Bildende Kunst
Siegward Sprotte. Sylt – Hamburg – Shanghai

Die Handelskammer Hamburg widmet sich in einer Ausstellung dem in Potsdam geborenen und auf Sylt verstorbenen Künstler Siegward Sprotte (1913-2004).
„Sylt – Hamburg – Shanghai“, so der Titel der Ausstellung, markiert dann auch Lebens- und Orientierungsorte im Werk jenes Malers und Zeichners, der „im Spannungsfeld zwischen ‚gegenständlich – abstrakt – gegenstandslos‘ arbeitet“ (1). Die Entwicklungsgeschichte des Künstlers lässt sich anhand der mehr als einhundert präsentierten Werke des Künstlers und eines eigens publizierten Kataloges gut nachvollziehen.

Die Entdeckung der gestischen Denkfigur
Schauen wir auf das Gesamtwerk von Siegward Sprotte bilden die Werke, die mit wenigen reduzierten Zeichen, Linien, Strukturen und Kalligraphie-artigen Gesten auskommen, eine Minderheit. Es lohnt sich jedoch, diesen Bereich einmal explizit aus der Welt des Künstlers herauszuheben und zu untersuchen, denn seit den frühen 1950er-Jahren verwebt sich dieser Bildtypus mit den stilistisch anderen Werken wie feines Tuch.

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Während die Entwicklung in der europäischen Kunstgeschichte von der Höhlenmalerei über die Antike und Renaissance zum Barock und in den Realismus des 19. Jahrhunderts führte und sich nachweislich Zeichen zu komplexen Bildern, sichtbaren und unsichtbaren Bildinhalten entwickeln konnten, leben die Zeichen in anderen, außereuropäischen Kulturen – insbesondere vom arabischen Raum bis Ostasien – kontinuierlich, unabhängig, erhaben und respektiert. Als Bildgattung existieren dort die zeichenhaften, gestischen, reduzierten und dennoch symbolträchtigen Äußerungen parallel und teilweise autark zu den komplexen, narrativen, vermeintlich natur- oder realitätsnachahmenden Auffassungen des Westens.

Spätestens seit den großen Weltausstellungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Wien (1873), Paris (1878) und Berlin (1879) entdeckte Europa die Kunst Chinas, Japans und des Fernen Ostens. Der Orient galt schlagartig als Orientierung.

Dabei war kaum ein europäischer Künstler, Handwerker, Fotograf oder Gestalter zur vorletzten Jahrhundertwende jemals in Ostasien gewesen, vielmehr unternahmen französische, englische, deutsche und skandinavische Sammler, Ästheten und Kunstkritiker in den 1870er- und 1880er-Jahren Reisen, was eine Reihe von Aufsätzen und Abhandlungen über die chinesische, koreanische und japanische Kunst und einen verstärkten Handel damit hervorrief. Aufsätze über japanische Farbholzschnitte (ukiyo-e) sowie über Keramiken, Lack- und Metallarbeiten stießen in Europa auf ein großes Echo. Die japanische Formensprache, die Idee der Reduktion, die Ästhetik der Leere, die Kunst der Andeutung, die Sensibilität und Naturhaftigkeit sowie das hohe handwerkliche Vermögen wurden zu Inspirationsquellen vieler hiesiger Künstler. Die Achtsamkeit auf die Natur und der Formen galt nun nicht mehr nur insbesondere in Japan, sondern auch in Europa als essenzielle Hervorbringung (2).

Der europäische Impressionismus, Jugendstil und Expressionismus, das Informel der 50er-Jahre des 20. Jahrhunderts – diese uneinheitliche Richtung „die eine künstlerische, gestische Haltung charakterisiert, die das klassische Form- und Kompositionsprinzip ebenso ablehnt wie die geometrische Abstraktion“ (3) –, wären ohne diese Entdeckung und Rezeption der Kunst Asiens kaum vorstellbar.
Der transkulturelle Wert, Lernkultur und nicht, wie seinerzeit üblich, Belehrungs- und Missionierungskultur zu sein, ist in diesem europäischen sowie westlichen Zusammenhang in besonderer Weise hervorzuheben.

Sprotte und die Kalligraphie
Das Interesse des 20-jährigen Siegward Sprotte, speziell an der chinesischen Kalligraphie, entstand durch das intensive Lesen von Aphorismen des chinesischen Philosophen Lao-Tse während einer schweren Krankheit. Vom Wort zum Bild: die Lao-Tse-Texte weckten seine Neugierde an kalligraphischen chinesischen Tuschzeichnungen. Er bemühte sich um original chinesische Tuschen, Pinsel und Papiere und arbeitete intensiv mit diesen Materialien, gab allerdings seine altmeisterlichen Tempera-Lasurfarbenstudien in dieser Zeit nicht auf.

Der Zyklus „Magnolienzweige Meran“ (1954) steht beispielhaft für genau diesen sinnhaften Beginn seines west-östlichen Dialogs. Zu erkennen ist zwar die Nähe zur chinesischen Tuschmalerei und den Darstellungen des 16. Jahrhunderts (Ming Dynastie) von Magnolien- und Bambuszweigen, aber auch eine zu einigen Zeichnungen und Aquarellen des norwegischen Jugendstilmalers Gerhard Munthe (1849-1929) oder zu Christian Rohlfs (1849-1938) – exemplarisch der „Hagebuttenzweig“ aus dem Jahr 1915.

Sprotte widersetzte sich der Vorstellung, ein Detail wie einen Zweig, einen Halm oder ein Seestück zu malen, vielmehr arbeitete er als ein ganzheitlicher und somit asiatisch beeinflusster Künstler, der davon ausgeht, dass auch im Kleinen die Welt zu finden und erkennen ist.

Außerdem ist einerseits das Bildformat bei ihm eher dem Buchformat verbunden, was dem kalligraphisch-skriptiven Ausdruck entgegenkommt, andererseits ist es äußerst selten Begrenzung. Sowohl Mal- als auch Denkraum gehen darüber hinaus und beziehen per se auch die „nicht gemalte“ Bildfortführung jenseits des Bildrandes mit ein. Dieses „All-Over-Prinzip“ ist eine grundsätzliche Haltung und verstärkt die Kräfte des Ganzheitlichen.

Die Reduktion auf das Wesentliche ist nicht Anfangs-, sondern Endpunkt. Die lebenslange Erfahrung, mit Linie und Form umzugehen, das Format im Gestus zu bewältigen, die Bedingungen von Leere zu akzeptieren und sie im Moment darauf Rhizom-artig auf Leinwände und Papiere bringen zu können, bilden den Nukleus des meisterlichen Spätwerks.

Sprotte begreift sichtbar im Bild und lesbar in seinen Titeln dieses Phänomen einer vielfältigen Annäherung zwischen Beschreibung, Verortung, Zustand und kunstimmanenter Vorstellung. „Gelbe Düne“ (1965) setzt sich mit „Ebbe II“ (1972), „Farbfolge“ (1975), „Farbige Kalligraphie“ (1983), „Grund und Muster“ (Kiefernzweig, 1999) sowie den Serien „Alles fließt“ (1997) und „Anfang und Ende“ (2004) in einer vielschichtigen Art und Weise auseinander. Bild, Geste und Titel gehen sowohl von bildhaft-gegenständlichen als auch von theoretisch-künstlerischen Bezugspunkten aus (4).

Die gegensätzlichen Betitelungen und Seins-Auffassungen – obwohl malerisch gleichschwingend – führen nie zu einem Kontrapunkt oder einem Konflikt, sondern akzeptieren das existentielle Nebeneinander.

Zwischen Verortung und losgelöstem Raum
Auch wenn landschaftliche Vorstellungen sich visuell und sprachlich formulieren, so bleibt für den Betrachter immer der geistige Raum, sich davon loslösen zu können. Die ausgereifte Geste des Künstlers delegiert Denken, Erinnern und Interpretieren an uns. Die Erkenntnis, dass der Maler des 20. Jahrhunderts nicht mehr der geniale, unumstößliche Schöpfer sein kann, wie sich seine Kollegen noch in früheren Jahrhunderten sahen, bedeutet die Abgabe eines Teils von Verantwortung am Bild und an der Kommunikation darüber an die Rezipienten (5). Das setzt uns wiederum in die kreativen Prozesse des damit Umgehen-könnens.

Ohne die theoretischen Aufsätze, Formulierungen und Texte von Siegward Sprotte zu kennen, reift allein in der Anschauung die Gewissheit, dass seinen Kalligraphie-artigen Bildern, neben seiner eigenen Imagination und eigenen Reflexion, auch immer ein positiver und strukturgebender Moment für uns alle innewohnt.

Bei Siegward Sprotte ist dieses Potential folglich organische, systemische und soziale Denkfigur.

Siegward Sprotte. Sylt – Hamburg – Shanghai

Kunst in der Handelskammer
Adolphsplatz1 in 20457 Hamburg
Zu sehen bis 25. Mai 2018
Öffnungszeiten: Montag bis Donnerstag von 9 bis 17 Uhr, Freitag von 9 bis 16 Uhr, an Samstagen, Sonn- und Feiertagen geschlossen

Es ist ein Katalog erschienen mit Texten und Abbildungen. Erhältlich zum Preis von 15 Euro.
Ein Ausstellungsprojekt von Marcard Pro Arte & VV GmbH in Zusammenarbeit mit der Siegward Sprotte Stiftung, der Galerie Falkenstern Fine Art und der Handelskammer Hamburg.

Weitere Informationen
YouTube-Video:
Siegward Sprotte, Sylt - Hamburg - Shanghai, Kunst in der Handelskammer Hamburg, Germany

Textanmerkungen:
(1) Vgl. LINDEMANN, Bernd Wolfgang: Lebendige Hieroglyphen, in: Sylt – Hamburg – Shanghai, Hamburg 2018
(2) Zitat: FRIEDE, Claus: Japanomania in the North 1875 –1918. The Influence of Japan on Nordic Art and Design, KulturPort.De – Follow Arts,
Hamburg 2016
(3) vgl.: ZUSCHLAG, Christoph / GERKE, Hans / FRESE, Annette (Hg.): Brennpunkt Informel. Quellen, Strömungen, Reaktionen, Köln 1998
(4) vgl.: RICHTMEYER, Ulrich / GOPPELSRÖDER, Fabian / HILDEBRANDT, Toni (Hg.): Bild und Geste. Figurationen des Denkens in Philosophie
und Kunst, Bielefeld 2014
(5) vgl.: LINGNER, Michael / WALTHER, Rainer: Paradoxien künstlerischer Praxis. Die Aufhebung der Autonomie des Ästhetischen durch die
Finalisierung der Kunst, Kunstforum International, Ruppichteroth 76/1984


Abbildungsnachweis: Alle © Armin und Cosmea Sprotte / VG Bild-Kunst
Header: Siegward Sprotte: Adieux l’Image, 1969, Gallery Print, 100x140cm. Courtesy: Falkenstern Fine Art
Galerie:
01. Siegward Sprotte: Die Horizonte tauschend II, 1990/9, Gouache auf Karton, 35x49,9cm. Courtesy: Falkenstern Fine Art
02. Siegward Sprotte: Studies on Lao-tse, gewaschenes Aquarell auf Papier, 1936, 61x48cm. Courtesy: Siegward Sprotte-Stiftung
03. Siegward Sprotte: Magnolienzweig, Meran, 1954, Aquarell auf Ingres, 49x63,5cm. Courtesy: Siegward Sprotte-Stiftung
04. Siegward Sprotte: Alles fließt II, 19.4.1997, Gallery Print, 100x100cm, Auflage: 40. Courtesy: Falkenstern Fine Art
05. Siegward Sprotte: Gelbe Düne, 1965, Gouache auf Pergament, 29,4x37,5cm. Courtesy: Falkenstern Fine Art
06. Siegward Sprotte: Woge, 1987, Gouache auf Indisch-Bütten, 56,5x76,4cm, Courtesy: Falkenstern Fine Art
07. Siegward Sprotte: Halme III, 1985, Blaue Tusche auf Bütten, 53,3x78cm. Courtesy: Falkenstern Fine Art
08. Siegward Sprotte im Kampener Atelier, ca. 1984.

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