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Schon Robert Seethalers preisgekrönte Romane „Der Trafikant" (2012) und „Ein ganzes Leben“ (2014) sind Romane über Leben und Tod. Mit dem letzten Buch dieser Trilogie, mit dem Roman „Der letzte Satz“, hat sich der vielfach ausgezeichnete österreichische Schriftsteller auf ein besonderes Wagnis eingelassen.

Seethaler beschreibt die letzten Tage des berühmten Komponisten und Dirigenten Gustav Mahler (1860-1911) in einer fiktiven Geschichte. Dabei hält sich der Autor zwar an biographische Details, spart aber den künstlerischen Werdegang Mahlers komplett aus. Er beschränkt sich in seiner Erzählung auf einige bekannte Ereignisse und Anekdoten aus dem Leben des großen Künstlers. Im Mittelpunkt des Buches steht Mahlers letzte Reise, die ihn von New York zurück nach Europa führt.

 

Der Handlungsrahmen ist rasch gesteckt: Wir befinden uns im Jahr 1910. Gustav Mahler sitzt an Deck eines Schiffes. Der zu seiner Zeit gefeierte Dirigent und bewunderte Komponist ist todkrank und denkt über sein Leben nach. Über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, über sein kompliziertes Verhältnis zu Alma, über den frühen Tod seiner Tochter Maria, über den nahen eigenen Tod. „Er fühlte schon lange keinen Hunger mehr […].“ Keinen Hunger mehr nach Leben, dafür aber Sehnsucht nach Tod. Vor drei Jahren, da war das noch anders. Da fühlte Gustav sich noch lebendig. Da flog ihm eine Melodie zu. Das war, als er an der Neunten arbeitete. Das war, als er den Vogel hörte, der ihm drei Töne zurief. „Es waren die Töne, die er so lange vermisst hatte […]. Jetzt waren sie da.“

 

Einmal, da möchte der Schiffsjunge an Bord der „Amerika“ wissen, was das für Musik sei, die er mache und bittet Mahler, ihm etwas darüber zu erzählen. „Nein“, lehnt der Komponist ab. „Man kann über Musik nicht reden, es gibt keine Sprache dafür. Sobald Musik sich beschreiben lässt, ist sie schlecht.“ Eine gewagte These, die sich schwerlich beweisen ließe. Also wird der Versuch in diesem Roman gar nicht erst unternommen. An anderer Stelleheißt es, Musik brauche nichts und niemanden, sie sei einfach da. Man wüsste gern, was der Meister selbst dazu gesagt hätte, gesagt haben könnte – schließlich handelt es sich hier um einen Roman. Hier wäre also alles möglich. Auch der Versuch, solchen Fragen nachzugehen, solchen Gedanken auf den Grund zu gehen. Doch sie bleiben ungeklärt stehen im literarischen Raum. Weiten Raum im Buch nimmt hingegen die Natur ein. Anschaulich und kunstvoll werden unterschiedlichste Ansichten von Himmel und Meer während der Überfahrt beschrieben, im Rückblick anschauliche Bilder der Bergwelt gezeichnet.

 

Hier und jetzt, an Bord der „Amerika“, blickt Mahler aufs Meer und in den Himmel. Er sieht die Wolken, schaut auf die Wellen, spürt den Wind und bemerkt ein „überaus merkwürdiges Schimmern […]. Mahler mochte den Wind. Er hatte den Eindruck, er wehe ihm dumme Gedanken aus dem Kopf.“ Dieses merkwürdige Schimmern, das könnten Fliegende Fische sein. Sie seien die Seelen Ertrunkener, hörte der Schiffsjunge von älteren Seeleuten. Fliegende Fische tauchen an verschiedenen Stellen im Roman auf. „Es ist nicht richtig, an den Tod zu denken. Der Tod ist ein Nichts. Denk an die fliegenden Fische“, ermahnt sich Mahler einmal und wünscht, sie mögen sich endlich zeigen. Am Ende der Reise zeigen sie sich tatsächlich, als Mahler an Deck des Schiffes bereits zusammengebrochen ist und helfende Arme ihn forttragen „wie ein schlafendes Kind, während weit draußen das Wasser zu brodeln begann und sich nur einen Augenblick darauf ein Schwarm Fische erhob, silbern und flirrend und so gewaltig, dass er das ganze Meer in seinen Schatten zu legen schien.“

 

Solche schöne Sätze tauchen immer wieder im Roman auf. Wie fliegende Fische schillern sie und gleiten leicht dahin. So leicht wie das Schiff, auf dem Gustav Mahler mit seiner Familie 1910 die letzte Reise von New York nach Europa antrat. Einmal erinnert sich Mahler an einen Sommertag vor drei Jahren. Er erinnert sich genau an den Augenblickt, als er beim Frühstück mit Alma zum Fenster hinaussah und Anna beim Spielen zusah: „Dort draußen läuft ein Glück im Gras herum, und hier drinnen sitzt ein anderes mit mir am Tisch. Ich habe alles, was ich mir wünsche. Ich bin ein glücklicher Mann.“ Hier, als schwerkranker Mann an Bord der „Amerika“, gehören solche glücklichen Momente längst der Vergangenheit an. So sind es durchaus nicht nur schöne Gedanken, die Mahler auf dieser letzten Reise seines Lebens begleiten. Denn: „Jedes Sterben ist schrecklich“. Doch vor dem Sterben liegt die Erinnerung.


Der letzte Satz COVERMahler erinnert sich an die Hochzeit mit Alma, an die Hochzeitsreise nach St. Petersburg, an die Begegnung mit Rodin und anderen Künstlern wie Wagner, Berg, Schönberg, Gropius und Freud, an Orchesterproben und Konzerte. Er denkt auch an das vergangene Jahr, als er versehentlich einen an Alma gerichteten Brief von Werner Gropius las und der gemeinsame Liebes- und Lebenstraum zu Ende ging. Damals war Alma gegangen. Jetzt war sie wieder da. Jetzt, da es mit ihm zu Ende ging. Wahrscheinlich sogar, weil es mit ihm zu Ende ging. „Auf seiner Kiste auf dem Sonnendeck dachte Mahler in einem Anflug bösartiger Resignation an die Nichtigkeit des Lebens. Es war kaum mehr als ein kurzes Ausatmen, ein Hauch im Weltensturm, und doch liebte er das Leben so sehr, dass ihm die Traurigkeit über die Vergeblichkeit dieser Liebe das Herz zerreißen wollte …]. Man schlägt einen Ton an, und der schwingt dann weiter im Raum. Und trägt doch schon das Ende in sich.“ Das könnte der letzte Satz sein, ist es aber nicht.

Den Abschluss des kleinen, feinen Romans bildet ein Kapitel, in dem noch einmal der ehemalige Schiffsjunge ins Zentrum gerückt wird. Da ist Mahler bereits tot, wie ein alter Zeitungsartikel dem Schiffsjungen zeigt. Dieses letzte Kapitel, insbesondere der letzte Satz des Romans, sind Zeichen des Aufbruchs: Ein Mensch ist gestorben, ein anderer beginnt ein neues Leben, beschreitet einen neuen Weg, begibt sich auf eine neue Reise. Noch fällt ein „kalter, grauer, unaufhörlicher Herbstregen. […]

 

Spätestens am Morgen würde es aufhören zu regnen, der Tag würde bestimmt kühl und hell. Und das war gut, denn es war Zeit zu gehen.“ So lautet der letzte Satz im Roman, der weniger ein Roman über den Meister und sein Werk ist, als vielmehr eine Erzählung über einen einzigartigen Menschen und dessen Leben. Der Mensch Mahler, der an Bord des Schiffes gegen den Wind redet, der im grellen Sonnenlicht blinzelt, der in den plötzlich so weißen und leeren Himmel schaut, der irgendwo im Unterdeck Stimmen hört und Lachen, der den Tod schon in sich spürt und all dies auszuhalten versucht. „Ich hätte so gerne noch gelebt.“


So wie Seethaler hier über Mahler schreibt, wie er uns von dessen Leben und Tod erzählt, ist das sehr berührend und macht daher neugierig auf mehr Mahler. Der Erfolg dieses Buches ist schon jetzt bemerkenswert: „Der letzte Satz“ ist nominiert für den Deutschen Buchpreis 2020.


Robert Seethaler, Der letzte Satz

Hanser Berlin 2020
128 Seiten
Fester Einband
ISBN 978-3-446-26788-6

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