenstücke, mit den Sätzen 1. „Frühling und keine Ende – die Einleitung stellt das erwachen der Natur aus langem Winterschlafe vor“, 2. „Blumine – Andante con moto“, 3. „Mit vollen Segeln – Scherzo“. Den zweiten Teil nennt Mahler „Commedia humana“ mit dem 4.Satz „Gestrandet! Ein Totenmarsch in Callots Manier“ und 5. „Dall’ Inferno – Stürmisch bewegt – der plötzliche Ausbruch der Verzweiflung eines im tiefsten verwundeten Herzens“.
Mahler ist kein Freund von solch expliziten Erklärungen seiner Musik, er schreibt: „Ich weiß für mich, daß ich, solang ich mein Erlebnis in Worten zusammenfassen kann, gewiß keine Musik hierüber machen würde“, und: „Mein Bedürfnis, mich musikalisch-symphonisch auszusprechen, beginnt erst da, wo die dunkeln Empfindungen walten, an der Pforte, die in die ,andere Welt’ hineinführt.“ Er wird die Erklärungen später wieder streichen, „weil ich es erlebt habe, auf welch falsche Wege hierdurch das Publikum geriet“.
Dabei legen neuere Recherchen des Amerikaners Jeffrey Gantz („Visions of Johanna – Gustav Mahler’s Blumine: A love story“) durchaus nahe, dass Mahler selbst mit seinem „Programm“ das Publikum von einer ganz anderen, sorgfältig verborgenen wahren Geschichte gelenkt hat: von seinem heißen Techtelmechtel mit der Sopranistin Johanna Richter, mit der er, damals 24 Jahre jung, während seiner beiden Jahre in Kassel Liebe und Trennung durchlebte.
Gantz reiht eine lange Beweiskette aus musikalischen Motiven, Briefzitaten und Andeutungen Mahlers aneinander. Nach seiner Auffassung steht hinter dem ersten Satz das Aufblühen dieser Liebe, ist der später entfernte und dann fast 70 Jahre lang verschollen gewesene zweite Satz „Blumine“ ihr Herzstück, der dritte mit Ländler-Scherzo und Walzer-Trio ein verliebtes Tanzen. Im Trauermarsch zieht an ihm das Ende seiner Liebe vorbei, in dessen Trio scheinen aus seinen Johanna Richter gewidmeten „Liedern eines fahrenden Gesellen“ die „zwei blauen Augen“ auf, die ihn fortgeschickt haben. Auch das „Ging heut morgen übers Feld“ wird in der Ersten öfter zitiert Der fünfte Satz beginnt mit dem gequälten Aufschrei der verwundeten Seele, er blickt zurück auf die Vergangenheit, reißt sich los und zieht los in Richtung Zukunft – ob die mehr als ein Traum wird, ob er den Tod findet, darüber darf gerätselt werden.
Motive aus „Blumine“ tauchen an vielen Stellen der dann gekürzten Symphonie auf, Gantz verfolgt sie in Mahlers Werk noch bis in die vierte, die neunte und zehnte Symphonie – der Versuch, sich das Herz herauszureißen, ist Mahler offenbar nicht vollständig gelungen.

Der Aufschrei zu Beginn des fünften Satzes, von Mahler selbst „eine brennende Anklage an den Schöpfer“ genannt, ist kein Clash von Kontinenten, es bleibt – und das ist nicht weniger – eine erschütternde menschliche Regung.
Thomas Hengelbrock und das NDR-Sinfonieorchester überhöhen da nichts ins Heroische, entfesseln nur selten Urgewalten. Sie setzen vielmehr auf Zwischentöne, da wird nicht nachgesüßt. Dieser „Titan“ ist wunderbar transparent und zutiefst unprätentiös. Weltklasse „Made in Hamburg“!
Mahler: Symphony No. 1 „Titan“, Version Hamburg 1893.
Thomas Hengelbrock, NDR-Sinfonieorchester.
Sony Classical 8884 3050 542
Hörbeispiele
Abbildungsnachweis:
Header: Thomas Hengelbrock dirigierend. (c) NDR
CD-Cover
NDR Sinfonieorchester (2009). (c) NDR
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