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Apotheose aus Lust und Gewalt

Griechische Mythologie, Gynäkologie, Kaiserschnitt, Krieg, Klimawandel, Letze Generation, Machogehabe, Selbstverletzungen, Showbiz, Umweltverschmutzung, Vergewaltigung: Florentina Holzingers „Ophelia’s Got Talent“, spektakulärer Höhepunkt des Sommerfestivals 2023, ist ein Parforceritt durch den weiblichen Kosmos, in dem einfach alles durchdekliniert wird. Mehr geht nicht.

 

Was für ein Kraftakt! Was für eine fulminante Show! Wer einmal Florentina Holzingers grenzüberschreitende Action-Inszenierungen gesehen hat, der weiß, dass diese Extrem-Künstlerin, die ursprünglich vom Tanz kommt, nichts für schwache Nerven ist. Obsessive, verstörende Bilder, getränkt von Schweiß, Schmerz und Blut, manchmal auch Exkrementen und anderen Körperausscheidungen, sind das Markenzeichen ihrer genreübergreifenden Bühnenkunstwerke. Inspiriert von Johann Kresniks radikalem Tanztheater und in der Tradition des Wiener Aktionisten Hermann Nitsch (ebenfalls Österreicher, das muss was zu bedeuten haben!) gibt es bei ihr keine Tabus. Holzinger entblößt Seele wie Vagina, ihre Künstlerinnen ziehen sich Angelhaken durch die Wangen, lassen sich Tattoos vor laufender Kamera stechen oder schieben sich Sonden durch Mund und Nase. Es sind behinderte und nicht behinderten Performerinnen, die sich hier bis zur totalen Erschöpfung verausgaben. Grenzerfahrungen auf beiden Seiten, auf der Bühne und im Parkett. Und falls es jemand noch nicht wissen sollte: Ihr zwölfköpfiges, rein weibliches Ensemble tritt selbstverständlich nackt auf und wird die ganze Zeit von einer Kamera begleitet, die viele Details in Großaufnahme auf zwei Leinwände projiziert.

 

Auf Kampnagel ist die österreichische Choreografin und Tänzerin nun schon zum siebten Mal zu Gast. Im vergangenen Jahr stieg sie mit „A Divine Comedy“ (nach Dante) für ein orgiastisches Happening in die Hölle hinab. In ihrem neuen Superhit „Ophelia’s Got Talent“, für die Volksbühne Berlin produziert (in Partnerschaft mit Kampnagel), zum Berliner Theatertreffen eingeladen und vom Fachmagazin „Tanz“ zur „Inszenierung des Jahres“ gekürt, ist nach dem Feuer nun das Wasser (un-)beherrschbares Element und konzeptionelle Folie für feministische Selbstermächtigung à la Holzinger.

 

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Foto: © Nicole Marianna Wytyczak

 

Shakespeares Ophelia, Hamlets in den Wahnsinn und ins Wasser getriebenen, unglücklicher Geliebten, steht für alle durch Männermacht Zugrundegerichteten. „Ophelia’s Got Talent“ steht für das genaue Gegenteil: Starke Frauen, die Männernormen aushebeln. Die Choreografin und ihre Ausnahme-Truppe setzen sich exzessiv der Schau- und Sensationslust des Publikums aus – bis über den Punkt des Erträglichen hinaus. Sie flirten aktiv mit der Selbstzerstörung und konterkarieren so gnadenlos die zugeschriebene Rolle der Frau in Kunst und Literatur als Opfer und Objekt. Und das alles mit atemberaubender Artistik, irren Stunts und einer auf die Spitze getriebenen technischen Materialschlacht.

 

Der Anfang ist pure Show. Eine furchterregende Piratin mit Zahnfäule, Säbel und Flatterhemdchen, die sich als Captain Hook und Conférencier des Abends vorstellt, entert erst den Bildschirm (per Großaufnahme) und dann die Bühne von Nikola Knezevic´. Ein Unterhaltungs-Setting, das jenen blitzenden, blinkenden, aufgeblasenen TV-Talentshows gleicht, wie man sie von „Schlag den Raab“ und ähnlichen kennt. In der Mitte ein Swimmingpool, dahinter ein riesiges, noch leeres Aquarium. Drei Jurorinnen (Inga Busch, Renée Copaij und Saioa Alvarez Ruiz) betreten die Bühne und nehmen auf ihren Sesseln mit den roten Buzzern.

 

Es folgt Zirkus at it’s best: Eine phänomenale Trapezkünstlerin, eine nicht minder beeindruckende exotische Schwertschluckerin, die mittels verschluckter Minikamera ihre Innereien sichtbar macht, eine anrührende Schlagersängerin und eine Unterwasser-Entfesselungskünstlerin à la Harry Houdini stellen sich nacheinander der Jury. Die Nummer in dem Glas-Tank geht schief, die Panne ist geplant, wie sich schnell zeigt, und leitet über in den (zu langen) Mittelteil des Abends, indem sich das gigantische Wasseruniversum auftut, samt Matrosen, Piraten und einer Windmaschine auf dem Geisterschiff. Die Frauen schlüpfen in Männerrollen, tanzen zu Shantys im Matrosenlook (unten ohne), grölen „What shall we do with the drunken sailors“ und fallen schließlich in der Massenschlägerei übereinander her. Dabei spart Holzinger nicht mit Ballettzitaten: John Neumeiers „Kleine Meerjungfrau“, Frederick Ashtons „Ondine“ oder Jerome Robbins „Fancy Free“ blitzen auf, aber nur kurz, dann kommt der nächste Break. Captain Hook holt sechs Kinder aus dem Publikum, unschwer als Letzte Generation auszumachen. Sie angeln, während die Nixen das Bassin durchpflügen und die Stimmung zunehmend düster und mythisch wird. Eine „Bademeisterin“ befragt die Wasserwesen, rezitiert Schillers „Taucher“, Schuberts „Forelle“ erklingt: Einstimmungen auf die zutiefst persönlichen Geschichten, die folgen. Eine Performerin erzählt von ihrer Vergewaltigung. Wie es ihr gelungen ist, die Fesseln zu lösen, während ihr Peiniger schlief und zu entkommen. Sie liegt da, mit weit gespreizten Schenkeln, doch die Kamera zeigt nur das Gesicht, während ihre Kollegin ihr mit dem Spekulum einen Schlüssel aus der Vagina operiert. Florentina Holzinger selbst spricht von ihrer Magersucht in der Pubertät. Diese Momente sind fraglos die intensivsten des Abends, die ruhigsten und die theatralischsten.

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Foto: © Nicole Marianna Wytyczak

 

Die Kinder sind zu dem Zeitpunkt nicht mehr auf der Bühne. Die treten erst am Ende des überwältigenden Showdowns wieder auf, in der ein Helikopter unter ohrenbetäubendem Getöse vom Bühnenhimmel fliegt, um von den Wasserwesen, die nun an Seilen in die Höhe schweben, geentert zu werden. Kurz erinnert dieses Bild an die Unglücklichen, die sich in Saigon und Kabul an die Tragflächen der US-Evakuierungsflugzeuge hängten, doch dann kippt die Szene in einen kollektiven Geschlechtsakt. Der Hubschrauber wird gleichsam vergewaltig, stürzt unter ständigen Notrufen ab und heraus kommt eine hochschwangere Nixe, der Captain Hook mit dem Messer den Bauch aufschlitzt, um ein glitschiges schleimiges undefinierbares Etwas herauszuziehen.

 

Zum Schluss fallen Kaskaden von Plastikflaschen (auch das noch!) in das blutrote Wasser, indem die Kinder mittlerweile fröhlich plantschen, während sich die Performerinnen zu einem spätbarocken Springbrunnen gruppieren und aus allen Körperöffnungen Wasser spritzen.

Der Applaus des Premierenpublikums nach dieser Apotheose aus Lust und Gewalt war ähnlich laut wie der Helikopter. Und die Gesichter im Zuschauerraum ähnlich erschöpft wie die auf der Bühne. Furios, das Ganze, etwas Spektakuläreres wird international schwer zu finden sein – es ist nur zu lang!


Internationales Sommerfestival Kampnagel 2023

Bis zum 27. August 2023 auf Kampnagel Hamburg, Jarrestraße 20 in 22303 Hamburg

Weitere Informationen (Sommerfestival)

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