Film

Auch in „Ammonite” erzählt Francis Lee wieder vom unerwarteten Ende der Einsamkeit, jener Einsamkeit, die auch sein Leben prägte. Mit keiner Figur hat sich der britische Regisseur und Drehbuchautor so verbunden gefühlt wie mit Mary Anning, der 1799 geborenen Paläontologin und Fossiliensammlerin.


Als Frau aus der Unterschicht blieb ihr trotz herausragender Leistungen das männlich dominierte Wissenschaftsestablishment verschlossen. Lee kreiert für sie, die Pionierin der Wissenschaft, eine ungewöhnliche und berührende fiktive Lovestory. Grandios in den Hauptrollen: Kate Winslet und Saoirse Ronan. 


Enttäuschungen und Demütigungen haben ihre Spuren hinterlassen im Gesicht von Mary Anning (Kate Winslet). Schon mit 11 Jahren machte sie am Strand von Lyme Regis den spektakulären Fund einer versteinerten Meerechse. Der Ichthyosaurus wird im Britischen Museum ausgestellt, doch das handgeschriebene Schildchen mit ihrem Namen verschwindet, ersetzt durch den Namen eines Mannes gedruckt in prunkvollen Lettern. Wenige Monate zuvor war Marys Vater an Schwindsucht gestorben, er hatte sie eingeführt in die Kunst des Aufspürens und Präparierens von Fossilien. Den kärglichen Lebensunterhalt für sich und die kränkliche Mutter verdient die Mittvierzigerin mit dem Verkauf von Fossilien als Souvenirs an Touristen. Ein tristes Dasein, die Atmosphäre in dem engen ärmlichen Cottage entbehrt jeglicher Wärme oder familiärer Vertrautheit. Die Gedanken der Mutter (Gemma Jones) kreisen meist nur um ihre Porzellanfigürchen, Ersatz für acht tote Kinder. Marys Welt ist die felsige Küste Südwestenglands und jene prähistorischen Spuren, die sie Tag für Tag erforscht. 

Überraschend taucht ein wohlhabender schottischer Geologe auf, Roderick Murchison, Mitglied der Royal Geographical Society, mit der seltsamen Bitte an die Paläontologin, sich um seine schwermütige Frau Charlotte (Saoirse Ronan) zu kümmern, sie teilhaben zu lassen an ihrer Arbeit, während er zu einer vierwöchigen Europareise aufbricht. Trotz des üppigen Honorars weigert sich Mary anfangs, aber sie braucht das Geld.


Die elegante fragile Charlotte demonstriert am Strand arrogantes Desinteresse, sie hasst die stürmische See, die raue Landschaft, und auch die schweigsame verschlossene Mary gibt sich rüde, zeigt ihre Abneidung offen. Die Kluft zwischen den zwei Frauen scheint unüberwindbar, beide sind innerlich wie erstarrt. Für die Jüngere ist nach der Totgeburt ihres Kindes die Heirat nur noch ein Gefängnis, die Ältere, jahrzehntelang gedemütigt als exzentrische Amateurin, meidet möglichst jede Art menschlicher Nähe. Nach einem Bad im Meer erkrankt Charlotte schwer, die Paläontologin muss sie daheim pflegen, selbst ihre Fürsorge hat zunächst noch etwas Ablehnendes, Unwilliges. In dem ärmlichen trostlosen Häuschen, fern dem Luxus verwandelt sich Charlotte. Sie wirbt auf ungelenke manchmal fast kokette Weise um Mary. Das erste Lachen ist wie eine Erlösung, und irgendwann wird aus einem zaghaften Gute Nacht Kuss unerwartet Leidenschaft.  

„Ammonite” wirkt oft wie das Pendant zu „God’s Own Country” (2016), den Francis Lee als „eine innige, aber zugleich schroffe Liebesgeschichte” bezeichnete. Auch hier große gewaltige Gefühle in Nahaufnahme. Die Kamera weicht den beiden Protagonistinnen nicht von der Seite, aus flüchtigen Blicken wird Begierde. Lees Regiekonzept verlangt absolute Authentizität. Diese Explosion widersprüchlicher und verborgener Emotionen ist atemberaubend und schauspielerisch meisterhaft. In der Umarmung verschwinden die Unterschiede ob Herkunft oder Alter, ein Akt von fast archaischer Befreiung. Nur das Glück ist zeitlich begrenzt, Charlotte will ihr altes Leben aufgeben, Mary wehrt ab. Wie also soll die neue Freiheit aussehen?

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In Lees Oeuvre scheint alles sinnlich, körperlich erfassbar, das dunkle rauschende Meer, die zerklüfteten Felsenklippen, man glaubt, die eisige Seeluft auf der Haut zu spüren. Ebenso kalt, verletzend ist aber auch die Herablassung der Oberschicht. Mit minimalistischen Mitteln skizziert der Regisseur die Klassengegensätze. Nicht ohne Verachtung übergibt Mary dem ungebetenen Gast ein Paar ihrer klobigen dreckigen Arbeitsstiefel. Unmissverständlich macht sie der verwöhnten Lady aus London klar, dies sei kein entspannender Spaziergang an der See, sondern harte Arbeit. Die Suche nach den Skeletten prähistorischen Lebewesen wird die erste Gemeinsamkeit der beiden Frauen, Zeichen von Unabhängigkeit, Kraft, Mut. Die Fossilien entwickeln sich zu Metaphern, wenn sie gelöst werden aus dem Gestein, ihr Innerstes offenbaren. Der 52jährige Autorenfilmer sagt von sich selbst, er sei kein großer Fan von Dialogen, er bevorzugt Bilder, einen intensiven unerbittlich visuellem Stil, bei ihm wird alles zum emotionsgeladenen Erlebnis, jeder Felsvorsprung, ein stummer flüchtiger Blick, das prasselnde Feuer im Ofen, Umarmungen wie auch Verachtung. Es ist eine seltene kostbare Form der Authentizität, wenn Fiktion sich wie Realität anfühlt und doch reine Poesie ist.   

Sympathisch sind Francis Lees Protagonisten auf den ersten Blick nicht, weder die wortkarge feindselige Mary noch Johnny Saxby (Josh O'Connor) in “God’s Own Country”, das in der Gegenwart spielt: Die Verantwortung überfordert den 24jährigen, er verabscheut das entbehrungsreiche Leben und die harte Arbeit auf der abgelegenen Schafsfarm seiner Familie in den Penine Hills, glaubt zu ersticken. Der Vater, Martin Saxby (Ian Hurt), ist krank und verbittert, weil ihn die Frau verlassen hat, der Hof nicht genug Geld bringt. Eine stoisch unfreundliche Großmutter (Gemma Jones) kümmert sich um den Haushalt. Wenige Worte werden nur gewechselt, grob, fast bösartig. Um seinen Frust zu betäuben, besäuft sich Johnny jeden Abend im Pub. Er ist mürrisch, feindselig, will mit niemandem sprechen, ab und zu hat er unverbindlichen Sex mit jungen Männern.  

Der Vater beharrt auf einem Saisonarbeiter während des Frühjahrs, wenn die Lämmer geboren werden. Johnny fügt sich nur widerwillig. Misstrauen, Wut, Verachtung steckt in jeder seiner Gesten, in jeder verbalen Äußerung gegenüber dem attraktiven Fremden. Er verhöhnt den gleichaltrigen Rumänen als “Zigeuner”. Gheorghe Ionescu (Alec Secăreanu) ist im Gegensatz zu ihm mit Leidenschaft Farmer, packt gern zu, hat viel Erfahrung, der Zuschauer spürt vom ersten Moment an, welche Willenskraft und Zärtlichkeit in ihm stecken, er geht behutsam, liebevoll mit den Tieren um. Den Hohn, die Herablassung, Gheorghe kennt sie zur Genüge, noch wehrt er sich nicht dagegen, reagiert mit kühler Höflichkeit und bezieht den ungemütlichen Camper vor dem Haus, man wäre ja “kein Obdachlosenasyl”, erklärt die Großmutter. Die Kamera bleibt hautnah bei den Protagonisten. Aus flüchtigen Blicken werden erste Berührungen. 

Regen, Sonnenschein, Schneeschauer wechseln in „God’s Own Country” ständig, die Natur ist unberechenbar wie die Emotionen der beiden Männer. Gheorghes Gegenwart verunsichert Johnny, er fühlt sich unterdrückt, eingesperrt, mehr Befehlsempfänger als Sohn, einer der den Ansprüchen seiner Familie nie genügt. Die Mutter flüchtete vor der Eintönigkeit des bäuerlichen Daseins, die Kindheit blieb ohne Wärme, Geborgenheit. Jetzt kann er nicht unterscheiden zwischen Aggression und Anziehung. Eine entlegene verfallene Ruine bei den Schafsherden wird das Quartier während der nächsten Wochen. Die harte Arbeit zwingt zum Miteinander, zur Nähe. Die Szenen sind von verstörender Eindringlichkeit und Intimität, manchmal erbarmungslos traurig, voll unausgesprochener Sehnsüchte. “Zigeuner”, dieses Wort lässt der Rumäne, Johnny nicht noch einmal durchgehen, er wirft den Unbezähmbaren zu Boden, demonstriert Überlegenheit. Aus der körperlichen Auseinandersetzung entwickelt sich wenig später ihre erste sexuelle Begegnung: ein Mix aus Schlamm, Schweiß, animalische Gier, Wut, mehr Kampf als Umarmung.

Schauspielerisch grandios der schlaksige Josh O'Connor („Peaky Blinders”), nur widerstrebend öffnet sich Johnny, jedes Wort muss er sich abringen, steht immer wieder sich selbst im Weg, es dauert, bis er Zärtlichkeit zulassen kann, nicht nur den harten schnellen Sex der Unverbindlichkeit. Er (und mit ihm der Zuschauer) lernt durch Gheorghe die Schönheit um sich herum bewusst wahrzunehmen. Der Rumäne vermisst seine Heimat. Er will nicht noch einmal wie dort zusehen, wie eine Farm zu Grunde geht, weil sie wirtschaftlich unrentabel geführt wird, er hat klar umrissene Vorstellungen davon, wie die Zukunft aussehen soll. Das alles erzählte Francis Lee ohne jede Sentimentalität, fast beiläufig. Das langsame Einander Verfallen der beiden Männer ist wie ein Teil der Natur, sie beherrscht den Film, ist rau, schwer zugänglich, von wilder Pracht, ihr muss alles abgerungen werden ähnlich den Protagonisten.

„Ammonite” ist vielleicht weniger kraftvoll als „God’s Own Country, aber subtiler und intensiver”, in seiner Charakterzeichnung erinnert der Film an „Das Piano“ (1993) von Jane Campion. Unmut erregte bei manchen die fiktive Liebesbeziehung. Die Paläontologin war mit der in Wirklichkeit versierten Geologin Charlotte Murchison befreundet, mehr wohl nicht. Biopics werden öfter mit frei erfundenen romantischen Episoden ausgestattet. Francis Lee vermutet, eine heterosexuelle Verbindung hätte weniger Aufsehen erregt, nur seiner Meinung nach war für jemanden wie Mary eine gleichberechtigte Beziehung im viktorianischen England eigentlich nur mit einer Frau vorstellbar. Francis Lee aber geht es in erster Linie um die Klassenschranken, welche die Menschen voneinander trennen. Nicht die Sexualität sei das Problem, sondern jene tragische Vereinsamung des Einzelnen, die Unfähigkeit zu lieben, überhaupt irgendetwas zu fühlen. 

 

 

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Originaltitel: Ammonite

Regie + Drehbuch: Francis Lee
Darsteller: Kate Winslet, Saoirse Ronan, Gemma Jones, James McArdle
Produktionsland: Großbritannien, 2020
Länge: 117 Minuten
Kinostart: 4.11. 2021 
Verleih und Copyright: Tobis Film GmbH

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