Film

Der Film „Tar“ ist wie seine Protagonistin: Atemberaubend, raffiniert, genial, bissig, charmant, anspruchsvoll, mysteriös, elegant, sinister, hochsensibel: kurz unberechenbar.

US-Regisseur und Drehbuchautor Todd Field kreiert ein provokantes Spiegelbild herkömmlicher #MeToo-Dramen, katapultiert uns mitten hinein in die hart umkämpfte Welt-Elite der klassischen Musik, das Buhlen um Ruhm, Eros und Kommerz.

 

Ein ästhetisch opulentes Meisterwerk von frappierender Suspense, nominiert für sechs Oscars, von vielen Kritikern triumphal gefeiert, von anderen mit zorniger Vehemenz attackiert. Todd Field nimmt es gelassen, weiß er doch, Cate Blanchett in der Rolle der fiktiven amerikanischen Star-Dirigentin schreibt Kinogeschichte.

 

„Vergessen Sie Visconti", schnauzt Lydia Tár ihre Orchestermusiker an mit einer Stimme voll von Ungeduld und Verachtung. Sie ist seit sieben Jahren Chefdirigentin der Berliner Philharmoniker, auf dem Höhepunkt ihres Erfolges angelangt. Nach dem Abschluss in Harvard absolvierte das Universaltalent ein Klavierstudium am Curtis Institute. Anschließen promovierte sie an der Universität Wien im Fach Musikwissenschaft und spezialisierte sich auf die Musik des Ucayali-Tals im Osten Perus, wo sie fünf Jahre unter den Bewohnern der Shipibo-Koni lebte. Als Dirigentin stieg sie schnell in die Ränge der „Big Five“ amerikanischer Orchester auf, während sie gleichzeitig komponierte und dabei alle vier großen Auszeichungen erhielt: Emmy, Grammy, Oscar und Tony. Nächstes Highlight: Der kompletten Zyklus von Gustav Mahler, es fehlt ihr zum Abschluss nur noch die Sinfonie Nr.5 cis Moll, deren Premiere sich durch die Corona-Pandemie verschoben hatte.

 

„Vergessen Sie Visconti“ bezieht sich auf die Verfilmung von „Tod in Venedig“ (1974). Während manche in jener Fünften Sinfonie (Uraufführung 1904) eine hingebungsvolle Liebeserklärung von Mahler an seine Frau Alma vermuteten, ließ der italienische Regisseur Luchino Visconti das Adagietto in seinem Leinwand-Epos zum unvergesslichen Soundtrack schwelgerischer Todessehnsucht werden. Tár zieht das Tempo an: „Zeit ist entscheidend, Zeit ist das wesentliche Element der Interpretation. Nichts geschieht ohne mich. -Jedoch anders als eine Uhr bleibt meine zweite Hand manchmal stehen. Die Zeit bleibt stehen. Die Wahrheit ist, erst wenn ich mich entscheide, die Hand zu heben, hat die Zeit die Erlaubnis weiterzurücken.“ Im Verlauf des Films bekommen diese Worte eine neue unheilvolle Bedeutung. Wenn Tár spricht, haben ihre Anweisungen das Gnadenlose von unumstößlich göttlicher Wahrheit. Cate Blanchett verleiht der Protagonistin eine Aura von Souveränität und kühler Sinnlichkeit. Im ersten Moment wirkt die Künstlerin fast eine Spur theatralisch, als würde sie rezitieren, dann begreifen wir, hinter jedem Satz, jeder Bewegung stecken jahrzehntelange harte Arbeit und erbarmungslose Selbstdisziplin. Lydia Tár wurde von ihr selbst zur Marke entwickelt, einem Spitzenprodukt als wäre es eine hochtechnologische Präzisionswaffe mit überirdischer, spiritueller Kraft. Ihr Lebenselixier aber ist die klassische Musik, sie hat ihren Charakter geprägt so wie Tár nun die klassische Musik prägt. Ohne jede Sentimentalität.

 

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Abgesehen von einigen für uns in jenem Augenblick noch unverständlichen Kurznachrichten auf dem Handy, beginnt der Film mit einem Interview, das Adam Gopnik im Rahmen des „The New Yorker“-Festival mit Lydia Tár führt und bei dem ihr beruflicher Werdegang im Mittelpunkt steht, Vorbild ihr Mentor Leonard Bernstein. Gopnik spielt sich selbst, den Schriftsteller, Essayisten und Kommentator des 1925 gegründeten Magazins. Fiktion und Realität verschmelzen miteinander, das Resultat verunsichert, verblüfft, bewährt sich bis zum grandiose Finale. "Ein Dokumentarfilm von Stanley Kubrick inszeniert“ ist die Assoziation eines amerikanischer Kritikers, Todd Field hat als Schauspieler und Komponist mit dem Regisseur von „Barry Lyndon“ und „Eyes Wide Shut“ gearbeitet, dessen Einfluss auf ihn ist unverkennbar. Tár versteht sich als „Maestro“, so möchte sie angeredet werden und nicht anders. Quoten-Frauen würde sie verachten, klassische Musik ist für die Ausnahmekünstlerin Gender-neutral. Bei einer Lehrveranstaltung in New York, versucht Tár einem jungen offensichtlich talentlosen hypernervösen Künstler mit Neigung fürs Atonale, Komposition am Beispiel von Johann Sebastian Bachs Präludium in C-Dur zu erläutern, doch der sich selbst als „pansexueller BIPOC“ definierende Student (Zethphan Smith-Geist) lehnt es grundsätzlich ab „Werke weißer CIS-Männer“ zu spielen. In solchen Szenen brilliert Tár, sie hält solch Verhalten für kindische Selbstkasteiung, ihre Rhetorik und Eloquenz sind hinreißend, dass der Gegner schlecht dabei abschneidet, auch wenn er sie tapfer als „Bitch“ anpöbelt, war vorauszusehen. Nur irgendwann später taucht just jene Szene, aus dem Zusammenhang gerissen, manipuliert und grotesk verfälscht in den sozialen Netzwerken auf, die genügt, um ihre Karriere endgültig zu zerstören. Der Internet-Mob schlägt zu.

 

Doch noch präsentiert sie sich als strahlende Heldin, der es gelang, ihre Obsessionen und dunklen Geheimnisse vor der Öffentlichkeit zu verbergen. Privat kriselt es bereits, Nina Hoss verkörpert die vernachlässigte gekränkte Ehefrau mit Bravour und Contenance. Sharon ist Konzertmeisterin und 1. Geige bei den Berliner Philharmonikern. Die adoptierte gemeinsame Tochter Petra (Mila Bogojevic) wird in der Schule gehänselt. Wenn Tár jemals Zärtlichkeit und Loyalität zeigt, dann gegenüber dem Kind. Sie greift sich bei nächster Gelegenheit die Übeltäterin auf dem Schulhof, stellt sich als Petras Vater vor und droht der Klassenkameradin unverhohlen. Sie versteht sich auf den Part des skrupellosen Schurken und das Mädchen kapiert sofort die Message. Das Mobbing hat ein Ende. Um auf dem Zenith des Ruhms zu bleiben, kämpft die Fünfzigjährige am Sandsack, joggt durch triste Graffiti-Gegenden und Berliner Parks, hört Hilferufe. Existieren die wirklich oder nur in ihrer Fantasie? Nachts reißt sie das laute Ticken eines versteckten Metronoms aus dem Schlaf. Mehr und mehr entwickelt sich das Psychogramm von Macht und Unterwerfung zum Mystery Thriller. Nicht für alles, was geschieht, findet sich eine Erklärung, viele Spuren verlaufen im Sande, wo endet das Genie, beginnt der Wahnsinn?

 

Mit der Unterstützung des Investmentbankers und Amateur-Dirigenten Eliot Kaplan (Mark Strong) rief Tár das „Accordian Conducting Fellowship-Programm" ins Leben, das weiblichem Nachwuchs Auftrittsmöglichkeiten vermittelt, eine perfekte Kontaktbörse der Verführung. Die Protagonistin wird umschwärmt ähnlich einem Rockstar. Offensichtlich gab es häufig Affären mit weitaus Jüngeren, und sie endeten meist unschön. Die Situation spitzt sich zu. Eine junge Musikerin, gefördert, dann fallen gelassen von ihr, hat sich das Leben genommen. Die Dirigentin ist gleichermaßen brutal wie dünnhäutig, bittet ihre Assistentin Francesca (Noémie Merlant), jene kompromittierende E-Mails zu löschen, sie tut es nicht, zu oft enttäuscht von einer Vorgesetzten und Vertrauten, die sich darauf versteht, falsche Hoffnung zu wecken und die grade dabei ist, mit geschickten Intrigen ihren Vertreter zum Aufgeben zu zwingen. Társ Hingabe für die klassische Musik hat etwas von einem Killer-Instinkt, im Interview erklärt sie nicht ohne selbstgefälligen Stolz, dass ihr beim Dirigieren von Stravinskys „Le Sacre du Printemps", klar geworden wäre, jeder sei fähig zu Mord. „Ich habe lange über eine Figur nachgedacht, die sich in ihrer Kindheit selbst das Versprechen gegeben hat, nicht zu ruhen, bis ihr Traum verwirklicht ist. Und nun hat sich ihr Traum in einen Albtraum verwandelt“, sagt Field. „Einst führte Tár ein Leben, das der Kunst gewidmet war, jetzt leitet sie eine Institution, in der sich ihre Schwächen und Neigungen schonungslos offenbaren. Sie zwingt anderen ihre Regeln auf- nur, um sie dann selbst zu verletzen.“ Der Blick hinter die Fassade der Branche ist erschreckend.

 

Der zweite Teil des Films schildert die sich verändernden Machtdynamik, als Társ Orchester – ein demokratisches Gremium, in dem die Musiker den Dirigenten wählen- beginnt, sie mit anderen Augen zu sehen, ihre Vormacht auf dem Podium ist bedroht. „Die Vorstellung von Demokratie und Autokratie ist in Todds Geschichte sehr präsent“, erklärt Cate Blanchett. Sie gipfelt in einer Szene, in der Lydia und ihre Tochter mit Stofftieren Orchester spielen. Petra hat alle mit einem Dirigentenstab ausgerüstet „Das ist keine Demokratie“, lässt Tár das Kind wissen und offenbart damit den Konflikt, der dem Drehbuch von Field zu Grund liegt.

 

Wie so viele andere, wurde auch Field durch Leonard Bernstein an klassische Musik herangeführt. (Sein eigener musikalischer Background ist der Jazz.) „Wenn man sich die Harvard-Vorlesungen anschaut, die Bernstein in den 1970er Jahren gehalten hat, dann stellt man fest, dass er die ganze Heuchelei beseitigt und durch Liebe ersetzt hat", sagt Field. „Er machte deutlich, dass klassische Musik nichts als Lärm ist: Man kann einen bestimmt Abschnitt spielen und ihn wie „Dragnet“ klingen lassen. Oder man kann den Anschlag und die Betonung ändern, so dass sich alles wie Charles Ives anhört- es macht keinen Unterschied. Diese Musik sollte entschärft, entmystifiziert und in öffentlichen Schulen gelehrt werden. Mahlers fünfte Sinfonie- das Stück, das Lydia dirigieren soll- ist das Werk, das wirklich alles veränderte. Wenn Sie sich heute einen Filmscore anhören oder Bugs Bunny, dann hören sie Musik, die aus diesem kanonischen Werk entstanden ist.“ Tár stellt als Probenfilm einen Prozess dar. Field wollte versuchen, die Mechanismen auf und abseits der Bühne darzustellen, die diese Arbeit mit sich bringt.

 

Unsinnig „Tár“ als frauenfeindlich zu bezeichnen, nur weil die Protagonisten sich ähnlich verhält wie männlichen Feindfiguren der #MeToo Dramen. Das ist eine Realität, die wir akzeptieren müssen, sonst wäre es genauso unentschuldbar, wie damals das Vertuschen des Missbrauchs von Harvey Weinstein & Co. Macht verändert Menschen, erzeugt Abhängigkeiten, der Stärkere kann den Schwächeren leicht unter Druck setzen. Macht ist anziehend, attraktiv und grade in dem Fall sollten wir Frauen lernen, Distanz halten, unsere Überlegenheit als Jüngere auszuspielen, die Opfer-Rolle verweigern. Wie das funktioniert, zeigt die blutjunge Cellistin Olga Metkins (phantastisch Sophie Kauer, selbst Cellistin), ihre Sinnlichkeit zieht Tàr in ihren Bann, nur Olga bleibt die Überlegende, beim gemeinsamen Essen verweigert sie trendgemäßen vegetarische Varianten, stürzt mit Begeisterung und Heißhunger auf die Fleischgerichte, es ist es als ob sie zur Rachegöttin mutieren könnte, wenn Tár sich im menschenleeren labyrinthischen Hinterhof-Kellern niedergeschlagen wird. Was dort wirklich geschehen ist, wir erfahren es nie.

 

Der Niedergang des Stars ist unausweichlich. Die Cancel-Culture kennt keine Gnade, so auch sie keine kannte. Tár will das Podium nicht räumen, die elegante aristokratische wirkende Protagonistin im Frack verwandelt sich am Ende zur verzweifelt kreischenden Karikatur ihrer selbst. Sie, die immer alles im Griff haben wollte, wird von den Security Leuten gepackt und weggeschleift. Wer sie wirklich ist, wie andere sie sehen, das begreift erst sie erst später in Asien, als sie in einem Massage-Salon minderjähriger bildschöner Prostituierter landet, deren Augen unbeweglich geradeaus starren. Lydia hatte die Concierge ihres Hotels um die Adresse gebeten, was sie wollte, war eine normale medizinische Massage. Voller Scham flüchtet sie. Das darauffolgende surreale Finale kann auf verschiedenste Weisen interpretiert werden. Vielleicht findet die Protagonistin zu neuer Demut und sich selbst in einer Welt, wo offen alle zu ihren Masken und Rollen stehen. Die letzten 20 Minuten des Films ähneln einem Fieberwahn ähnlichem Traum, Todd Field nennt sein Leinwand-Epos ein Märchen.

 

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Tár

Regie: Todd Field

Drehbuch: Todd Field

Darsteller: Cate Blanchett, Nina Hoss, Noémie Merlant, Sophie Kauer, Adam Gopnik, Julian Glover, Mark Strong

Produktionsland:

Länge: 158 Minuten

Kinostart: 2. März 2023

Verleih: Universal Pictures Germany GmbH


Fotos, Pressematerial & Trailer: Copyright Universal Pictures Germany GmbH

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