Bildende Kunst

In dem im Oktober 2022 wiedereröffneten und innen imposant-prächtig wirkenden Diözesanmuseum im oberbayerischen Freising ist eine Ausstellung der aus Belgien stammenden Künstlerin Berlinde De Bruyckeres zu sehen.

Nach dem gleichnamigen Lied City of Refuge von Nick Cave, das seinen Ursprung in einem Gospel von Blind Willie Johnson hat, benannte die Künstlerin ihre „Stadt der Zuflucht“, als eine Hommage an Schutzsuchende und an all jene, die Schutz gewähren – ein Plädoyer für Mitgefühl und Nächstenliebe und eine Erkundung der Dualität der menschlichen Natur.

 

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„Berlinde De Bruyckere, geboren 1964 in Gent, Belgien, wo sie heute lebt und arbeitet, ist zutiefst von den Traditionen der flämischen Renaissance beeinflusst“, heißt es in einem Ausstellungstext. Und weiter: „Vertraut mit der Ikonographie christlicher Heilsgeschichte und antiker Mythologie, verbindet sie die überlieferten Bilder und Erzählungen von Leiden, Tod und Auferstehung, Sterben und Erlösung, Hoffnung und Liebe mit Ereignissen und Themen der jüngsten Vergangenheit und der Gegenwart. So transformiert sie religiöse und mythologische Inhalte in ein Universales und in ein zeitgenössisches Empfinden und Erfahren. Sie verschmilzt vielfältige Materialien wie Wachs, gebrauchte Decken, Holz, Tierhaare und gegerbte Tierhäute zu hybriden Skulpturen, in denen Mensch, Tier, Pflanze und Göttliches sich verbinden. Wenngleich von konfrontativer Natur, verbindet sich die Poesie ihrer Werke mit einem starken sozialen Engagement und dem Gefühl von Hoffnung und Vitalität.“

 

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Dass die Künstlerin wegen der Verwendung von Tierhäuten und -haaren, Flügeln und Federn umstritten ist, mag einen in dieser Zeit nicht wundern, jedoch ist dies eines von De Bruyckeres Anliegen, genau diese Tabus zu thematisieren und aufbrechen zu lassen. Ob und wie verletzlich wir sind, soll sich eben auch im Umgang mit ihrem Werk zeigen, das häufig eine verstörende Ästhetik aufweist. Eine die wir kennen: aus archaischen Filmen, aus der Kunst von Joseph Beuys, aus dem Schamanismus. Wir kennen ebenso die pathetischen, ritenartigen Zusammenstellungen von Objekten aus der Archäologie – beispielsweise anhand von Dokumentarfotos und Nachbildungen Skythischer Gräber. Wo uns die Objekte und Zusammenstellungen aus Wachs, Häuten, Haaren, Tüchern, Decken, Linoleumböden, Holzstöcken etc., tatsächlich berühren, sind den lebensgroßen Pendants zu verdanken, zu denen wir ein direktes körperliches und maßstabgetreues Verhältnis entwickeln. Wir oszillieren zwischen Neugierde, Unbehagen und Abneigung, zuweilen sogar Ekel, wenn der Wachsabguss von Körpergliedern Leichen oder Leichenteilen ähnelt. Aus den Objekten ist das Leben erloschen und wie Hüllen verbleiben die Skulpturen zurück auf den Altären der Kunst und den Altären in uns.

 

Und obwohl uns die Werke dadurch berühren, bleiben sie dennoch immer etwas auf Distanz. Es ist nicht unser bevorstehende Tod, der in uns vorauswirkt, sondern der Tod anderer. Die Erzengel der Künstlerin sind düstere, traurige, die das Leid nicht überwinden, sondern mit dem Tod beenden. Der Tod wird zum Überbleibsel des Lebens.

Genau deshalb vermögen die Objekte, Wandbehänge und Zeichnungen es auch nicht, tiefgreifend das Zeitgeschehen zu spiegeln. Die Gefühlsebenen der Besucher verbleiben an einer indifferenten Oberfläche haften. Zudem – und dies ist ein wesentlicher Hinderungsgrund an Zeitgenossenschaft und Aktualität –, wirken De Bruyckeres einzelne Werke wie die Gesamtheit der Schau historisch, wir begegnen etwas Vergangenem, schauen immer zurück auf etwas.

 

Gleich in der großen Mittelhalle, die die Besucher mit dem lateinischen Ausspruch Timor Domini Principium Sapientiae Prov 1.7 (Die Furcht vor dem Herrn ist der Anfang aller Weisheit, Sprüche 1:7) empfängt, hat Berlinde De Bruyckere die Skulpturenstele Arcangelo (Freising), 2021-2022 geschaffen, eine monumentale Skulptur eines Engels aus Bronze, ummantelt von patiniertem Blei auf einer Granitstele. Uns bei weitem überragend und doch von den oberen Stockwerken aus nahbar, erfüllt der Arcangelo mit seiner Präsenz den Lichthof.

 

Um diesen geheimnisvollen Engel zeigt das Diözesanmuseum in den benachbarten Sälen die Ausstellung der belgischen Künstlerin, die von den reichen historischen Sammlungen des Museums sowie der Geschichte des Hauses inspiriert wurde. Die Figur des Arcangelo (Erzengels), entwickelte die Künstlerin während des ersten Covid-Lockdowns und ist gezielt angeregt von all den Pflegekräften, die sich den in Isolation Sterbenden widmeten.

 

Berlinde De Bruyckere 01 Arcangel F Dagmar Reichardt

Berlinde De Bruyckere: Arcangelo (Freising), 2021-2022. Foto: Dagmar Reichardt

 

Im Münchner Saal bleibt der Blick auf das Motiv des Engels konzentriert. Die zentrale Gestalt – in dieser Materialzusammenstellung speziell für diese Ausstellung geschaffen– ist die Liggende - Arcangelo III, 2023, (Liegende – Erzengel III) ein auf einem monumentalen, grabmalartigen Sockel aus Baumaterialien zusammengebrochener, bäuchlings liegender Engel, dessen blassblau-weiße Beine und Füße aus Wachs unter einer ebenfalls gewachsten Tierhaardecken hervorschauen.

Er ist umgeben von einer Auswahl sehr früher Arbeiten und Skizzen, die hier zum ersten Mal gezeigt werden und die das Thema des Engels wie des Flügels in Berlinde De Bruyckeres Oeuvre reflektieren.

 

Berlinde De Bruyckere 02 Dioesanmuseum Freising F Thomas Dashuber

Berlinde De Bruyckere: Liggende – Arcangelo III, 2023. © Diözesanmuseum Freising. Foto: Thomas Dashuber

 

Der Freisinger Saal bietet eine Auswahl vielfältiger Werke. Die Skulpturen und Zeichnungen sind thematisch eng mit den Sammlungen des Museums verbunden. Erzählungen von Leiden, Tod und Auferstehung, Sterben und Erlösung, Hoffnung und Liebe gelten als Inspirationsquellen.

 

Im Lichthof entfalten De Bruyckeres „Betten" mit ihren schäbigen Decken, die in fleischfarbenes Wachs gegossene Baumstämme einhüllen, eine besondere Bedeutung: An diesem Ort war von 1939 bis Kriegsende ein Lazarett für Kriegsgefangene und danach bis September 1945 ein von der US-Armee eingerichtetes Hospital für befreite KZ-Häftlinge.

 

Die beiden monumentalen Skulpturen Mantel I und II, 2016-2018, eine Referenz auf Gemälde des HI. Franziskus von Francisco de Zurbarán, entfalten dieses Thema in der Johanneskirche am Domplatz.

De Bruyckeres Werke sind in zahlreichen Ausstellungen in bedeutenden Institutionen weltweit gezeigt worden. Im Jahr 2013 repräsentierte De Bruyckere Belgien auf der 55. Biennale Venedig mit dem monumentalen Werk Kreupelhout-Cripplewood, eine Zusammenarbeit mit dem Nobelpreisträger für Literatur J. M. Coetzee. Jene Arbeit wurde zum Publikumsrenner in Venedig und ein Überbleibsel davon ist auch in der Freisinger Ausstellung zu sehen.

 

Berlinde De Bruyckere 03 Cripplewood Dioezesanmuseum Freising F Thomas Dashuber

Berlinde De Bruyckere: After Cripplewood II, 2013-2014. © Diözesanmuseum Freising. Foto: Thomas Dashuber


Berlinde De Bruyckere: City of Refuge II

zu sehen bis 17. September 2023 im Diözesanmuseum Freising, Domberg 21, in 85354 Freising

Geöffnet: Dienstag bis Sonntag von 10 bis 18 Uhr.

- Weitere Informationen (Museum)

- Weitere Informationen (Galerie Hauser & Wirth, London)

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