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Jón Kalman Stefánsson ist ein begnadeter Erzähler. Seit 1996 hat der isländische Schriftsteller zehn Romane veröffentlicht. Sein jüngster Roman „Dein Fortsein ist Finsternis“ setzt das fort, was Stefánssons Prosa von Anfang an kennzeichnet: Dieser Autor schreibt gegen das Vergessen.

 

Im neuen Roman des preisgekrönten Autors hat ein Mann die Erinnerung verloren. Er wacht in einer kleinen Kirche an einem abgelegenen Fjord im Nordwesten Islands auf. Wer ist er? Woher kommt er? Wird er es je erfahren? Werden wir es je erfahren? Am Ende des Romans bleiben wir Leser nach gelesenen 544 Seiten mit dem Wunsch zurück, die Lektüre möge doch bitte noch lange weitergehen. Das liegt an den faszinierenden Familiengeschichten, die uns der Autor präsentiert, die mehrere Generationen und rund 200 Jahre umfassen. Und an der gelungenen Übersetzung aus dem Isländischen von Karl-Ludwig Wetzig.

 

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Der namenlose Ich-Erzähler wacht also in einer Kirche auf und weiß nichts mehr. Seine Vergangenheit ist ihm abhandengekommen. Er ist nicht allein in der Kirche. Ein mysteriöser Mann taucht auf (und wird fortan zum mystischen Begleiter des namenlosen Erzählers). Dieser Mann sitzt auf einer der hinteren Kirchenbänke. Er ist schlank, „mittleren Alters, hageres Gesicht, hohe Geheimratsecken, markante Falten auf der Stirn. Und er sieht mich spöttisch an.“ Der folgende Absatz besteht aus nur einem Satz: „Vielleicht bin ich tot.“ So beginnt das schwer zusammenzufassende Geschehen. Beim Lesen entstehen Bilder im Kopf, die filmreif sind, Szenen, die geradezu nach einer Verfilmung verlangen. Dagegen spricht allerdings: Es sind so viele kluge, schöne, tiefe Gedanken in diesem Buch, die sich wohl kaum oder gar nicht filmisch darstellen lassen.

 

Stefansson Deiun Fortsein ist Finsternis COVEREin kurzer Prolog ist dem Roman vorangestellt, der jedoch nicht als Prolog bezeichnet wird. Dieser kurze Text führt uns in das Hauptthema des Buches ein: Was wichtig ist und dauerhaft Einfluss auf dich hat, tiefgehende Gefühle, leidvolle Erfahrungen, schockierende Erlebnisse, unbändiges Glück, Heimsuchungen oder Gewalt, die in die Gesellschaft einbrechen oder in deine Welt, das alles kann so tief eindringen, dass es sich in den Genen niederschlägt, wo es an andere Generationen weitergegeben wird – und so bereits die Ungeborenen prägt. Das ist ein Naturgesetz. […] Die Vergangenheit lebt so ewig in uns weiter. […] Darum also ist es Jón Kalman Stefánsson so wichtig, gegen das Vergessen anzugehen, anzuschreiben. Mehrfach wird in diesem Buch vom „unersättlichen Vergessen“ gesprochen. Ihm gilt es entgegenzuwirken. An einer dieser Stellen heißt es: „Es ist unsere Pflicht, uns zu erinnern, Vergessen ist Verrat am Leben.“

 

Leben, Liebe, Tod, Gewalt, Natur, Philosophie, Musik – die in diesem Buch aufgefächerte Themenbreite ist schier grenzenlos. Dein Fortsein ist Finsternis ist ein Roman über Menschen, Tiere und Natur, über Musik, Literatur und Theater – vor allem aber ist dies ein Roman über große Gefühle. Ganze Leben in all ihrer Dramatik werden vor uns aufgeblättert in diesen wunderbaren Familien- und Liebesgeschichten, die in verschiedenen Zeiten angesiedelt sind, unter verschiedenen Gegebenheiten stattfinden und mit unterschiedlichen Möglichkeiten ausgestattet sind. Von einer Person zur anderen wandern die Erinnerungen all der Menschen, die dem Protagonisten mit ihren Erzählungen helfen wollen, sein Gedächtnis wiederzugewinnen. Die erste Frau, die dem namenlosen Erzähler außerhalb der Kirche begegnet, ist froh, aber auch überrascht, ihn zu sehen. „Mit meinem Tod hätte ich eher gerechnet als mit dir“, sagt sie und schickt ihn zu Sóley, mit der er offenbar irgendwann ein Verhältnis hatte und die ein Hotel besitzt. „Die wird Augen machen, wenn ich ihr sage, wer da kommt!“ Doch zunächst picknicken die beiden auf dem nahegelegenen Friedhof, am Grab von Aldís, der Mutter der Frau.

 

Aldís kam einst hierher in den Norden, um mit ihrem Freund im betonierten Schwimmbad von Krossneslaug, direkt am Meeresufer gelegen, Verlobung zu feiern und Sex zu haben. Doch ein geplatzter Autoreifen und ein junger Mann namens Haraldur, der auf einem Trecker unterwegs Dylan Songs hört, ändern alle bisherigen Zukunftspläne. „Drei Dinge haben mich wahrscheinlich umgehauen, sollte Aldís ihren Töchtern später mehr als einmal erklären: Wie euer Vater aus dem Zetor gesprungen ist, wie er sich die Haare aus den Augen strich, und dann, wie er mich schnell forsch und ein bisschen dreist ansah, […]“ Fünf Tagen später hält Aldís nichts mehr zurück. Statt Flugtickets nach New York zu besorgen, wie ursprünglich geplant, fährt sie mit dem Bus zu diesem Bauern am Fjord und ist um 5 Uhr früh dort – und bleibt. „[…] über Hólmavík lagen die Wolken schwer wie Bleiplatten, das Meer war aufgewühlt, kühl, die Leute verdrossen, schweigsam, würdigten sie keines Blickes. An diesem Ort hätte Neruda niemals ein Gedicht über Liebe und Verzweiflung schreiben können. Vermutlich wäre er lediglich depressiv geworden und hätte keinen einzigen Vers zu Papier gebracht, außer vielleicht über Fische, Schafe, Rheuma, graue Monotonie und Schnaps.“

 

Eine andere Frau, die Bäuerin Guðriður, ist verheiratet, hat drei Kinder, ist wissbegierig, liest viel, schreibt und veröffentlicht einen Artikel über den Regenwurm, den „blinden Poeten des Erdreichs“. Tragischerweise verliebt sich Guðriður in den Redakteur und Pfarrer Pétur, der Briefe (inzwischen den 38sten) an den längst toten Dichter Hölderlin schreibt, seit die jüngste Tochter gestorben ist und der so seinem Kummer Ausdruck verleiht. Seine Frau Hella hat „Hände aus Licht“. Und doch, und trotzdem verliebt sich Pétur in Guðriður, schwingt sich auf sein Pferd, um ihr Bücher zu bringen. „Was glaubst du, wohin du unterwegs bist, Priester? / Dahin, wo die Kompassnadel des Herzens zeigt.“ Was folgt, ist ein Exkurs über den Sinn des Lebens. Was auch folgt, ist die Sünde, der Treuebruch.

 

Stefansson F Einar Falur IngólfssonEin anderer Mann ist Eiríkur auf Oddi, „der Mann mit der E-Gitarre, den Hunden, drei überfahrenen Welpen und einer Schrotflinte, mit der er auf Lastwagen oder das Schicksal schießt. Was hat es mit ihm auf sich?“ Ja, was nur? Lassen wir uns auf diese und all die anderen liebenswerten, leidenschaftlichen, traurigen, guten, schönen Figuren ein, die uns der Autor in und mit diesem Buch beschert. Das kann nur gut und richtig sein! Denn Jón Kalman Stefánsson erzählt uns all diese Leben in einer überwältigend schönen, anrührenden Mischung aus Lyrik und Prosa. „Dein Fortsein ist Finsternis. / Ewiges Vergessen lauert auf deine Erinnerung. / Wo finden wir Trost?“ Diese lyrische Prosa führt uns Leser durch den geheimnisvollen Kontinent der Vergangenheit, durch diesen „Kontinent mit Bergen und Meeren, die permanent Einfluss auf das Klima und die Lichtverhältnisse in dir nehmen.“


Jón Kalman Stefánsson: Dein Fortsein ist Finsternis

Piper Verlag

Aus dem Isländischen von Karl-Ludwig Wetzig

Roman. 544 Seiten, Hardcover

ISBN 978-3-492-07127-7

Weitere Informationen (Verlagsseite)

 

Abbildungsnachweis:

Buchumschlag

Jón Kalman Stefánsson. Foto: ©  Einar Falur Ingólfsson, 2017 / Piper Verlag

 

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