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Auf den Spuren vergessener Schriftstellerinnen.

Die Autorin und Journalistin Iris Schürmann-Mock begibt sich in ihrem Buch „Ich finde es unanständig, vorsichtig zu leben“ auf literarische Spurensuche. Für uns Leser und Leserinnen bietet dies eine lesenswerte Entdeckungsreise durch 250 Jahre weibliche Literaturgeschichte. Vorgestellt werden 25 Autorinnen mit jeweils einem Porträt und kurzer Leseprobe.

 

Ergänzt werden die Beiträge durch eine „Spurensuche“, die eine Brücke in die Gegenwart schlägt, sowie durch Literaturtipps und Hintergrundinformationen. Es ist eine längst fällige Hymne auf schreibende Frauen, die viel zu lang und viel zu oft in Vergessenheit geraten sind.

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Mit ihrem Roman „Die Katrin wird Soldat“ erreichte beispielsweise Adrienne Thomas (1897-1980) ein Millionenpublikum. Gabriele Reuter (1859-1941) schrieb mit „Aus guter Familie“ ein Buch, das in 28 Auflagen erschien. Diana Kempf (1945-2005), Tochter des berühmten Pianisten Wilhelm Kempf, wurde für ihr Werk „Der Wanderer“ mit dem Kleist-Preis geehrt. Sie gründete zudem den Gemini-Verlag, um wenig beachteten Büchern eine Chance zu geben. Und Anna Louisa Karsch (1722-1791) war die erste freie Schriftstellerin deutscher Sprache, die vom Schreiben leben konnte. Damals war sie eine Berühmtheit. Selbst Goethe bat sie, ihm Gedichte zu schicken. Was für ein Aufstieg für eine Kuhhirtin, die nie eine Schule besucht hatte, die das Schreiben und Lesen von einem Onkel erlernte!

 

ich finde es unanständig COVERFrauen haben seit Jahrhunderten geschrieben, dennoch wurden und werden sie bis in die heutige Zeit oft weniger wahrgenommen als ihre männlichen Kollegen und schneller vergessen. Und nicht wenige Schriftstellerinnen verschwanden hinter dem Werk berühmter Männer. So ist Inge Müller (1925-1966) vor allem als Ehefrau von Heiner Müller bekannt und Margarete Steffin (1908-1941) als Mitarbeiterin von Bertold Brecht. Der zweite Ehemann von Sophie Mereau (1770-1806) namens Clemens Brentano ertrug keine geistig freie Frau an seiner Seite und unterdrückte ihre Kreativität soweit es ihm möglich war. Auch wurde manch weibliche schriftstellerische Arbeit durch Unrechtsregimes beendet. So wie die hohe Schreibkunst der Jüdin Alma Johanna Koenig (1887-1942), die mit dem Literaturpreis der Stadt Wien ausgezeichnet wurde, bevor das Naziregime ihrem literarischen Erfolg ein Ende bereitete. Sie schrieb ihren letzten, wichtigsten Roman „Nero, der jugendliche Gott“ in einer eiskalten Wiener Dienstmädchenkammer, bevor sie deportiert und ermordet wurde. Ihrer Voraussicht und einem guten Freund ist es zu verdanken, dass ihr Roman dennoch veröffentlicht werden konnte. Kurz bevor sie deportiert wurde, setzte sie den Schlussstrich unter das Manuskript.

 

Häufig spiegeln die Werke dieser Autorinnen Facetten ihrer Biografie. Caroline Muhr (1925-1978) etwa verfasste einen meisterhaften Roman über die Geschichte ihrer Depression. Diana Kempf gestaltete das Kindheitstrauma ihrer (krankheitsbedingten) Fettleibigkeit. Es sind allesamt beindruckende, mitunter tragische Schicksale, die in diesem Buch skizziert werden. Ein Porträtfoto ist jedem Part vorausgestellt, jeweils zehn Seiten sind jeder Autorin insgesamt gewidmet. Dank Iris Schürmann-Mock bewegen wir uns mit all diesen unser Wissen bereichernden, erhellenden Beispielen „Auf den Spuren vergessener Schriftstellerinnen“, so der Untertitel dieser Sammlung, die jedoch weitaus mehr ist als dies: Es handelt sich (auch) um ein Nachschlagewerk im besten Sinne. Einige Autorinnen sind uns auch heute noch bekannt, so wie Gertrud Kolmar (1894-1943) Selma Merbaum (1924-1942) und Maxi Wander (1933-1977). Dennoch sind auch sie nicht (mehr) bekannt genug. Hier weiß das Buch zu helfen: Denn wer über die kurzen Textbeispiele und Vitae hinaus mehr über die jeweilige Autorin erfahren möchte, erhält unter dem Stichwort „Hintergrund“ weiterführende Informationen über Details und anderes Wissenswertes aus dem Umfeld der porträtierten Frauen sowie Literaturhinweise.

 

Über Sophie Mereau lesen wir dort u.a., dass Schiller und Goethe für die Kunst ihres Schreibens anerkennende Worte fanden. Schiller lobt deren Briefe, die „mit vielem poetischen Feuer“ geschrieben seien. Goethe äußert sich in seinem Antwortbrief über die „Klarheit, Leichtigkeit und Simplicität“ der Briefe, die den Anfang eines Briefromans bilden könnten. Er urteilt allerdings letztendlich allgemein und wenig respektvoll über das Schreiben dieser und anderer seiner Zeitgenossinnen: „Ich muss mich doch wirklich darüber wundern, wie unsere Weiber jetzt, auf bloß dilettantischen Wege, eine gewisse Schreibgeschicklichkeit sich zu verschaffen wissen, die der Kunst nahe kommen.“ So war es, so ist es: Schriftstellerinnen „wurden – und werden bis in die heutige Zeit - weniger wahrgenommen, schlechter beurteilt, zu Unrecht schneller vergessen. Selbst Erfolg war nie eine Garantie dagegen […], so Iris Schürmann-Mock in der Vorbemerkung zu diesem ihrem Buch. Unter dem Stichwort „Spurensuche“ schlägt sie eine Brücke zum Heute: Hier werden Gedenkstätten und andere Häuser, Links und Lesetipps genannt, so dass den Spuren dieser Frauen bis in die Gegenwart gefolgt werden kann. Die einzelnen Beiträge sind im vorausgestellten Inhaltsverzeichnis nach Geburtsjahr der Schriftstellerinnen geordnet.

 

Neugierig auf mehr macht in diesem Buch vieles. Erstaunlich, kurios und bemerkenswert ist hier ebenfalls vieles. So ist beispielsweise über die Gedichte Louise Astons zu lesen: „Zu ihren Lebzeiten wurde ihr nachgesagt, sie habe die Verse nicht selbst geschrieben, sondern von zwei jungen Männern gegen einige Liebesnächte gekauft.“ Oder: Über Frederike Kempner (1828-1904) wird berichtet, sie habe als junges Mädchen Kranke gepflegt und am Bett Sterbender gewacht und hat ihre Erfahrungen nicht nur literarisch verarbeitet, sondern sich auch für Verbesserungen damaliger Zustände eingesetzt: „Ihre Apelle trugen wesentlich zur allgemeinen Einführung von Leichenhäusern im Jahr 1871 bei.“ Oder: Über Gabriele Reuter (1859-1941), die mit ihrem Buch „Das Tränenhaus“ das Schweigen über die Zustände in einem Haus für ledig Gebärende und somit ein Tabu brach - aufgrund eigener Erfahrung: „1897 brachte sie dort eine uneheliche Tochter zur Welt.“ Auch manche andere Ungeheuerlichkeit lässt uns Lesende erschrecken. So hat beispielsweise Emmy Ball-Hennings (1885-1948) ihren Freund Erich Mühsam im KZ Oranienburg besucht und dafür ihr sicheres Exil in der Schweiz verlassen: „Ich finde es unanständig, vorsichtig zu leben“, lautete ihr Motto, dem sie bis zu ihrem Tod treu blieb. „Auf der Übersichtstafel des Friedhofs von Gentileno, auf dem sie begraben ist, wird auf die letzte Ruhestätten bedeutender Menschen aufmerksam gemacht: Hermann Hesse, der Dirigent Bruno Walter und Hugo Ball. Emmy Ball-Hennings Name fehlt.“ Dem ist nichts hinzuzufügen. Wir wissen Bescheid. Dank Iris Schürmann-Mocks Buch, das voller Rechercheergebnisse und gerade deshalb so lesenswert und unterhaltsam ist.


Iris Schürmann-Mock: „Ich finde es unanständig, vorsichtig zu leben“

Auf den Spuren vergessener Schriftstellerinnen

Aviva Verlag

288 Seiten, gebunden, m. Lesebändchen, m. Abb.
ISBN: 978-3-949302-08-4

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