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Nach ihrem subtilen und melancholischen musikalischen Blick in die Vergangenheit auf dem 2021 erschienenen Album Istanbul 1900 schauen Erkin Cavus & Reentko Dirks mit dem am 15.09.2023 bei Traumton erscheinenden neuen Album Ütopya (Utopia) in die Zukunft der Metropole am Bosporus.

Auf dem Album setzen sie ihre Visionen einer Umgestaltung urbaner Verkehrsströme, großzügiger Renaturierungen, einer neuen Definition öffentlicher Räume zugunsten nicht- kommerzieller, nachbarschaftlicher Nutzungen um: Baumhäuser ersetzen Kaufhäuser, einhundert Tischtennisplatten die ewig langen Autoschlangen auf der Bosporus-Brücke, im Flughafen entsteht eine öffentliche Bibliothek, im ehemaligen Präsidentenpalast eine Handwerksschule und mitten durch die Stadt fließt ein Wasserlauf, wo zuvor Prestigebauten das Stadtbild geprägt haben.

 

Die Inspiration:

Das Konzept zu Ütopya hat Reentko Dirks, inspiriert durch das Magazin Futurzwei, zunächst in groben Zügen allein erdacht, dann gemeinsam mit seinem künstlerischen Partner Erkin Cavus ausgearbeitet: „Es gibt so viele Möglichkeiten, im eigenen Rahmen und Umfeld etwas zu positiven Entwicklungen beizutragen“, so Dirks, „Vielerorts ist Gestaltungsspielraum vorhanden und wenn wir keine eigene Vorstellung entwickeln, wird uns die Zukunft von anderen vorgesetzt.“ Dabei betreffen seinen Duopartner Erkin Cavus die Entwicklungen in seinem Heimatland noch unmittelbarer: „Natürlich fühlt Erkin einen noch größeren Schmerz über all das, was in Istanbul während der letzten 20 Jahre kaputt gegangen ist. Der Eindruck, es werde immer schlimmer und andererseits das Gefühl, dass es auch anders gehen könnte, ist für die Menschen dort noch intensiver und dringlicher.“ Bereits vor einigen Jahren zog Cavus von Istanbul nach Dresden, unter anderem, weil er möchte, dass sich seine Kinder frei bewegen und äußern können.

 

Die Umsetzung:

Auch musikalisch präsentiert Ütopya Innovationen, besonders im charakteristischen Klang des Duos und durch einige überraschende Begegnungen. Andere Facetten knüpfen an den 2021 erschienenen Vorgänger an. Seine feingliedrige und atmosphärisch dichte Musik begeisterte Publikum und Presse, in einigen Ländern konnte das Duo sogar die Charts erobern. Deutschlandfunk Kultur nannte Istanbul 1900 ein „fantastisches Album“, das Magazin Jazz Thing verortete es „in einem ganz eigenen Kosmos“ und die Dresdner Neuesten Nachrichten bescheinigten ihm eine „überwältigende Wucht“.

 

Musikalische Gäste:

Die auffälligste Neuerung in der Musik auf Ütopya sind Gastmusiker, die das detaillierte Klangpanorama pointiert bereichern. „Erkin und ich hatten überlegt, was wir diesmal anders machen können, ohne die Ästhetik des Gitarren-Duos zu unterwandern.“ Nun ist der Schlagzeuger Demian Kappenstein, mit dem Dirks auch im Quartett Masaa spielt, auf Ütopya als Sounddesigner statt am Schlagzeug zu hören. Mit absichtsvoll minimalen elektronischen Sounds verziert er einige Arrangements und bereichert die Ästhetik des Gitarrenduos. „Unser Gedanke war, dass solche zarten elektronischen Vignetten zu einem Zukunftsthema passen und gleichzeitig den ruhigen, manchmal fast meditativen Charakter der Musik unterstreichen können“, erklärt Dirks und beschreibt Kappensteins Sounds als „etwas Audiophiles, das man nicht unbedingt sofort entdeckt.“

Zu zwei Kompositionen hat Reentko Dirks den Pianisten Clemens Christian Pötzsch eingeladen. „Um improvisatorisch miteinander spielen zu können, habe ich diese Stücke von Beginn an auf die Kooperation ausgerichtet, ‚Galeri Avrasya‘ sogar auf dem Klavier geschrieben.“ Für das Titelstück „Ütopya“ des Albums entwarf Dirks eine dialogische Form, in der Gitarren und Flügel eine Art Gespräch führen.

 

Ein weiterer Kontakt aus dem Masaa-Umfeld ist Bjarke Falgren, der die Streicher bei „Taksim Ormanları“ und „Yeni Galata Liman“ arrangiert und eingespielt hat. „Wir wünschten uns einen impressionistischen Cluster-Klang,“ erzählt Dirks, „und haben ihm dabei die Wahl für die Ausführung überlassen. „Er fühlt sich mit feinem Gespür in die Stücke ein und kreiert intuitiv jede Stimme der Streicher.“

 

Erkin Cavus Reentko Dirks Uetopya COVERWeitere Änderungen zum Vorgängeralbum sind vermutlich weniger auffällig. „Bei ‚Çamlica Şelalesi‘ kombinieren wir bewegte Arpeggien mit einem ruhigen Thema,“ erklärt Dirks, „so etwas haben wir bislang nicht gemacht. Gleiches gilt für den E-Bow-‚Chor’ in ‚Beşiktaş Bahçesi‘, die Präparierungen meiner Gitarre bei ‚Dolmabahçe‘.“ Zuweilen weicht Dirks die klaren Konturen seines Partners ein wenig auf und nutzt dafür offene Tunings. In Taksim Ormanları bilden impressionistische, fast schon leicht dissonante Akkorde den Rahmen für einen imaginären Waldspaziergang. „Unser bislang am meisten entfesseltes Stück ist ‚Boğaziçi Köprüsü‘. Den B-Teil haben wir im Studio frei improvisiert und dabei einen sehr besonderen Moment erwischt.“

 

Auch rhythmisch gibt es einige Finessen auf dem Album zu entdecken. Häufig werden Strukturen im Lauf eines Stücks gebrochen, die Metren variieren von 5/4 über 5/8 und 9/8 bis 10/8. „Çamlica Şelalesi“ folgt einem inselartig verteilten Puls, „Boğaziçi Köprüsü“ lehnt sich mit seiner wechselnden Rhythmik an Traditionen der Sinti und Roma an, die sich auch in der Türkei finden lassen. „Es geht uns nicht um Komplexität an sich“, betont Reentko Dirks, am Anfang stehen immer klare Melodien. Den ganzen Rest erarbeiten wir im Zusammenspiel, von den Harmonien und Modulationen in den Tonarten bis hin zu den Takten, die sich spontan ergeben.“

 

Für die Aufnahmen von Ütopya ging das Duo im Januar 2023 erneut ins Waldhausstudio nach Birkholz. „Abseits von Autoverkehr und Internet haben wir hier die richtige Umgebung, die Musik lebendiger werden zu lassen. Und wir sind sehr nahe an der Natur, die teilweise sogar im Hintergrund zu hören ist. Zudem vertrauen wir Mohi Buschendorf als Ingenieur und Impulsgeber, der an den richtigen Stellen lässt oder bremst“, sagt Dirks. So habe er selbst sich vom Konzept einer „perfekt sauberen“ Aufnahme endgültig verabschieden können. „Das ‚Tuning‘ von Aufnahmen wird ja in allen Bereichen oft vorgenommen, aber eben auf Kosten der Atmosphäre, die verloren geht.“ Diese Haltung spiegelt sich auch in den bewussten Unschärfen statt einer möglichen Hyperpräzision im Spiel des Duos.

 

Das Video zur ersten Single „Ütopya“, die am 23.06. erschien, schlägt einen Bogen zu den gesellschaftlichen Hintergründen des Albums. Es verlinkt zu konkreten Projekten wie Urbanfarming, Tomorrow.city und Futurzwei. Damit die Musik nicht für sich alleine stehen bleibt, sondern zu Ideen und Initiativen weiterführt, in die man sich einklinken und in Kontakt mit Menschen kommen kann, die eine ähnliche Vorstellung von ihrer Zukunft haben.

 

Hintergrund:

Der Gestaltungswille des Duos reflektiert die unterschiedlichen persönlichen Biografien der beiden Musiker. Erkin Cavus (*1977) verbrachte viele Jahre seines Lebens in Istanbul. Hier wurde er zum gefeierten Gitarristen, unter anderem an der Seite populärer (Pop-)Künstler wie dem legendären Erkan Ogur und Ferhat Göcer. Nach einer Ausbildung mit Fokus auf westliche Klassik begann Cavus 1996, seine unkonventionelle Spielweise auf dem bundlosen Gitarrenhals zu entwickeln und ließ sich die erste Spezialgitarre bauen. Sie erlaubt ihm das Spiel mit Vierteltönen, ähnlich wie auf der Laute Oud. In den frühen Zweitausendern absolvierte er ein Meisterklassenstudium in Dresden, an der dortigen Hochschule lernte er Reentko Dirks kennen.

 

Als Duo Kalkan gewannen sie den Sonderpreis beim internationalen Gitarrenwettbewerb in Osnabrück, veröffentlichten das Album Planet Kalkan, schrieben einen Spielfilm-Score. Eine unfreiwillige Rückkehr von Cavus nach Istanbul versetzte das Duo in eine Zwangspause. Seit 2017 wohnt Cavus wieder in Deutschland.

 

Unterdessen machte Reentko Dirks (*1979) hierzulande Karriere. Er entwickelte individuelle, u.a. rhythmisch-perkussive Spieltechniken auf der Gitarre, setzte sich intensiv mit Flamenco und arabischer Musik auseinander. Für sein Album Sounds For The Silver Screen arbeitete er mit dem Komponisten Richard Horowitz, das folgende Le Cirque wurde 2013 für den Deutschen Schallplattenpreis nominiert. Zwischenzeitlich spielte Dirks mit Yo-Yo Ma und Giora Feidman, Ben Becker und Max Mutzke. Die von Dirks ko-arrangierte und -eingespielte CD Carmen mit Ksenija Sidorova erhielt 2017 den Klassik-Echo. Seit 2019 ist er festes Mitglied des Quartetts Masaa, dessen poetische Songs zwischen arabischer Melodik und Jazz changieren und weithin hoch gelobt werden. 2021 wurde die Band mit dem Deutschen Jazzpreis ausgezeichnet.


Erkin Cavus & Reentko Dirks: Ütopya

Label: Traumton Records

Vertrieb: Indigo

Formate: CD, LP, digital

EAN: 705304471524

VÖ: 15.09.2023

 

Tourdaten:

15.09.2023 Bad Gandersheim/Heckenbeck / Weltbühne

16.09.2023 Dresden / Jazzclub Tonne

30.09.2023 CZ- Skryje / Kirche

05.10.2023 Oderaue / Theater am Rand (feat Clemens Christian Pötzsch)

02.02.2024 Oldenburg / Haus des Hörens

Erkin Cavus & Reentko Dirks: Ütopya. Foto: Pavel Ovsik

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